Es geschah in der Relegation: Die "Kobra" beißt zu

"Es geschah im Relegationsrückspiel": Im letzten Teil der DFB.de-Serie blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: Als Jürgen Wegmann den BVB gegen Fortuna Köln vor dem Zweitliga-Abstieg bewahrte.

Datum: Pfingstmontag, 19. Mai 1986
Ort: Westfalenstadion, Dortmund
Partie: Borussia Dortmund - Fortuna Köln 3:1

Heute ist es kaum zu glauben, aber auch Deutschlands neue Fußballmacht Borussia Dortmund spielte mal gegen den Abstieg. 1972 hatte sie es sogar schon mal erwischt, es blieb der einzige Betriebsunfall in der Bundesliga-Historie des BVB. Aber im Frühjahr stand er dicht am Abgrund. In Zentimetern ließ es sich nicht messen, in Sekunden um so besser. 20 sollen es gewesen sein bis zum Abpfiff von Aron Schmidhuber, als noch ein Tor fiel, das Vereinsgeschichte schrieb. Es hat entscheidenden Anteil daran, dass Borussia Dortmund seit nunmehr 36 Jahren ununterbrochen in der Bundesliga spielt.

Wie der Weg des aktuellen Doublegewinners nach einem zweiten Abstieg verlaufen wäre, will sich der BVB-Fan lieber nicht ausmalen. Sportlich wie wirtschaftlich war Borussia in den roten Zahlen, als die Saison 1985/1986 endete. Zwei Tore fehlten zum rettenden 15. Platz und vier Millionen D-Mark zur Schuldenfreiheit. Dann kam die erst 1982 eingeführte Relegation, die zum Glücksfall für Borussia werden sollte.

47.000 Zuschauer im "Exil" Müngersdorf

Wonach es zunächst nicht aussah, denn das erste Spiel beim Zweitliga-Dritten Fortuna Köln unterlag sie 0:2. Doch schon da stellten sie fest, dass sich mit ein bisschen Nervenkitzel am Rande des Abgrunds Geld zu verdienen war. Denn die Fortuna war ins große Müngersdorfer Stadion, Heimat des 1. FC, ausgewichen und begrüßte 47.000 Zuschauer. Für das Rückspiel, das kurzfristig noch von Samstag auf Montag verlegt wurde, interessierte sich plötzlich auch das Fernsehen. Der aufstrebende Privatsender Sat.1 übertrug live. Dennoch wollten sich 54.000 Menschen das Spiel aus nächster Nähe ansehen, erstmals überhaupt meldete das Westfalenstadion, seit 1974 die Heimat der Borussen, ausverkauft.

Und so brachte das Nachsitzen nach einer verkorksten Saison dem BVB rund 1,1 Millionen D-Mark ein. Präsident Reinhard Rauball sagte: "Wir haben unseren Schuldenberg, der einst über vier Millionen DM betrug, inzwischen stark abbauen können. Der Abstiegskampf macht es möglich." Das öffentliche Interesse an diesem Spiel hatte auch Verlierer: weil der Anpfiff dem Fernsehen zu Liebe um eine Stunde nach hinten auf 19 Uhr verschoben wurde, konnte der Kicker von dem Spiel nicht mehr berichten. Chefredakteur Karl-Heinz Heimann versicherte, "dass die Auslieferung eines Teils unserer Auflage ohne den Bericht eines wichtigen Spiels vom Vorabend die Ausnahme bleiben wird."

"Denkt an Uerdingen gegen Dresden"

Borussia waren die Probleme der Presse herzlich egal, sie hatte ihre eigenen. Nach 14 Minuten wurden sie noch ein Stückchen größer, denn die unerschrockenen Kölner gingen durch Bernd Grabosch in Führung. Gegen seinen 16-Meter-Schuss ist auch Eike Immel machtlos. Eigentlich sollte er schon bei der Nationalmannschaft sein, die ohne ihn zur WM nach Mexiko geflogen ist. Da ahnte er noch nicht, dass sich sein Abflug um weitere vier Tage verzögern sollte. Zur Pause ahnte das auch sonst niemand. In der Addition lag Borussia 0:3 zurück und die drückende Hitze sorgte nicht gerade für ideale Bedingungen, eine Aufholjagd zu starten.

Und trotzdem sprachen sie in der Kabine von der größten, die es im deutschen Fußball gegeben hatte. "Denkt an Uerdingen gegen Dresden", riefen sie sich zu. Acht Wochen zuvor hatten die Westdeutschen im Europacup nach 1:3-Pausenrückstand gegen Dynamo noch 7:3 gewonnen. Trainer Erich Ribbeck wechselte den 22jährigen Soldaten Ingo Anderbrügge für Kapitän Lothar Huber ein. Anderbrügge hatte Trainingsrückstand, in der Grundausbildung gab es auch für Bundesliga-Profis keine Privilegien. Und doch machte sich sein Einsatz bezahlt. In der 54. Minute drang er in den Strafraum ein, der Kölner Hans-Jürgen Gede rempelte ihn. Elfmeter! Einer, den nicht jeder Schiedsrichter gegeben hätte. Die Fortunen protestierten vergeblich, Michael Zorc vollstreckte – 1:1. Noch 36 Minuten Zeit für zwei Tore. Auf der Fan-Seite "schwatzgelb" hat ein Augenzeuge die Stimmung und Ereignisse jenes Tages im Westfalen-Stadion dokumentiert. Er schreibt:

"Es gab wieder Hoffnung, aber es mußten noch zwei Tore fallen. Dortmund setzte an zum bedingungslosen Sturmlauf. Endlich, nach einer Viertelstunde des erfolglosen Anrennens, folgte der nächste Schritt auf dem Weg zur Befreiung. Unser Denker und Lenker des angeschlagenen Schlachtschiffs Borussia, Marcel Raducanu – der nebenbei auch wohl größte Magier der Ballbehandlung in der Geschichte des BVB machte sein einziges Kopfballtor seiner Karriere zum 2:1! Aber um die Schönheit dieses Tores zu bewundern, war jetzt nicht die Zeit. Es fehlte ja immer noch mindestens ein Tor, um wenigstens das Entscheidungsspiel zu erzwingen. Und noch waren ja 22 Minuten zu spielen!"

Weiter heißt es im Text des Zeitzeugen:

"Es sprach für die Moral und den unbändigen Siegeswillen unserer müden Spieler, dass sie zu keiner Zeit resignierten, sondern sich selbst anfeuerten und nach vorne peitschten. Der unermüdlich schreiende Vizekapitän Frank Pagelsdorf trieb immer wieder die Seinen nach vorne. Nun folgte das, was die Hochburg Westfalenstadion so außergewöhnlich machte. Mindestens 50.000 Zuschauer standen, im wahrsten Sinne des Wortes, hinter der Mannschaft, Sitzplätze gab es schon lange nicht mehr. Zu oft mussten sie alle Aufspringen, da lohnte kein Hinsetzen mehr."

Ecke Köln, Tor Dortmund

Aber die Minuten verrannen ohne weitere besondere Vorkommnisse. Als die 90. und somit allerletzte anbrach, bekamen die Fortunen eine Ecke. Trainer Hannes Linßen hat sich diese Szenen noch oft auf Video angesehen, so als würde es beim 100. Mal vielleicht doch noch anders kommen. "Wir haben eine Ecke und die schießen das Tor", sagte er immer wieder fassungslos. Denn der abgewehrte Ball kam zu Soldat Anderbrügge, der fast von der Torauslinie mit links abzog. Jacek Jarecki, der bis dahin so überragende Fortuna-Torwart, ließ den harten Ball abtropfen. Dahin, wohin ein Torwart keinen Ball abtropfen lassen sollte, weil ein klassischer Torjäger dort immer stehen wird. Einer wie Jürgen Wegmann.

Mit Pfiffen hatten sie ihn trotz seiner 20 Saison-Tore begrüßt, denn ein paar Tage zuvor war sein Wechsel bekannt geworden. Zu Schalke 04 – ausgerechnet. "Sie nannten mich 'Judas' und pfiffen mich aus, als ich an diesem schwülen Nachmittag das Feld betrat", erzählte Wegmann dem Magazin 11 Freunde, das 25 Jahre später noch mal alles genau wissen wollte.

Der "Torjubel des Jahrhunderts"

Auch der WDR kam mit einem Kamerateam und begleitete Wegmann 2008 ins Stadion. Wegen eines Tores, das jeder Kreisklassen-fußballer erzielt hätte und das doch so ekstatisch bejubelt wurde wie ein 50-Meter-Schuss in den Winkel. Dabei drückte Wegmann den Ball aus zwei Metern freistehend mit links ins leere Tor. Angeblich will er es geahnt haben. "Die Beine waren schwer, der Kreislauf spielte verrückt, und auch das Publikum hatte die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben. Doch ich spürte tief in mir, dass da noch was gehen musste." 3:1 – die vorläufige Rettung. Schmidhuber pfiff nur noch mal an um abzupfeifen. Der Pfiff ging im "Torjubel des Jahrhunderts" (Wegmann) unter. Der Biss der Kobra, wie Wegmann ("Ich bin giftiger als die giftigste Schlange") genannt wurde und werden wollte, sorgte für eine Explosion der Gefühle.

Der Augenzeuge schilderte es auf Schwatzgelb so: "Hinter dem Tor lagen wildfremde Menschen aufeinander, andere herzten sich ohne sich zu genieren und es flossen Tränen der Freude, die den Dortmund-Ems-Kanal in Richtung Nordsee an die Grenzen des Erträglichen brachten!"

Borussia fährt ins leere Stadion

Hunderte Fans stürmten den Platz und "da haben wir um unsere Gesundheit gefürchtet" (Wegmann). Verteidiger Dirk Hupe wurde in die Luft geworfen und bekam Angst. Letztlich kamen alle mit heiler Haut davon. Ganz im Gegensatz zu den von Fortuna verlassenen Fortunen. Gleich drei Spieler (Jarecki, Niggemann, Lemke) erlitten Knieverletzungen, inklusive Sperren beklagten sie vor dem dritten Spiel zwölf Ausfälle. Eigentlich wollten sie alle schon im Urlaub sein, die Mannschaftskasse auf Ibiza verjubeln. 15.000 Mark gingen flöten, sie hatten keine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen. Fußball konnten sie aber auch nicht mehr spielen. Nicht sofort.

Der DFB sagte die dritte Partie auf Antrag der Kölner ab, Borussia kam dennoch demonstrativ ins leere Düsseldorfer Rheinstadion. Als die Fortunen sieben weitere Tage später wieder eine Elf hatten, standen sie immer noch unter dem Schock, den der Kobra-Biss verursachte. Ihr letztes Aufgebot unterlag am 30. Mai in einem an der Grenze zur Farce verlaufenden Spiel 0:8. "Für jeden Tag Verzögerung ein Tor", höhnte Zorc. Wegmann traf in dieser Partie nur einmal, per Elfmeter zum 6:0. Doch sein Abstauber im zweiten Spiel machte ihn zur Legende. Borussia verschaffte ihm nach seiner Karriere, als er Probleme hatte, Fuß zu fassen, einen Job im Verein. Aus gutem Grund.

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"Es geschah im Relegationsrückspiel": Im letzten Teil der DFB.de-Serie blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: Als Jürgen Wegmann den BVB gegen Fortuna Köln vor dem Zweitliga-Abstieg bewahrte.

Datum: Pfingstmontag, 19. Mai 1986
Ort: Westfalenstadion, Dortmund
Partie: Borussia Dortmund - Fortuna Köln 3:1

Heute ist es kaum zu glauben, aber auch Deutschlands neue Fußballmacht Borussia Dortmund spielte mal gegen den Abstieg. 1972 hatte sie es sogar schon mal erwischt, es blieb der einzige Betriebsunfall in der Bundesliga-Historie des BVB. Aber im Frühjahr stand er dicht am Abgrund. In Zentimetern ließ es sich nicht messen, in Sekunden um so besser. 20 sollen es gewesen sein bis zum Abpfiff von Aron Schmidhuber, als noch ein Tor fiel, das Vereinsgeschichte schrieb. Es hat entscheidenden Anteil daran, dass Borussia Dortmund seit nunmehr 36 Jahren ununterbrochen in der Bundesliga spielt.

Wie der Weg des aktuellen Doublegewinners nach einem zweiten Abstieg verlaufen wäre, will sich der BVB-Fan lieber nicht ausmalen. Sportlich wie wirtschaftlich war Borussia in den roten Zahlen, als die Saison 1985/1986 endete. Zwei Tore fehlten zum rettenden 15. Platz und vier Millionen D-Mark zur Schuldenfreiheit. Dann kam die erst 1982 eingeführte Relegation, die zum Glücksfall für Borussia werden sollte.

47.000 Zuschauer im "Exil" Müngersdorf

Wonach es zunächst nicht aussah, denn das erste Spiel beim Zweitliga-Dritten Fortuna Köln unterlag sie 0:2. Doch schon da stellten sie fest, dass sich mit ein bisschen Nervenkitzel am Rande des Abgrunds Geld zu verdienen war. Denn die Fortuna war ins große Müngersdorfer Stadion, Heimat des 1. FC, ausgewichen und begrüßte 47.000 Zuschauer. Für das Rückspiel, das kurzfristig noch von Samstag auf Montag verlegt wurde, interessierte sich plötzlich auch das Fernsehen. Der aufstrebende Privatsender Sat.1 übertrug live. Dennoch wollten sich 54.000 Menschen das Spiel aus nächster Nähe ansehen, erstmals überhaupt meldete das Westfalenstadion, seit 1974 die Heimat der Borussen, ausverkauft.

Und so brachte das Nachsitzen nach einer verkorksten Saison dem BVB rund 1,1 Millionen D-Mark ein. Präsident Reinhard Rauball sagte: "Wir haben unseren Schuldenberg, der einst über vier Millionen DM betrug, inzwischen stark abbauen können. Der Abstiegskampf macht es möglich." Das öffentliche Interesse an diesem Spiel hatte auch Verlierer: weil der Anpfiff dem Fernsehen zu Liebe um eine Stunde nach hinten auf 19 Uhr verschoben wurde, konnte der Kicker von dem Spiel nicht mehr berichten. Chefredakteur Karl-Heinz Heimann versicherte, "dass die Auslieferung eines Teils unserer Auflage ohne den Bericht eines wichtigen Spiels vom Vorabend die Ausnahme bleiben wird."

"Denkt an Uerdingen gegen Dresden"

Borussia waren die Probleme der Presse herzlich egal, sie hatte ihre eigenen. Nach 14 Minuten wurden sie noch ein Stückchen größer, denn die unerschrockenen Kölner gingen durch Bernd Grabosch in Führung. Gegen seinen 16-Meter-Schuss ist auch Eike Immel machtlos. Eigentlich sollte er schon bei der Nationalmannschaft sein, die ohne ihn zur WM nach Mexiko geflogen ist. Da ahnte er noch nicht, dass sich sein Abflug um weitere vier Tage verzögern sollte. Zur Pause ahnte das auch sonst niemand. In der Addition lag Borussia 0:3 zurück und die drückende Hitze sorgte nicht gerade für ideale Bedingungen, eine Aufholjagd zu starten.

Und trotzdem sprachen sie in der Kabine von der größten, die es im deutschen Fußball gegeben hatte. "Denkt an Uerdingen gegen Dresden", riefen sie sich zu. Acht Wochen zuvor hatten die Westdeutschen im Europacup nach 1:3-Pausenrückstand gegen Dynamo noch 7:3 gewonnen. Trainer Erich Ribbeck wechselte den 22jährigen Soldaten Ingo Anderbrügge für Kapitän Lothar Huber ein. Anderbrügge hatte Trainingsrückstand, in der Grundausbildung gab es auch für Bundesliga-Profis keine Privilegien. Und doch machte sich sein Einsatz bezahlt. In der 54. Minute drang er in den Strafraum ein, der Kölner Hans-Jürgen Gede rempelte ihn. Elfmeter! Einer, den nicht jeder Schiedsrichter gegeben hätte. Die Fortunen protestierten vergeblich, Michael Zorc vollstreckte – 1:1. Noch 36 Minuten Zeit für zwei Tore. Auf der Fan-Seite "schwatzgelb" hat ein Augenzeuge die Stimmung und Ereignisse jenes Tages im Westfalen-Stadion dokumentiert. Er schreibt:

"Es gab wieder Hoffnung, aber es mußten noch zwei Tore fallen. Dortmund setzte an zum bedingungslosen Sturmlauf. Endlich, nach einer Viertelstunde des erfolglosen Anrennens, folgte der nächste Schritt auf dem Weg zur Befreiung. Unser Denker und Lenker des angeschlagenen Schlachtschiffs Borussia, Marcel Raducanu – der nebenbei auch wohl größte Magier der Ballbehandlung in der Geschichte des BVB machte sein einziges Kopfballtor seiner Karriere zum 2:1! Aber um die Schönheit dieses Tores zu bewundern, war jetzt nicht die Zeit. Es fehlte ja immer noch mindestens ein Tor, um wenigstens das Entscheidungsspiel zu erzwingen. Und noch waren ja 22 Minuten zu spielen!"

Weiter heißt es im Text des Zeitzeugen:

"Es sprach für die Moral und den unbändigen Siegeswillen unserer müden Spieler, dass sie zu keiner Zeit resignierten, sondern sich selbst anfeuerten und nach vorne peitschten. Der unermüdlich schreiende Vizekapitän Frank Pagelsdorf trieb immer wieder die Seinen nach vorne. Nun folgte das, was die Hochburg Westfalenstadion so außergewöhnlich machte. Mindestens 50.000 Zuschauer standen, im wahrsten Sinne des Wortes, hinter der Mannschaft, Sitzplätze gab es schon lange nicht mehr. Zu oft mussten sie alle Aufspringen, da lohnte kein Hinsetzen mehr."

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Ecke Köln, Tor Dortmund

Aber die Minuten verrannen ohne weitere besondere Vorkommnisse. Als die 90. und somit allerletzte anbrach, bekamen die Fortunen eine Ecke. Trainer Hannes Linßen hat sich diese Szenen noch oft auf Video angesehen, so als würde es beim 100. Mal vielleicht doch noch anders kommen. "Wir haben eine Ecke und die schießen das Tor", sagte er immer wieder fassungslos. Denn der abgewehrte Ball kam zu Soldat Anderbrügge, der fast von der Torauslinie mit links abzog. Jacek Jarecki, der bis dahin so überragende Fortuna-Torwart, ließ den harten Ball abtropfen. Dahin, wohin ein Torwart keinen Ball abtropfen lassen sollte, weil ein klassischer Torjäger dort immer stehen wird. Einer wie Jürgen Wegmann.

Mit Pfiffen hatten sie ihn trotz seiner 20 Saison-Tore begrüßt, denn ein paar Tage zuvor war sein Wechsel bekannt geworden. Zu Schalke 04 – ausgerechnet. "Sie nannten mich 'Judas' und pfiffen mich aus, als ich an diesem schwülen Nachmittag das Feld betrat", erzählte Wegmann dem Magazin 11 Freunde, das 25 Jahre später noch mal alles genau wissen wollte.

Der "Torjubel des Jahrhunderts"

Auch der WDR kam mit einem Kamerateam und begleitete Wegmann 2008 ins Stadion. Wegen eines Tores, das jeder Kreisklassen-fußballer erzielt hätte und das doch so ekstatisch bejubelt wurde wie ein 50-Meter-Schuss in den Winkel. Dabei drückte Wegmann den Ball aus zwei Metern freistehend mit links ins leere Tor. Angeblich will er es geahnt haben. "Die Beine waren schwer, der Kreislauf spielte verrückt, und auch das Publikum hatte die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben. Doch ich spürte tief in mir, dass da noch was gehen musste." 3:1 – die vorläufige Rettung. Schmidhuber pfiff nur noch mal an um abzupfeifen. Der Pfiff ging im "Torjubel des Jahrhunderts" (Wegmann) unter. Der Biss der Kobra, wie Wegmann ("Ich bin giftiger als die giftigste Schlange") genannt wurde und werden wollte, sorgte für eine Explosion der Gefühle.

Der Augenzeuge schilderte es auf Schwatzgelb so: "Hinter dem Tor lagen wildfremde Menschen aufeinander, andere herzten sich ohne sich zu genieren und es flossen Tränen der Freude, die den Dortmund-Ems-Kanal in Richtung Nordsee an die Grenzen des Erträglichen brachten!"

Borussia fährt ins leere Stadion

Hunderte Fans stürmten den Platz und "da haben wir um unsere Gesundheit gefürchtet" (Wegmann). Verteidiger Dirk Hupe wurde in die Luft geworfen und bekam Angst. Letztlich kamen alle mit heiler Haut davon. Ganz im Gegensatz zu den von Fortuna verlassenen Fortunen. Gleich drei Spieler (Jarecki, Niggemann, Lemke) erlitten Knieverletzungen, inklusive Sperren beklagten sie vor dem dritten Spiel zwölf Ausfälle. Eigentlich wollten sie alle schon im Urlaub sein, die Mannschaftskasse auf Ibiza verjubeln. 15.000 Mark gingen flöten, sie hatten keine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen. Fußball konnten sie aber auch nicht mehr spielen. Nicht sofort.

Der DFB sagte die dritte Partie auf Antrag der Kölner ab, Borussia kam dennoch demonstrativ ins leere Düsseldorfer Rheinstadion. Als die Fortunen sieben weitere Tage später wieder eine Elf hatten, standen sie immer noch unter dem Schock, den der Kobra-Biss verursachte. Ihr letztes Aufgebot unterlag am 30. Mai in einem an der Grenze zur Farce verlaufenden Spiel 0:8. "Für jeden Tag Verzögerung ein Tor", höhnte Zorc. Wegmann traf in dieser Partie nur einmal, per Elfmeter zum 6:0. Doch sein Abstauber im zweiten Spiel machte ihn zur Legende. Borussia verschaffte ihm nach seiner Karriere, als er Probleme hatte, Fuß zu fassen, einen Job im Verein. Aus gutem Grund.