Es geschah am 34. Spieltag: "Wir melden uns vom Abgrund"

"Es geschah am 34. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: das dramatische Abstiegsfinale der Saison 1998/1999 und das Fjörtoft-Tor zur Rettung der Eintracht.

Datum: Samstag, 29. Mai 1999
Orte: Frankenstadion Nürnberg, Waldstadion Frankfurt und Ruhrstadion Bochum
Partien: 1. FC Nürnberg - SC Freiburg 1:2, Eintracht Frankfurt - 1. FC Kaiserslautern 5:1 und VfL Bochum - Hansa Rostock 2:3

In der letzten Mai-Woche 1999 brauchten die Fußballfans in Deutschland gute Nerven. Viel mehr Drama ging eigentlich nicht als das, was am 26. und 29. Mai passierte. Zunächst verspielte Bayern München im Finale der Champions League gegen Manchester United in der Nachspielzeit eine 1:0-Führung und kassierte "die Mutter aller Niederlagen". Das war unglaublich, aber wenigstens nicht so verwirrend wie das Drama, das drei Tage später folgen sollte.

Der Abstiegskampf der Saison 1998/1999 schien lange Zeit eine ziemlich unspektakuläre Angelegenheit zu werden. Borussia Mönchengladbach war schon nach dem 31. Spieltag nicht mehr zu retten, auch dem VfL Bochum und Eintracht Frankfurt stand das Wasser bis zum Hals. Während die Bochumer am 33. Spieltag endgültig untergingen, sendete die Eintracht Lebenszeichen. Unter Trainer Jörg Berger, der erst sieben Spiele vor Schluss kam, setzte sie zur Aufholjagd an und nach drei Siegen in Folge hatten die Hessen vor dem letzten Spieltag noch eine Chance.

So kam es zum spannendsten Abstiegsdrama der Liga-Historie, das auch den Krimi von 1969, als die letzten Vier am 34. Spieltag unter sich waren und zwei Absteiger ausspielten, in den Schatten stellte. Denn dieses Drama spielte auf vier, später drei, Bühnen und es war nichts für schwache Nerven. Die Konferenz-Schaltung des Rundfunks erlebte am 29. Mai 1999 ihre größte Sternstunde, ein Reporter, ein Trainer und ein Stürmer wurden unsterblich an diesem Nachmittag. Doch der der Reihe nach.

Vor dem 34. Spieltag sind noch fünf Teams gefährdet

Die Ausgangslage: Fünf Mannschaften sind noch bedroht. Eintracht Frankfurt (34 Punkte, minus 14 Tore) steht unter dem Strich und trifft zuhause auf Kaiserslautern, das in die Champions League will. Hansa Rostock (35, minus 10) muss zu Absteiger Bochum und hat den vermeintlich leichtesten Gegner. Der SC Freiburg (36/minus 9) muss zum Abstiegsendspiel nach Nürnberg. Der Club ist als Zwölfter (37/minus 9) nahezu gerettet. Mehr Sorgen muss sich noch der VfB Stuttgart (36/minus 8) machen, der zuhause gegen Werder Bremen ran muss.

Fünf Kandidaten für einen Platz, den keiner will. Obwohl: einer hat sich gedanklich schon aus dem Abstiegskampf verabschiedet. Schon nach dem 1:1 in Rostock in der Vorwoche gingen die Nürnberger jubelnd vom Platz und der Vorstand verschickte euphorisch an die Dauerkartenkunden schon Angebote, denn "wir haben die erste Saison in der Bundesliga mit Erfolg hinter uns gebracht". Nach dem Spiel ist eine Klassenerhaltsfete geplant, per Lautsprecher wurden die Besucher dazu unentwegt eingeladen. Warum auch nicht? Torwart Andy Köpke stand mit seiner Meinung nicht allein: "Zu 99 Prozent bleiben wir drin. Da müsste ja wirklich alles gegen uns laufen." Und wie es läuft…

Das Drama beginnt verhalten: Um 15.37 Uhr fällt das erste Tor, das den Kandidatenkreis auf vier Klubs reduziert: Fredi Bobic köpft Stuttgart gegen Werder in Führung, an der sich nichts mehr ändern wird. Frankfurt bleibt auf dem Abstiegsplatz.

15.59 Uhr: Freiburgs Ali Günes trifft in Nürnberg. Absteiger? Frankfurt.
16.06 Uhr: Günes erwischt einen großen Tag – 0:2. Absteiger? Frankfurt.
16.07 Uhr: Oliver Neuville schießt Rostock in Bochum in Front. Absteiger? Frankfurt.
16.15: Halbzeit. Keine Tore in Frankfurt, die Eintracht geht als gefühlter Absteiger in die Kabinen, Nürnberg ist bereits auf Platz 15 abgerutscht. Der Vorsprung beträgt noch zwei Punkte und drei Tore. Spannung ist was anderes. Wiederanpfiff., Vorhang auf zum Abstiegsdrama 1999.

16.34 Uhr: Frankfurts Chinese Chen Yang schießt das 1:0. Absteiger? Trotzdem Frankfurt.
16.56 Uhr: Michael Schjönberg gleicht für Kaiserslautern aus. Absteiger? Ziemlich sicher Frankfurt.
16.58 Uhr: 2:1 für die Eintracht durch Thomas Sobotzik. Absteiger? Frankfurt.
16.59 Uhr: Tor für Bochum durch Stefan Kuntz. 1:1. Absteiger? Hansa Rostock.
17.02 Uhr: 2:1 für Bochum durch Peter Peschel. Absteiger? Ziemlich sicher Hansa Rostock.
17.05 Uhr: 2:2 in Bochum, das dritte Tor binnen sechs Minuten. Viktor Agali gleicht aus. Absteiger? Hansa Rostock.
17.07 Uhr: 3:1 in Frankfurt durch Marco Gebhardt, der sogar noch ein Kunststück wagt und sich den Ball mit der Hacke selbst vorlegt. Absteiger? Hansa Rostock.

Die letzten zehn Spielminuten überlassen wir den Rundfunkreportern. Günter Koch (Bayerischer Rundfunk) meldet sich aus Nürnberg: "Freiburg hat es in der Hand, die Bundesliga zu entscheiden. Nur noch zehn Zentimeter, bestenfalls, steht der Club vor dem Abgrund. Er liegt hinten mit 0:2, das ist Alibi-Fußball."

Doch das 0:2 reicht vorerst beiden, weshalb auf dem Platz "verhandelt" wird. Freiburgs Ralf Kohl erzählt später: "Da haben wir mit ein paar Nürnberger Spielern gesprochen und waren der Meinung: 0:2, das reicht uns beiden, lass uns langsam machen." Doch es ist kein Nachmittag für verlässliche Prognosen, der Fußball zeigt in den letzten zehn Minuten der Saison 1998/1999 seine faszinierendste Seite – die gänzliche Unberechenbarkeit dessen, was da folgen könnte.

Zurück in die Konferenz: Dirk Schmidt (Hessischer Rundfunk), 17.07 Uhr: "Tor in Frankfurt."

Günter Koch: "Wer hat da geschrien?"

Schmidt: "Toooor in Frankfurt. 4:1 für die Eintracht. Bernd Schneider macht den Treffer. Günther, und was heißt das? Das heißt, dass Frankfurt jetzt eine Tordifferenz von minus elf hat – wie der 1. FC Nürnberg. Aber die Eintracht hat mehr Tore erzielt. Nach meiner Rechnung – und ich bin kein großer Mathematiker – ist der 1. FC Nürnberg damit wieder in größte Abstiegsgefahr geraten."

Koch: "Du hast alles gesagt. Im Moment, um 17.11 Uhr, ist der Club nach 1979, nach 1984, nach 1994 auch 1999 fast abgestiegen. Alles hängt jetzt von Bochum gegen Hansa Rostock ab. Frankfurt ist besser. Der Club taumelt, der Club hängt am Abgrund." Absteiger? Trotzdem Hansa Rostock.

Manfred Breuckmann (Westdeutscher Rundfunk), 17.11: "Und Toor, Tor für Rostock. Majak, der eingewechselte Majak macht ein Kopfballtor. Hansa Rostock führt um 17.12 Uhr mit 3:2 und alles kann gut werden." Absteiger? 1. FC Nürnberg.

Günter Koch, 17.12 Uhr: "Tor in Nürnberg. Tor, Tor, Tor in Nürnberg. Ich pack das nicht, ich halt das nicht mehr aus, ich will das nicht mehr sehen. Aber sie haben ein Tor gemacht. Ich weiß nicht wie, Kopfball von Nikl. Ich halt das nicht mehr aus. Nein, es tut mir leid, 1:2. Es ist nicht zu fassen." Absteiger? Eintracht Frankfurt.

Im Waldstadion feiern sie zu früh, der verletzte Spieler Thomas Epp rennt zwischen dem Bildschirm von "Premiere" und dem Spielfeldrand hin und her und brüllt die Kollegen an: "Das reicht noch nicht." Kollege Jan-Aage Fjörtoft hört am besten hin. Zurück zur Konferenz.

Dirk Schmidt, 17.16 Uhr: "Die Eintracht weiß: Ein Tor könnte wieder Nürnberg in den Abgrund stoßen. Sie kommen jetzt wieder. Dann ist es Fjörtoft, der ist im Strafraum. Und dann Tooor, Tor für die Eintracht, 5:1. Herrje, welche Leistung. Und damit ist der 1. FC Nürnberg wieder in der zweiten Liga." Er verschweigt den legendären Übersteiger, mit dem Fjörtoft FCK-Keeper Andreas Reinke überlistet.

Absteiger? 1. FC Nürnberg!

Günter Koch, 17.21 Uhr: "Hallo, hier ist Nürnberg. Wir melden uns vom Abgrund. So wie Bayern wegen des linken Torpfostens in Barcelona in verloren hat, steigt der Club ab – wenn er denn absteigt – wegen des linken Pfostens in der Nordkurve. Nikl drosch den Ball an den Pfosten, der Ball klatscht vor die Füße von Frank Baumann und der bringt den Ball aus sechs Metern nicht im Tor unter. Der Club, der schon abgestiegen war zwischen 17.08 und 17.10 Uhr, ist im Moment abgestiegen – denn das Spiel ist aus. Ade, liebe Freunde. Es ist nicht zu fassen, was der Club seinem treuen Publikum zumutet. Liebe Clubberer, es tut mir Leid: Das musste nicht sein." Manfred Breuckmann (WDR): "Und Günther, du tust mir auch leid."

So endet das Abstiegsdrama 1999 mit der größtmöglichen Überraschung. Nie zuvor ist ein Tabellenzwölfter am vorletzten Spieltag noch abgestiegen. In Nürnberg fließen Tränen, diejenigen Fans, die noch eine Stimme hatten, riefen: "Ihr seid so blöd!". Frank Baumann spricht wegen des Fehlschusses vom "schwärzesten Moment in meiner Karriere." Da müsse man sich eben das Schienbein brechen und zur Not fünf Wochen für seinen Club im Krankenhaus liegen, aber der Ball müsse doch rein, grollt Co-Trainer Ignaz Good. Chef-Trainer Friedel Rausch sprach fassungslos von "einer tausendprozentigen Chance". Kapitän Sasa Ciric klagt: "Wir sind selbst schuld".

Vereinzelt werden Vorwürfe Richtung FCK laut. Freiburgs Torwart Richard Golz: "Diesmal sollten die Nürnberger nicht auf uns sauer sein, sondern auf Kaiserslautern. Ich finde das Resultat von Frankfurt eine Unverschämtheit." FCK-Trainer Otto Rehhagel geht es ähnlich: "Ich musste mich sehr beherrschen um die Contenance zu bewahren, dem einen oder anderen Spieler die Wahrheit zu sagen."

Die Wahrheiten des Jörg Berger, 1991 mit Schimpf und Schande am Main verjagt und nun der große Held, fruchten: "Nur wer an das Unmögliche glaubt, kann das Mögliche erreichen", sagt der Trainer, der an diesem Tag sein Image als Retter zementiert. Ein Spruch von Fjörtoft trägt dazu bei: "Dieser Mann hätte auch die Titanic gerettet."

Noch Wochen später treffen schriftliche Anträge bei der Frankfurter Oberbürgermeisterin ein, dem mittlerweile verstorbenen Berger doch ein Denkmal zu errichten. Dazu kommt es nicht. Stattdessen wird er im Dezember entlassen, weil die Eintracht abgeschlagen wieder im Abstiegskampf steht. Und dass er das Wunder wiederholen könnte, trauen sie ihm nicht zu. Das schafft dann ein gewisser Felix Magath.

Was sonst noch am 34. Spieltag geschah

1968/1969: Meister Nürnberg steigt nach einem 0:3 in Köln ab.

1977/1978: Höchster Bundesligasieg aller Zeiten – Gladbach fehlen nach dem 12:0 gegen Dortmund trotzdem drei Tore zum Titel, den Köln (5:0 gegen St. Pauli) gewinnt.

1985/1986: Bayern München (6:0 gegen Gladbach) steht erstmals in der Saison an der Spitze und wird dank der Bremer 1:2-Niederlage in Stuttgart Meister.

1987/1988: Schalkes Klaus Fichtel absolviert mit 43 Jahren, sechs Monaten und zwei Tagen sein letztes Bundesligaspiel – Altersrekord im Oberhaus.

1995/1996: Abstiegsfinale in Leverkusen: Kaiserslautern muss nach dem 1:1 erstmals in die 2. Bundesliga, Andy Brehme weint im TV-Studio in den Armen des Bayer-Stürmers Rudi Völler.

1999/2000: Leverkusen verspielt in Unterhaching die Meisterschaft. Nach Ballacks Eigentor triumphiert Bayern.

2000/2001: Bayern holt die Schale durch Anderssons Ausgleich in Hamburg in der Nachspielzeit. 4 Minuten und 38 Sekunden lang fühlt sich Schalke als Meister, wird aber nur "Meister der Herzen".

2008/2009: Arminia Bielefeld verpflichtet Jörg Berger für ein Spiel – trotzdem Abstieg nach 2:2 gegen Hannover 96.

2009/2010: Hertha BSC steigt nach 1:3 gegen Bayern mit Minusrekord ab – 16 Heimspiele ohne Sieg.

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"Es geschah am 34. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: das dramatische Abstiegsfinale der Saison 1998/1999 und das Fjörtoft-Tor zur Rettung der Eintracht.

Datum: Samstag, 29. Mai 1999
Orte: Frankenstadion Nürnberg, Waldstadion Frankfurt und Ruhrstadion Bochum
Partien: 1. FC Nürnberg - SC Freiburg 1:2, Eintracht Frankfurt - 1. FC Kaiserslautern 5:1 und VfL Bochum - Hansa Rostock 2:3

In der letzten Mai-Woche 1999 brauchten die Fußballfans in Deutschland gute Nerven. Viel mehr Drama ging eigentlich nicht als das, was am 26. und 29. Mai passierte. Zunächst verspielte Bayern München im Finale der Champions League gegen Manchester United in der Nachspielzeit eine 1:0-Führung und kassierte "die Mutter aller Niederlagen". Das war unglaublich, aber wenigstens nicht so verwirrend wie das Drama, das drei Tage später folgen sollte.

Der Abstiegskampf der Saison 1998/1999 schien lange Zeit eine ziemlich unspektakuläre Angelegenheit zu werden. Borussia Mönchengladbach war schon nach dem 31. Spieltag nicht mehr zu retten, auch dem VfL Bochum und Eintracht Frankfurt stand das Wasser bis zum Hals. Während die Bochumer am 33. Spieltag endgültig untergingen, sendete die Eintracht Lebenszeichen. Unter Trainer Jörg Berger, der erst sieben Spiele vor Schluss kam, setzte sie zur Aufholjagd an und nach drei Siegen in Folge hatten die Hessen vor dem letzten Spieltag noch eine Chance.

So kam es zum spannendsten Abstiegsdrama der Liga-Historie, das auch den Krimi von 1969, als die letzten Vier am 34. Spieltag unter sich waren und zwei Absteiger ausspielten, in den Schatten stellte. Denn dieses Drama spielte auf vier, später drei, Bühnen und es war nichts für schwache Nerven. Die Konferenz-Schaltung des Rundfunks erlebte am 29. Mai 1999 ihre größte Sternstunde, ein Reporter, ein Trainer und ein Stürmer wurden unsterblich an diesem Nachmittag. Doch der der Reihe nach.

Vor dem 34. Spieltag sind noch fünf Teams gefährdet

Die Ausgangslage: Fünf Mannschaften sind noch bedroht. Eintracht Frankfurt (34 Punkte, minus 14 Tore) steht unter dem Strich und trifft zuhause auf Kaiserslautern, das in die Champions League will. Hansa Rostock (35, minus 10) muss zu Absteiger Bochum und hat den vermeintlich leichtesten Gegner. Der SC Freiburg (36/minus 9) muss zum Abstiegsendspiel nach Nürnberg. Der Club ist als Zwölfter (37/minus 9) nahezu gerettet. Mehr Sorgen muss sich noch der VfB Stuttgart (36/minus 8) machen, der zuhause gegen Werder Bremen ran muss.

Fünf Kandidaten für einen Platz, den keiner will. Obwohl: einer hat sich gedanklich schon aus dem Abstiegskampf verabschiedet. Schon nach dem 1:1 in Rostock in der Vorwoche gingen die Nürnberger jubelnd vom Platz und der Vorstand verschickte euphorisch an die Dauerkartenkunden schon Angebote, denn "wir haben die erste Saison in der Bundesliga mit Erfolg hinter uns gebracht". Nach dem Spiel ist eine Klassenerhaltsfete geplant, per Lautsprecher wurden die Besucher dazu unentwegt eingeladen. Warum auch nicht? Torwart Andy Köpke stand mit seiner Meinung nicht allein: "Zu 99 Prozent bleiben wir drin. Da müsste ja wirklich alles gegen uns laufen." Und wie es läuft…

Das Drama beginnt verhalten: Um 15.37 Uhr fällt das erste Tor, das den Kandidatenkreis auf vier Klubs reduziert: Fredi Bobic köpft Stuttgart gegen Werder in Führung, an der sich nichts mehr ändern wird. Frankfurt bleibt auf dem Abstiegsplatz.

15.59 Uhr: Freiburgs Ali Günes trifft in Nürnberg. Absteiger? Frankfurt.
16.06 Uhr: Günes erwischt einen großen Tag – 0:2. Absteiger? Frankfurt.
16.07 Uhr: Oliver Neuville schießt Rostock in Bochum in Front. Absteiger? Frankfurt.
16.15: Halbzeit. Keine Tore in Frankfurt, die Eintracht geht als gefühlter Absteiger in die Kabinen, Nürnberg ist bereits auf Platz 15 abgerutscht. Der Vorsprung beträgt noch zwei Punkte und drei Tore. Spannung ist was anderes. Wiederanpfiff., Vorhang auf zum Abstiegsdrama 1999.

16.34 Uhr: Frankfurts Chinese Chen Yang schießt das 1:0. Absteiger? Trotzdem Frankfurt.
16.56 Uhr: Michael Schjönberg gleicht für Kaiserslautern aus. Absteiger? Ziemlich sicher Frankfurt.
16.58 Uhr: 2:1 für die Eintracht durch Thomas Sobotzik. Absteiger? Frankfurt.
16.59 Uhr: Tor für Bochum durch Stefan Kuntz. 1:1. Absteiger? Hansa Rostock.
17.02 Uhr: 2:1 für Bochum durch Peter Peschel. Absteiger? Ziemlich sicher Hansa Rostock.
17.05 Uhr: 2:2 in Bochum, das dritte Tor binnen sechs Minuten. Viktor Agali gleicht aus. Absteiger? Hansa Rostock.
17.07 Uhr: 3:1 in Frankfurt durch Marco Gebhardt, der sogar noch ein Kunststück wagt und sich den Ball mit der Hacke selbst vorlegt. Absteiger? Hansa Rostock.

Die letzten zehn Spielminuten überlassen wir den Rundfunkreportern. Günter Koch (Bayerischer Rundfunk) meldet sich aus Nürnberg: "Freiburg hat es in der Hand, die Bundesliga zu entscheiden. Nur noch zehn Zentimeter, bestenfalls, steht der Club vor dem Abgrund. Er liegt hinten mit 0:2, das ist Alibi-Fußball."

Doch das 0:2 reicht vorerst beiden, weshalb auf dem Platz "verhandelt" wird. Freiburgs Ralf Kohl erzählt später: "Da haben wir mit ein paar Nürnberger Spielern gesprochen und waren der Meinung: 0:2, das reicht uns beiden, lass uns langsam machen." Doch es ist kein Nachmittag für verlässliche Prognosen, der Fußball zeigt in den letzten zehn Minuten der Saison 1998/1999 seine faszinierendste Seite – die gänzliche Unberechenbarkeit dessen, was da folgen könnte.

Zurück in die Konferenz: Dirk Schmidt (Hessischer Rundfunk), 17.07 Uhr: "Tor in Frankfurt."

Günter Koch: "Wer hat da geschrien?"

Schmidt: "Toooor in Frankfurt. 4:1 für die Eintracht. Bernd Schneider macht den Treffer. Günther, und was heißt das? Das heißt, dass Frankfurt jetzt eine Tordifferenz von minus elf hat – wie der 1. FC Nürnberg. Aber die Eintracht hat mehr Tore erzielt. Nach meiner Rechnung – und ich bin kein großer Mathematiker – ist der 1. FC Nürnberg damit wieder in größte Abstiegsgefahr geraten."

Koch: "Du hast alles gesagt. Im Moment, um 17.11 Uhr, ist der Club nach 1979, nach 1984, nach 1994 auch 1999 fast abgestiegen. Alles hängt jetzt von Bochum gegen Hansa Rostock ab. Frankfurt ist besser. Der Club taumelt, der Club hängt am Abgrund." Absteiger? Trotzdem Hansa Rostock.

Manfred Breuckmann (Westdeutscher Rundfunk), 17.11: "Und Toor, Tor für Rostock. Majak, der eingewechselte Majak macht ein Kopfballtor. Hansa Rostock führt um 17.12 Uhr mit 3:2 und alles kann gut werden." Absteiger? 1. FC Nürnberg.

Günter Koch, 17.12 Uhr: "Tor in Nürnberg. Tor, Tor, Tor in Nürnberg. Ich pack das nicht, ich halt das nicht mehr aus, ich will das nicht mehr sehen. Aber sie haben ein Tor gemacht. Ich weiß nicht wie, Kopfball von Nikl. Ich halt das nicht mehr aus. Nein, es tut mir leid, 1:2. Es ist nicht zu fassen." Absteiger? Eintracht Frankfurt.

Im Waldstadion feiern sie zu früh, der verletzte Spieler Thomas Epp rennt zwischen dem Bildschirm von "Premiere" und dem Spielfeldrand hin und her und brüllt die Kollegen an: "Das reicht noch nicht." Kollege Jan-Aage Fjörtoft hört am besten hin. Zurück zur Konferenz.

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Dirk Schmidt, 17.16 Uhr: "Die Eintracht weiß: Ein Tor könnte wieder Nürnberg in den Abgrund stoßen. Sie kommen jetzt wieder. Dann ist es Fjörtoft, der ist im Strafraum. Und dann Tooor, Tor für die Eintracht, 5:1. Herrje, welche Leistung. Und damit ist der 1. FC Nürnberg wieder in der zweiten Liga." Er verschweigt den legendären Übersteiger, mit dem Fjörtoft FCK-Keeper Andreas Reinke überlistet.

Absteiger? 1. FC Nürnberg!

Günter Koch, 17.21 Uhr: "Hallo, hier ist Nürnberg. Wir melden uns vom Abgrund. So wie Bayern wegen des linken Torpfostens in Barcelona in verloren hat, steigt der Club ab – wenn er denn absteigt – wegen des linken Pfostens in der Nordkurve. Nikl drosch den Ball an den Pfosten, der Ball klatscht vor die Füße von Frank Baumann und der bringt den Ball aus sechs Metern nicht im Tor unter. Der Club, der schon abgestiegen war zwischen 17.08 und 17.10 Uhr, ist im Moment abgestiegen – denn das Spiel ist aus. Ade, liebe Freunde. Es ist nicht zu fassen, was der Club seinem treuen Publikum zumutet. Liebe Clubberer, es tut mir Leid: Das musste nicht sein." Manfred Breuckmann (WDR): "Und Günther, du tust mir auch leid."

So endet das Abstiegsdrama 1999 mit der größtmöglichen Überraschung. Nie zuvor ist ein Tabellenzwölfter am vorletzten Spieltag noch abgestiegen. In Nürnberg fließen Tränen, diejenigen Fans, die noch eine Stimme hatten, riefen: "Ihr seid so blöd!". Frank Baumann spricht wegen des Fehlschusses vom "schwärzesten Moment in meiner Karriere." Da müsse man sich eben das Schienbein brechen und zur Not fünf Wochen für seinen Club im Krankenhaus liegen, aber der Ball müsse doch rein, grollt Co-Trainer Ignaz Good. Chef-Trainer Friedel Rausch sprach fassungslos von "einer tausendprozentigen Chance". Kapitän Sasa Ciric klagt: "Wir sind selbst schuld".

Vereinzelt werden Vorwürfe Richtung FCK laut. Freiburgs Torwart Richard Golz: "Diesmal sollten die Nürnberger nicht auf uns sauer sein, sondern auf Kaiserslautern. Ich finde das Resultat von Frankfurt eine Unverschämtheit." FCK-Trainer Otto Rehhagel geht es ähnlich: "Ich musste mich sehr beherrschen um die Contenance zu bewahren, dem einen oder anderen Spieler die Wahrheit zu sagen."

Die Wahrheiten des Jörg Berger, 1991 mit Schimpf und Schande am Main verjagt und nun der große Held, fruchten: "Nur wer an das Unmögliche glaubt, kann das Mögliche erreichen", sagt der Trainer, der an diesem Tag sein Image als Retter zementiert. Ein Spruch von Fjörtoft trägt dazu bei: "Dieser Mann hätte auch die Titanic gerettet."

Noch Wochen später treffen schriftliche Anträge bei der Frankfurter Oberbürgermeisterin ein, dem mittlerweile verstorbenen Berger doch ein Denkmal zu errichten. Dazu kommt es nicht. Stattdessen wird er im Dezember entlassen, weil die Eintracht abgeschlagen wieder im Abstiegskampf steht. Und dass er das Wunder wiederholen könnte, trauen sie ihm nicht zu. Das schafft dann ein gewisser Felix Magath.

Was sonst noch am 34. Spieltag geschah

1968/1969: Meister Nürnberg steigt nach einem 0:3 in Köln ab.

1977/1978: Höchster Bundesligasieg aller Zeiten – Gladbach fehlen nach dem 12:0 gegen Dortmund trotzdem drei Tore zum Titel, den Köln (5:0 gegen St. Pauli) gewinnt.

1985/1986: Bayern München (6:0 gegen Gladbach) steht erstmals in der Saison an der Spitze und wird dank der Bremer 1:2-Niederlage in Stuttgart Meister.

1987/1988: Schalkes Klaus Fichtel absolviert mit 43 Jahren, sechs Monaten und zwei Tagen sein letztes Bundesligaspiel – Altersrekord im Oberhaus.

1995/1996: Abstiegsfinale in Leverkusen: Kaiserslautern muss nach dem 1:1 erstmals in die 2. Bundesliga, Andy Brehme weint im TV-Studio in den Armen des Bayer-Stürmers Rudi Völler.

1999/2000: Leverkusen verspielt in Unterhaching die Meisterschaft. Nach Ballacks Eigentor triumphiert Bayern.

2000/2001: Bayern holt die Schale durch Anderssons Ausgleich in Hamburg in der Nachspielzeit. 4 Minuten und 38 Sekunden lang fühlt sich Schalke als Meister, wird aber nur "Meister der Herzen".

2008/2009: Arminia Bielefeld verpflichtet Jörg Berger für ein Spiel – trotzdem Abstieg nach 2:2 gegen Hannover 96.

2009/2010: Hertha BSC steigt nach 1:3 gegen Bayern mit Minusrekord ab – 16 Heimspiele ohne Sieg.