Es geschah am 33. Spieltag: Kutzops fataler Fehlschuss

"Es geschah am 33. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: Bremens Michael Kutzop schießt den Strafstoß für Werder gegen die Bayern an den Pfosten und verpasst so die Titelentscheidung.

Datum: 22. April 1986
Ort: Weserstadion, Bremen
Partie: Werder Bremen - Bayern München 0:0

Als die Bundesliga 40 wurde, erschien ein Buch mit allerlei bemerkenswerten Geschichten. Ein Kapitel handelte von Michael Kutzop und die Überschrift lautete: "Ich verschoss den berühmtesten Elfmeter der Liga-Geschichte." Wenn die Bundesliga im kommenden Jahr 50 wird, wird das wohl immer noch so sein. Manch einer fühlte sich erst kürzlich an seinen Fehlschuss erinnert, als Bayerns Arjen Robben kurz vor Schluss beim Gipfeltreffen in Dortmund an Roman Weidenfeller scheiterte.

Das kam den Ereignissen des 22. April 1986 schon ziemlich nahe, dennoch bleiben sie unerreicht. Denn nie hat es einen wichtigeren Elfmeter in der Bundesliga gegeben. Kutzop schießt ihn danach noch öfters in seinen Träumen, wie er 1993 zugibt. Die Erinnerung an diesen Tag hat den damaligen Werder-Profi schon so oft eingeholt, dass er sie stoisch erträgt wie andere den Heuschnupfen im Frühling. "Ich stehe da mittlerweile drüber, wirklich. Am Anfang war es schwieriger“, sagt der Mann, der heute im hessischen Großwallstadt lebt, wenn er nicht gerade Rudi Völlers Fußballschule auf Mallorca leitet. Leverkusens Sportdirektor Rudi Völler, der Weltmeister und Champions League-Gewinner, ist sein Freund. Immer noch. Er war auch dabei, damals.

Der 22. April 1986, der verschossene Elfmeter, der Werder Bremen die Deutsche Meisterschaft kostete und der wieder mal den FC Bayern triumphieren ließ. 152 Bundesliga-Einsätze bis zum Rücktritt 1990, 28 Tore, darunter 17 Elfmeter – Kutzop war einer der sichersten Strafstoßschützen. Er hat in der Bundesliga immer vom Punkt getroffen. Warum bloß nicht an jenem Dienstagabend im Bremer Weserstadion, als der Spielplan den SV Werder und den FC Bayern zu einem echten Endspiel um den Titel zusammenführte? Mit einem Sieg wäre Werder, das zwei Punkte (damals gleichbedeutend mit einem Sieg) Vorsprung hatte, Meister geworden. So wie es die Experten erwarten, in einer Umfrage unter den Bundesliga-Trainern heißt es 9:5 für Werder, das fast die ganze Saison über an der Spitze gestanden hat – und Bayern nie.

Aber in dem hin- und herwogenden Spiel wollen einfach keine Tore fallen. Die Torhüter Jean-Marie Pfaff (Bayern) und Dieter Burdenski halten prächtig, wobei der Belgier mehr zu tun bekommt. Werder will die Entscheidung im eigenen Stadion, der Sekt steht schon in der Kabine. Unter dem Beifall der Massen wechselt Otto Rehhagel nach 77 Minuten Rudi Völler ein. Im Hinspiel wurde er von Klaus Augenthaler verletzt, 64 Tage nach seiner Leistenoperation feiert er sein Comeback. Und spielt in seinem Kurzauftritt gleich eine Hauptrolle.

Die 88. Minute: Völler kommt über rechts und will den Ball über Sören Lerby lupfen. Der Däne streckt die Arme instinktiv nach vorne, weil er den Ball nicht ins Gesicht bekommen will. Aber genau das passiert. Für Schiedsrichter Volker Roth sieht es, auch nach Betrachtung der TV-Bilder, nach einem Handspiel aus. Elfmeter – sicherlich keine glückliche Entscheidung in einem so wichtigen Spiel.

Die Bayern rasten aus und bestürmen Roth. Das Spiel ist unterbrochen, denn "der Ball war erst mal weg", erinnert sich Kutzop. Bayerns Co-Trainer Egon Coordes entsorgt das Spielgerät, ob aus Wut oder mit Absicht, mit einem Tritt - und einen zweiten Ball gibt es in diesen Tagen des Fußballs auf die Schnelle nicht. "Vielleicht habe ich da zu viel Zeit gehabt, nachzudenken", räsoniert Kutzop. Bayern-Spieler kommen zu ihm, flüstern ihm etwas ins Ohr, das er bis heute nicht preisgeben will. Die Angst vor dem Fehlschuss, der doch der Meister-Schuss werden soll, frisst die Seele auf.

Bayern-Torwart Jean-Marie Pfaff lässt sich derweil von Trainer Udo Lattek beraten, möglichst lange stehen zu bleiben. Endlich wird der Ball gefunden, nach zwei Minuten und acht Sekunden. Schleppend läuft Kutzop an, verzögert, schickt Pfaff in die falsche Ecke – und trifft doch nur den Außenpfosten. Kutzop: "Dieses Scheißgeräusch vergesse ich nie."

So bleibt es beim 0:0, die Bayern liegen sich in den Armen ob der unverhofften Chance, noch Meister zu werden am letzten Spieltag. Elf Flaschen Schampus, die im Kabinengang für die Bremer parat standen, bleiben ungeköpft. Es wird nur Frustbier getrunken. Kutzop sitzt gemeinsam mit Freunden bei Völlers, dessen Ehefrau hat was Leckeres gekocht, doch Kutzop bekommt nichts runter. "Keiner hat mir einen Vorwurf gemacht, erst später haben einige geflachst, ich hätte sie um eine Eigentumswohnung gebracht. Und der Rudi hat mir später oft gesagt: Alles habe ich gewonnen, nur nie die Deutsche Meisterschaft, nur wegen dir."

Der Titel nämlich geht an die Bayern, die dank Bremens 1:2 in Stuttgart vier Tage später noch vorbeiziehen. Ganz ungeschoren lässt ihn Rudi Völler nicht davonkommen: Wenn ein neuer Kurs von Fußballschülern in Cala Millor begrüßt wird, sehen die Kinder zum Anfang immer ein Video über Völlers Werdegang. Das enthält, warum auch immer, auch den Kutzop-Elfmeter. Der Schütze muss ihn ziemlich oft sehen, er hält sich 22 Wochen im Jahr auf Mallorca auf. Aber wie gesagt, er steht längst drüber: "Wenn ich verwandelt hätte, wäre ich zwar zwei Mal Meister geworden. Aber heute würde mich doch keine Sau mehr kennen."

Und heute wiederum gibt es keine nächtlichen Anrufer mehr. 1986 sind es so viele, die sich entweder über den Fehlschuss beschweren oder noch mal bedanken wollen, dass Kutzop seine Telefonnummer ändern muss. Aber das Schicksal meint es doch noch gut mit ihm. Otto Rehhagel hat es schon gewusst, als er ihn ein paar Tage nach Saisonende bei der Asien-Reise zur Seite nimmt: "Michael, es gibt einen Fußball-Gott. Wenn Sie weiter hart an sich arbeiten, wird er Sie belohnen." 1988 wird Kutzop mit Werder doch noch Meister und glaubt seitdem an den Fußball-Gott. Jede gute Geschichte braucht eine Schlusspointe: Wenn Kutzop getroffen hätte, hätte Roth den Elfmeter wiederholen lassen, da der Bremer beim Anlaufen kurz stehen geblieben war…

Was sonst noch am 33. Spieltag geschah

1965/1966: 1860 München gewinnt das Spitzenspiel bei Tabellenführer Bor. Dortmund 2:0 - Absteiger Tasmania Berlin schlägt Neunkirchen 2:1 und beendet nach 31 Spielen die noch immer längste Serie ohne Sieg.

1969/1970: Erste Meisterschaft für Borussia Mönchengladbach nach einem 4:3 über den HSV.

1971/1972: Zuschauer-Minusrekord für einen Spieltag: 80.845.

1978/1979: Erste Bundesliga-Meisterschaft des HSV nach 0:0 in Bielefeld.

1979/1980: Gründungsmitglied Werder Bremen steigt nach 0:5 gegen Köln ab.

1980/1981: Abstieg von Schalke 04 nach 0:2 in Kaiserslautern.

1990/1991: Gladbach gewinnt am Betzenberg 3:2, FCK muss Meisterfeier verschieben.

1995/1996: Dortmund wird in München (2:2 bei 1860) Meister.

1997/1998: Aufsteiger Kaiserslautern nach 4:0 gegen Wolfsburg Meister.

2004/2005: Letztes Spiel der Bayern im Olympiastadion (6:3 vs. Nürnberg).

2006/2007: Dortmund vermasselt Schalke die Meisterschaft (2:0 im Derby).

2009/2010: Zuschauerrekord mit 53.912 Besuchern pro Spiel.

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"Es geschah am 33. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: Bremens Michael Kutzop schießt den Strafstoß für Werder gegen die Bayern an den Pfosten und verpasst so die Titelentscheidung.

Datum: 22. April 1986
Ort: Weserstadion, Bremen
Partie: Werder Bremen - Bayern München 0:0

Als die Bundesliga 40 wurde, erschien ein Buch mit allerlei bemerkenswerten Geschichten. Ein Kapitel handelte von Michael Kutzop und die Überschrift lautete: "Ich verschoss den berühmtesten Elfmeter der Liga-Geschichte." Wenn die Bundesliga im kommenden Jahr 50 wird, wird das wohl immer noch so sein. Manch einer fühlte sich erst kürzlich an seinen Fehlschuss erinnert, als Bayerns Arjen Robben kurz vor Schluss beim Gipfeltreffen in Dortmund an Roman Weidenfeller scheiterte.

Das kam den Ereignissen des 22. April 1986 schon ziemlich nahe, dennoch bleiben sie unerreicht. Denn nie hat es einen wichtigeren Elfmeter in der Bundesliga gegeben. Kutzop schießt ihn danach noch öfters in seinen Träumen, wie er 1993 zugibt. Die Erinnerung an diesen Tag hat den damaligen Werder-Profi schon so oft eingeholt, dass er sie stoisch erträgt wie andere den Heuschnupfen im Frühling. "Ich stehe da mittlerweile drüber, wirklich. Am Anfang war es schwieriger“, sagt der Mann, der heute im hessischen Großwallstadt lebt, wenn er nicht gerade Rudi Völlers Fußballschule auf Mallorca leitet. Leverkusens Sportdirektor Rudi Völler, der Weltmeister und Champions League-Gewinner, ist sein Freund. Immer noch. Er war auch dabei, damals.

Der 22. April 1986, der verschossene Elfmeter, der Werder Bremen die Deutsche Meisterschaft kostete und der wieder mal den FC Bayern triumphieren ließ. 152 Bundesliga-Einsätze bis zum Rücktritt 1990, 28 Tore, darunter 17 Elfmeter – Kutzop war einer der sichersten Strafstoßschützen. Er hat in der Bundesliga immer vom Punkt getroffen. Warum bloß nicht an jenem Dienstagabend im Bremer Weserstadion, als der Spielplan den SV Werder und den FC Bayern zu einem echten Endspiel um den Titel zusammenführte? Mit einem Sieg wäre Werder, das zwei Punkte (damals gleichbedeutend mit einem Sieg) Vorsprung hatte, Meister geworden. So wie es die Experten erwarten, in einer Umfrage unter den Bundesliga-Trainern heißt es 9:5 für Werder, das fast die ganze Saison über an der Spitze gestanden hat – und Bayern nie.

Aber in dem hin- und herwogenden Spiel wollen einfach keine Tore fallen. Die Torhüter Jean-Marie Pfaff (Bayern) und Dieter Burdenski halten prächtig, wobei der Belgier mehr zu tun bekommt. Werder will die Entscheidung im eigenen Stadion, der Sekt steht schon in der Kabine. Unter dem Beifall der Massen wechselt Otto Rehhagel nach 77 Minuten Rudi Völler ein. Im Hinspiel wurde er von Klaus Augenthaler verletzt, 64 Tage nach seiner Leistenoperation feiert er sein Comeback. Und spielt in seinem Kurzauftritt gleich eine Hauptrolle.

Die 88. Minute: Völler kommt über rechts und will den Ball über Sören Lerby lupfen. Der Däne streckt die Arme instinktiv nach vorne, weil er den Ball nicht ins Gesicht bekommen will. Aber genau das passiert. Für Schiedsrichter Volker Roth sieht es, auch nach Betrachtung der TV-Bilder, nach einem Handspiel aus. Elfmeter – sicherlich keine glückliche Entscheidung in einem so wichtigen Spiel.

Die Bayern rasten aus und bestürmen Roth. Das Spiel ist unterbrochen, denn "der Ball war erst mal weg", erinnert sich Kutzop. Bayerns Co-Trainer Egon Coordes entsorgt das Spielgerät, ob aus Wut oder mit Absicht, mit einem Tritt - und einen zweiten Ball gibt es in diesen Tagen des Fußballs auf die Schnelle nicht. "Vielleicht habe ich da zu viel Zeit gehabt, nachzudenken", räsoniert Kutzop. Bayern-Spieler kommen zu ihm, flüstern ihm etwas ins Ohr, das er bis heute nicht preisgeben will. Die Angst vor dem Fehlschuss, der doch der Meister-Schuss werden soll, frisst die Seele auf.

Bayern-Torwart Jean-Marie Pfaff lässt sich derweil von Trainer Udo Lattek beraten, möglichst lange stehen zu bleiben. Endlich wird der Ball gefunden, nach zwei Minuten und acht Sekunden. Schleppend läuft Kutzop an, verzögert, schickt Pfaff in die falsche Ecke – und trifft doch nur den Außenpfosten. Kutzop: "Dieses Scheißgeräusch vergesse ich nie."

So bleibt es beim 0:0, die Bayern liegen sich in den Armen ob der unverhofften Chance, noch Meister zu werden am letzten Spieltag. Elf Flaschen Schampus, die im Kabinengang für die Bremer parat standen, bleiben ungeköpft. Es wird nur Frustbier getrunken. Kutzop sitzt gemeinsam mit Freunden bei Völlers, dessen Ehefrau hat was Leckeres gekocht, doch Kutzop bekommt nichts runter. "Keiner hat mir einen Vorwurf gemacht, erst später haben einige geflachst, ich hätte sie um eine Eigentumswohnung gebracht. Und der Rudi hat mir später oft gesagt: Alles habe ich gewonnen, nur nie die Deutsche Meisterschaft, nur wegen dir."

Der Titel nämlich geht an die Bayern, die dank Bremens 1:2 in Stuttgart vier Tage später noch vorbeiziehen. Ganz ungeschoren lässt ihn Rudi Völler nicht davonkommen: Wenn ein neuer Kurs von Fußballschülern in Cala Millor begrüßt wird, sehen die Kinder zum Anfang immer ein Video über Völlers Werdegang. Das enthält, warum auch immer, auch den Kutzop-Elfmeter. Der Schütze muss ihn ziemlich oft sehen, er hält sich 22 Wochen im Jahr auf Mallorca auf. Aber wie gesagt, er steht längst drüber: "Wenn ich verwandelt hätte, wäre ich zwar zwei Mal Meister geworden. Aber heute würde mich doch keine Sau mehr kennen."

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Und heute wiederum gibt es keine nächtlichen Anrufer mehr. 1986 sind es so viele, die sich entweder über den Fehlschuss beschweren oder noch mal bedanken wollen, dass Kutzop seine Telefonnummer ändern muss. Aber das Schicksal meint es doch noch gut mit ihm. Otto Rehhagel hat es schon gewusst, als er ihn ein paar Tage nach Saisonende bei der Asien-Reise zur Seite nimmt: "Michael, es gibt einen Fußball-Gott. Wenn Sie weiter hart an sich arbeiten, wird er Sie belohnen." 1988 wird Kutzop mit Werder doch noch Meister und glaubt seitdem an den Fußball-Gott. Jede gute Geschichte braucht eine Schlusspointe: Wenn Kutzop getroffen hätte, hätte Roth den Elfmeter wiederholen lassen, da der Bremer beim Anlaufen kurz stehen geblieben war…

Was sonst noch am 33. Spieltag geschah

1965/1966: 1860 München gewinnt das Spitzenspiel bei Tabellenführer Bor. Dortmund 2:0 - Absteiger Tasmania Berlin schlägt Neunkirchen 2:1 und beendet nach 31 Spielen die noch immer längste Serie ohne Sieg.

1969/1970: Erste Meisterschaft für Borussia Mönchengladbach nach einem 4:3 über den HSV.

1971/1972: Zuschauer-Minusrekord für einen Spieltag: 80.845.

1978/1979: Erste Bundesliga-Meisterschaft des HSV nach 0:0 in Bielefeld.

1979/1980: Gründungsmitglied Werder Bremen steigt nach 0:5 gegen Köln ab.

1980/1981: Abstieg von Schalke 04 nach 0:2 in Kaiserslautern.

1990/1991: Gladbach gewinnt am Betzenberg 3:2, FCK muss Meisterfeier verschieben.

1995/1996: Dortmund wird in München (2:2 bei 1860) Meister.

1997/1998: Aufsteiger Kaiserslautern nach 4:0 gegen Wolfsburg Meister.

2004/2005: Letztes Spiel der Bayern im Olympiastadion (6:3 vs. Nürnberg).

2006/2007: Dortmund vermasselt Schalke die Meisterschaft (2:0 im Derby).

2009/2010: Zuschauerrekord mit 53.912 Besuchern pro Spiel.