Es geschah am 32. Spieltag: Helmers Phantomtor

Verständnislos denkt sich Osmers: "Habe ich denn jemanden umgebracht?" Seine Frau zieht schließlich den Stecker aus der Telefonbuchse, und Handys sind anno 1994 noch nicht so verbreitet. Aber Osmers und Kollege Jablonski haben noch immer keine Ruhe. Nun müssen sie vors DFB-Sportgericht.

Protest und Erfolg

Denn es kommt, was kommen muss: Am nächsten Tag legt der 1. FC Nürnberg fristgerecht Protest gegen die Spielwertung ein. Gegen eine Tatsachenentscheidung zwar, aber unter Berufung auf einen Präzedenzfall aus dem Jahr 1978, als beim Zweitligaspiel Borussia Neunkirchen gegen Stuttgarter Kickers ein Ball seitlich durch ein Loch im Netz ins Tor kullerte und der Schiedsrichter den Treffer anerkannte. Das Spiel wurde annulliert. Nun hoffen auch die Nürnberger auf Gerechtigkeit und wissen die Fußball-Nation hinter sich. Bei einer repräsentativen Umfrage des Wickert-Instituts stimmen 91 Prozent der Deutschen für Wiederholung.

Das darf den DFB, der am Dienstag, 26. April tagt, nicht beeinflussen. Nach 311 Minuten Verhandlung kommt das Sportgericht in Frankfurt zu einem Urteil, das die Volksseele befriedigt: Wiederholung! Am Dienstag, 3. Mai, zwischen vorletztem und letztem Spieltag - was eigentlich nicht sein soll, aber nicht anders geht. Die Einnahmen des Wiederholungsspiels sollen zwischen den Klubs geteilt werden, Uli Hoeneß kündigt an, Bayern Münchens Anteil an die vom Bürgerkrieg betroffene bosnische Stadt Gorazde zu spenden. Die Gelben Karten behalten ihre Gültigkeit, die Tore dagegen werden auch in der Torschützenliste annulliert.

Interessant ist die Begründung des Urteils, mit der der DFB das Prinzip der Tatsachenentscheidung nicht untergräbt. Osmers und Jablonski haben demnach zwei verschiedene Szenen bewertet, den ersten beziehungsweise den zweiten Schussversuch Helmers. Denn dass der Ball beim zweiten Versuch neben das Tor kullerte, konnte Osmers genau sehen. Er beanspruchte Jablonskis Hilfe beim ersten Versuch. Da diese aber nur Sekundenbruchteile auseinanderlagen, bezog Osmers Jablonskis Signal schlicht auf die falsche Szene. "Der Doppelfehler der Unparteiischen führte mithin zur Aufhebung der Fehlentscheidung und Neuansetzung der Partie", erklärt der Kicker seinen Lesern, was 100 Reporter und 15 Kamerateams vor Gericht aus erster Hand erfahren.

Klare Sache im Wiederholungsspiel

Der Kicker kommentiert: "Ein Schuss neben das Tor darf kein Treffer sein, das würde den Sinn des Fußballs ad absurdum führen. Fatal an Osmers' Irrtum ist der späte Zeitpunkt der Saison." Tatsächlich legt Club-Konkurrent SC Freiburg Protest ein. Das Spiel solle früher als der 33. Spieltag stattfinden, dieser solle komplett auf den Dienstag danach verlegt werden, weil es sonst sein könne, dass beide Mannschaften ein Remis bräuchten, um ihre Ziele zu erreichen - "und dann weiß ich schon vorher, wie es ausgeht", sagt SCF-Präsident Achim Stocker. Das wird abgelehnt, und es kommt ohnehin ganz anders.

Das von Sat.1 live übertragene Wiederholungsspiel wird eine klare Angelegenheit für die Bayern, die 5:0 gewinnen und Meister werden - während Nürnberg absteigt. Der DFB handelt sich noch eine Rüge der FIFA ein, die die Tatsachenentscheidung heiligt und in dem Urteil verletzt sieht.



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"Es geschah am 32. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: Thomas Helmer schiebt den Ball an Andreas Köpke, aber auch am Tor vorbei - doch der Schiedsrichter entscheidet auf Treffer.

Datum: 23. April 1994
Ort: Olympiastadion München
Partie: Bayern München - 1. FC Nürnberg 2:1

Drei Spiele vor Ende der Saison stehen in der Bundesliga noch etliche Entscheidungen aus. Bayern München ist zwar Erster, aber noch lange nicht Meister - schon gar nicht nach dem 0:4-Debakel in der Vorwoche bei Verfolger 1. FC Kaiserslautern, der nur zwei Punkte zurückliegt. Mit dem VfB Leipzig steht erst ein Absteiger fest, vier Klubs kämpfen noch ums Überleben. Einer ist der 1. FC Nürnberg, und so ist das Bayern-Derby an diesem 32. Spieltag der Saison 1993/1994 mehr als nur ein Prestigespiel.

Bayern-Teamchef Franz Beckenbauer und die Mehrheit der 63.000 im ausverkauften Olympiastadion verlangen Wiedergutmachung und natürlich zwei Punkte, die es damals noch für einen Sieg gibt. Sie werden sie nicht erhalten, denn der Sieg, den der FC Bayern einfährt, ist nichts wert - jedenfalls nicht im ersten Moment. Dafür werden sie Zeuge eines einmaligen Ereignisses in der Bundesigahistorie, in deren Annalen seit jenem Tag ein Kapitel zum Thema Phantomtor steht.

Mit der Hacke am Tor vorbei

Der Reihe nach: In der 23. Minute erhält der FC Bayern einen Eckball von rechts, den Marcel Witeczek mit links dicht vor das Tor dreht. Andreas Köpke im Nürnberger Tor kommt zu Fall, Bayerns Thomas Helmer an den Ball. Er schießt den Torwart auf der Linie an, der Ball prallt wieder zu Helmer, der ihn nun mit einer kuriosen Bewegung mit der Hacke am Tor vorbeistochert. Der Ball rollt auf die Tartanbahn. Köpke tröstet seinen Kollegen aus der Nationalmannschaft, tätschelt ihn am Kopf und sagt: "Den Ball am Tor vorbeizubringen, war schwieriger, als ihn reinzuschießen."

Beckenbauer schlägt die Hände vors Gesicht und stöhnt: "Eigentlich muss das ein klares Tor sein." Ob Jörg Jablonski das gehört hat und sich dachte: Dem Kaiser widerspricht man nicht? Wohl kaum. Aber der Linienrichter, der an diesem Tag weltberühmt wird, hebt die Fahne und signalisiert Tor. Premiere-Kommentator Fritz von Thurn und Taxis ruft in sein Mikrofon: "Das ist eine furchtbare Fehlentscheidung."

Die Entscheidung trifft Schiedsrichter Hans-Jürgen Osmers, aber nur weil "Sportkamerad Jablonski" (Bild-Zeitung) so heftig winkt. Zu dessen Ehrenrettung sei gesagt, dass auch zahlreiche Zuschauer, die direkt hinter ihm sitzen, aufspringen und jubeln. Aber dann setzen sie sich wieder hin, weil der Ball ja ganz offensichtlich neben das Tor kullert. Doch wo war er Sekundenbruchteile vorher?

"Gucke in die Sonne"

Sanitätsfeldwebel Jablonski sagt dem Kicker am nächsten Tag am Telefon: "Ich stehe genau an der Eckfahne und gucke in die Sonne. Der Spieler Helmer steht am hinteren Pfosten vor der Torlinie. Ich sehe, wie Köpke auf den Ball zustürzt und wie Helmer den Ball über die Linie bringt. Ich war hundertprozentig der Überzeugung, dass der Ball hinter der Linie war. Weil Helmer zwischen den Pfosten gestanden und die Hacke genommen hatte. Ich war überzeugt, dass Helmer den Ball nicht am Pfosten vorbei, sondern ins Tor getreten hatte. Deshalb hob ich die Fahne. Erste Zweifel kamen mir aber schon, als der Ball neben dem Tor lag. Zumal Köpke und einige Club-Spieler auf mich zustürmten. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen entschieden."

Die Bayern nehmen das Geschenk an und gratulieren Helmer, der beteuert: "Ich habe nichts gesehen". Tatsächlich steht er beim Nachschuss mit der Hacke mit dem Rücken zum Tor. Mit 1:0 geht es in die Kabinen, Nürnbergs Marc Oechler handelt sich wegen seines Protestes eine Verwarnung ein. Trainer Rainer Zobel, der Jablonski auf dem Gang in die Katakomben mit der Hand anzeigt wie weit der Ball am Tor vorbei sei, erntet nur ein mildes Lächeln.

In der Halbzeit versichert Jablonski Osmers: "Du brauchst dir keine Gedanken machen, der Ball war klar im Tor." Doch als die Unparteiischen ihre Kabine wieder verlassen, sehen sie auf einem Monitor, was fast alle gesehen haben - kein Tor. Osmers: "Von da an war es schwierig für mich, die Partie zu leiten. Aber es ist mir ganz gut gelungen."

In der Tat: Vom Schiedsrichter-Beobachter erhält er 46 von 50 möglichen Punkten, bedeutet "sehr gut". Und doch hat kaum eine Schiedsrichterentscheidung mehr Wirbel ausgelöst. Das Spiel endet 2:1 für die Bayern, Helmer schießt noch ein Tor, was heute sicher niemand mehr weiß. Das Phantomtor überstrahlt in der Erinnerung an diesen Tag alles, auch ein zweites Tor des Verteidigers.

Schwabl patzt vom Punkt

Nürnberg aber gibt nicht auf, der Schweizer Alain Sutter verkürzt in der 79. Minute, und gleich danach kriegen die Gäste einen Foulelfmeter, den ausgerechnet Helmer verursacht. Doch der etatmäßige Schütze Sergio Zarate fehlt, und Ex-Bayer Manfred Schwabl scheitert an Raimond Aumann. So bleibt es beim 2:1, und wohl nur deshalb wiederum wird es nicht dabei bleiben. Hätte Schwabl verwandelt, "hätten wir niemals Protest eingelegt", sagt der Schütze später. Ein Punkt beim Tabellenführer wäre ein großer Erfolg gewesen und hätte dem DFB allerlei Schwierigkeiten erspart.

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Auch Osmers hat zehn Jahre später im Gespräch mit der Tageszeitung "Die Welt" zugegeben, dass er bei Schwabls Schuss nicht ganz unparteiisch war: "Als er verschoss, war ich der Ohnmacht nahe." Und nun geht der Wirbel erst richtig los. Es bleibt nicht bei Interviews im Stadion. Als Osmers nach Bremen zurückkehrt, sieht er sein Haus von Reportern belagert. Sein Büro ebenfalls. Die Tagesthemen schalten ihn zu, Starmoderatoren wollen ihn in ihrer Sendung haben.

Verständnislos denkt sich Osmers: "Habe ich denn jemanden umgebracht?" Seine Frau zieht schließlich den Stecker aus der Telefonbuchse, und Handys sind anno 1994 noch nicht so verbreitet. Aber Osmers und Kollege Jablonski haben noch immer keine Ruhe. Nun müssen sie vors DFB-Sportgericht.

Protest und Erfolg

Denn es kommt, was kommen muss: Am nächsten Tag legt der 1. FC Nürnberg fristgerecht Protest gegen die Spielwertung ein. Gegen eine Tatsachenentscheidung zwar, aber unter Berufung auf einen Präzedenzfall aus dem Jahr 1978, als beim Zweitligaspiel Borussia Neunkirchen gegen Stuttgarter Kickers ein Ball seitlich durch ein Loch im Netz ins Tor kullerte und der Schiedsrichter den Treffer anerkannte. Das Spiel wurde annulliert. Nun hoffen auch die Nürnberger auf Gerechtigkeit und wissen die Fußball-Nation hinter sich. Bei einer repräsentativen Umfrage des Wickert-Instituts stimmen 91 Prozent der Deutschen für Wiederholung.

Das darf den DFB, der am Dienstag, 26. April tagt, nicht beeinflussen. Nach 311 Minuten Verhandlung kommt das Sportgericht in Frankfurt zu einem Urteil, das die Volksseele befriedigt: Wiederholung! Am Dienstag, 3. Mai, zwischen vorletztem und letztem Spieltag - was eigentlich nicht sein soll, aber nicht anders geht. Die Einnahmen des Wiederholungsspiels sollen zwischen den Klubs geteilt werden, Uli Hoeneß kündigt an, Bayern Münchens Anteil an die vom Bürgerkrieg betroffene bosnische Stadt Gorazde zu spenden. Die Gelben Karten behalten ihre Gültigkeit, die Tore dagegen werden auch in der Torschützenliste annulliert.

Interessant ist die Begründung des Urteils, mit der der DFB das Prinzip der Tatsachenentscheidung nicht untergräbt. Osmers und Jablonski haben demnach zwei verschiedene Szenen bewertet, den ersten beziehungsweise den zweiten Schussversuch Helmers. Denn dass der Ball beim zweiten Versuch neben das Tor kullerte, konnte Osmers genau sehen. Er beanspruchte Jablonskis Hilfe beim ersten Versuch. Da diese aber nur Sekundenbruchteile auseinanderlagen, bezog Osmers Jablonskis Signal schlicht auf die falsche Szene. "Der Doppelfehler der Unparteiischen führte mithin zur Aufhebung der Fehlentscheidung und Neuansetzung der Partie", erklärt der Kicker seinen Lesern, was 100 Reporter und 15 Kamerateams vor Gericht aus erster Hand erfahren.

Klare Sache im Wiederholungsspiel

Der Kicker kommentiert: "Ein Schuss neben das Tor darf kein Treffer sein, das würde den Sinn des Fußballs ad absurdum führen. Fatal an Osmers' Irrtum ist der späte Zeitpunkt der Saison." Tatsächlich legt Club-Konkurrent SC Freiburg Protest ein. Das Spiel solle früher als der 33. Spieltag stattfinden, dieser solle komplett auf den Dienstag danach verlegt werden, weil es sonst sein könne, dass beide Mannschaften ein Remis bräuchten, um ihre Ziele zu erreichen - "und dann weiß ich schon vorher, wie es ausgeht", sagt SCF-Präsident Achim Stocker. Das wird abgelehnt, und es kommt ohnehin ganz anders.

Das von Sat.1 live übertragene Wiederholungsspiel wird eine klare Angelegenheit für die Bayern, die 5:0 gewinnen und Meister werden - während Nürnberg absteigt. Der DFB handelt sich noch eine Rüge der FIFA ein, die die Tatsachenentscheidung heiligt und in dem Urteil verletzt sieht.

Hans-Joahim Osmers pfeift noch ein Jahr Bundesliga und hört dann planmäßig auf, der weit jüngere Jörg Jablonski wird nur noch in der Regionalliga eingesetzt und hört nach zwei Jahren auf, denn "die Häme der Zuschauer war so groß". Thomas Helmer wird noch Europameister, UEFA-Pokalsieger, Deutscher Meister und DFB-Pokalsieger und arbeitet heute als Sportmoderator - aber nichts hat ihn so berühmt gemacht wie sein Phantomtor.

Was sonst noch am 32. Spieltag geschah

1966/1967: Borussia Dortmund gegen Hamburger SV 7:0 - höchste Niederlage des HSV.

1969/1970: Hertha BSC gegen Dortmund 9:1 - höchster Bundesligasieg der Hertha.

1971/1972: Dortmund steigt nach dem 0:2 in Stuttgart erstmals ab.

1972/1973: Bayern gegen Bochum 5:1 - der 26. Heimsieg der Münchner in Folge ist bis dato Bundesligarekord.

1973/1974: HSV gegen Bayern 0:5 - höchste Heimniederlage des HSV.

1976/1977: RW Essen gegen Eintracht Frankfurt 1:8 - höchster Frankfurter Auswärtssieg.

1983/1984: Torreichster Spieltag aller Zeiten - 53 Tore.

1987/1988: Bremens Frank Ordenewitz gibt in Köln ein Handspiel zu, der 1. FC verwandelt den Elfmeter. Ordenewitz erhält später den Fairplay-Preis der FIFA.

1988/1989: Bayern München gewinnt das entscheidende Spiel um den Titel in Köln 3:1 - drei Tore von Wohlfarth.

1992/1993: Frankfurts Trainer Horst Heese wechselt in Uerdingen einen vierten Ausländer ein - der 5:2-Sieg wird annulliert.

2003/2004: Werder Bremen ist nach dem 3:1 bei Bayern München Meister.

2006/2007: Gladbach steigt nach einem 1:1 gegen Bayern München ab.

2010/2011: Borussia Dortmund ist nach dem 2:0 gegen Nürnberg Meister.