Es geschah am 30. Spieltag: Lattek lenkt, Sammer denkt

Was sonst noch am 30. Spieltag geschah

1964/1965: Werder Bremen wird zweiter Deutscher Meister in der Bundesliga – mit einem 3:2 in Nürnberg. Damals ist es der letzte Spieltag.

1972/1973: Bayern München schafft die früheste Meisterschaft aller Zeiten – beim 6:0 gegen Kaiserslautern trifft Gerd Müller fünfmal.

1980/1981: Drama auf der Bielefelder Alm – im Abstiegsduell gegen 1860 München schießt Arminia in der 89. und 90. Minute zwei Tore (3:2). Schalke 04 kassiert gegen Bochum seine höchste Heimniederlage (0:6).

1993/1994: Höchster Auswärtssieg für Kaiserslautern – 7:1 in Duisburg.

1995/1996: Otto Rehhagel wird nach Bayerns Heimniederlage gegen Hansa Rostock (0:1) entlassen.

2006/2007: Bremens Diego trifft gegen Aachen aus 62 Metern.

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"Es geschah am 30. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: Dortmund holt Udo Lattek als Retter vor dem Abstieg.

Datum: 15. April 2000
Ort: Wedaustadion Duisburg
Partie: MSV Duisburg - Borussia Dortmund 2:2

Am Donnerstag, den 13. April 2000, schrieb der erfolgreichste Trainer in der Historie der Bundesliga eine Kolumne im Kicker. Er nahm Bezug auf die Situation im Abstiegskampf, die sich nach der englischen Woche für Borussia Dortmund dramatisch zugespitzt hatte. Der BVB, als Champions-League-Teilnehmer in die Saison gestartet und entsprechend ambitioniert, war nach der peinlichen 1:3-Heimpleite gegen Aufsteiger Unterhaching auf den 13. Platz abgerutscht, nur ein Punkt trennte ihn von einem Abstiegsplatz. Trainer Bernd Krauss hatte nach der Ablösung von Michael Skibbe keines seiner elf Spiele gewonnen, guter Rat war teuer. Lattek schrieb also: "Was soll die Vereinsführung jetzt machen? Ganz ehrlich, ich wüsste nicht was ich machen sollte! Fakt ist, dass der Trainerwechsel Bernd Krauss für Michael Skibbe wirkungslos verpufft ist. Ob jetzt ein erneuter Trainerwechsel etwas hilft? Eigentlich bin ich dagegen. Und es ist auch eine Frage der Alternativen? Wer ist auf dem Markt?"

Am Abend desselben Tages war Lattek neuer Trainer von Borussia Dortmund, das offenbar keine andere Alternative mehr gesehen hatte. Präsident Dr. Gerd Niebaum holte den 65 Jahre alten Fußball-Rentner, der nach seinem Rücktritt bei Schalke 04 Ende 1992 nur noch als TV-Experte tätig war, ins Trainergeschäft zurück. Das Angebot ereilte ihn am Mittwochmittag, als er seine Kolumne im Kicker gerade vollendet hatte. Er erbat sich einen Tag Bedenkzeit, dann sagte er zu – auch um sein Gewissen zu beruhigen: "Ich fühlte mich in der Schuld, weil Borussia Dortmund mich 1981 für den FC Barcelona freigegeben hat. Ich fühlte mich aber auch in der Schuld gegenüber dem Publikum. Wenn man die Möglichkeit hat, diese Schuld zu tilgen, ist das schön."

Die Nachricht schlug wie eine Bombe in den Redaktionsstuben des Landes ein, selbst der seriöse Spiegel schrieb auf seiner Homepage: "Kein Witz – Udo Lattek soll den BVB retten!"

Nicht alleine zwar, denn in Matthias Sammer und Uwe Neuhaus wurden ihm zwei Assistenten zur Seite gestellt für die Trainingsarbeit. Was sie sich vom Altmeister erwarteten, verkündete Michael Zorc, schon damals Sportdirektor: "Udo Lattek soll mit seinen fachlichen Qualitäten die Mannschaft führen, denn die Situation ist dramatisch. Er soll den Spielern die Unsicherheit nehmen und ihnen den Glauben zurückgeben."

Und Lattek, der in seiner Karriere nie gegen den Abstieg spielen musste, verspürte den Reiz des Besonderen: "Ich möchte jetzt beweisen, dass man in meinem Alter noch Leistung bringen kann. Es gibt bei den Spielern offenbar eine Blockade im Kopf. Sie können nicht das Laufen und Spielen verlernt haben. Ich werde versuchen, die Bremsen zu lösen." Dafür hatte er fünf Spiele Zeit, länger galt das Engagement nicht. Lattek ließ sich ein exorbitantes Gehalt von einer Million D-Mark zusichern (O-Ton: "Ich bin ja kein Samariter") und als Dr. Niebaum in seinen fabrikneuen Mercedes stieg, rief er ihm nach: "Wir sind uns ja quasi einig über die Finanzen. Aber so einen Wagen hätte ich auch gerne." Niebaums Konter: 'Du blöder Hund. Aber gut, du bekommst einen.' Den bin ich aber nie gefahren – zu lange Lieferzeit. Also habe ich ihn mir auszahlen lassen."

Erst musste er ihn sich verdienen.

Am ersten Arbeitstag, Freitag, der 14. April, brachte er die Pressekonferenz routiniert hinter sich, während Matthias Sammer meist schweigend neben ihm saß. Die Rollenverteilung sollte deutlich werden. Der Kicker schrieb: "Der Europameister Sammer denkt – und Lattek lenkt."

Nach seinem ersten Treffen mit der deprimierten Mannschaft wollte der Lenker schon beinahe wieder umkehren: "Ich war schwer erschrocken. Da war eine Stimmung, als sei gerade jemand beerdigt worden. Ich dachte, das kriegste nie auf die Reihe."

Symbolisch riss er ein Fenster auf, damit ein neuer Geist Einzug halten könne und die schlechte Stimmung entweiche. Am nächsten Tag stand bereits das erste Spiel auf dem Programm. Der Spielplan sah den vermeintlich leichtesten Gegner vor: Schlusslicht MSV Duisburg war kaum noch zu retten und hatte nur vier Spiele gewonnen. Aber Lattek warnte: "Die mögen uns nicht und werden versuchen, uns mit in den Keller zu ziehen." Das Spiel sollte ihm Recht geben.

Alle erwarteten Änderungen von Lattek und Sammer und tatsächlich standen mit Karsten Baumann, Stefan Reuter und Fredi Bobic auch drei Neue in der Elf, doch die Aufstellung ergab sich nach den Ausfällen von Jürgen Kohler und Heiko Herrlich fast von selbst. Für die Fotografen war ohnehin die Bank-Besetzung das Wichtigste an diesem Tag, denn dort saß der Trainer-Methusalem.

Udo Lattek war mit Anpfiff der Partie 65 Jahre und vier Monate alt, nur zwei Kollegen überhaupt waren in der Bundesliga-Historie älter gewesen. Er gab sich dennoch einen jugendlichen Touch und saß mit einer blauen Base-Cap auf der Bank. Es war eine Mütze des DSF, bei dem er nun vorläufig nicht mehr am Sonntagmorgen in der Talkrunde "Doppelpass" sitzen konnte. Ganz ablösefrei ließ ihn der Sender nicht gehen, also machte Lattek Werbung.

Mit der Werbung in eigener Sache war es etwas schwieriger an diesem verregneten Nachmittag. Ein Zauberer war Lattek jedenfalls nicht, die Borussia war noch immer das verunsicherte Starensemble, das auf ungewohntem Terrain der Tabelle nicht harmonierte. Schon nach sechs Minuten ging der MSV vor 21.255 Zuschauern in Führung, Kovacevic köpfte ein. Nun erwachte der BVB endlich und kam durch Otto Addo (13.) und Christian Wörns (25.) zur Führung. Doch weil Stürmer Fredi Bobic im eigenen Strafraum ein Foul an Kovacevic begann, konnten sie die nicht in die Pause retten: Michael Zeyer verwandelte den Elfmeter (44.) zum 2:2. Dabei blieb es, dem BVB schwanden die Kräfte. Lattek konzedierte "einen Hänger", sein Präsident Niebaum befand: "Dieses Pünktchen ist nur ein relativer Erfolg. Ein Schritt in die richtige Richtung. In unserer Situation muss man bescheiden sein."

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Die Spieler allemal, der Star war fortan der Trainer. Das merkten sie schon in Duisburg, wo der Bus abfahrbereit wartete. Nur einer fehlte: Udo Lattek. Er absolvierte einen Interview-Marathon, dann endlich kam er. "Jungs, es tut mir leid, dass ich jetzt erst komme. Ich kann wirklich nichts dafür." Für das, was dann kam, konnte er aber eine ganze Menge. Zwar verlor Borussia noch das nächste Spiel gegen die Bayern (0:1), aber mit einem Sieg in Stuttgart und einem 1:1 gegen Schalke schaffte Lattek die Rettung sogar schon vor dem letzten Spieltag. Prompt versuchte Niebaum, ihn für die nächste Saison weiter zu verpflichten, doch Lattek lehnte, wenngleich geschmeichelt, ab. Die Mannschaft verschaffte ihm dann in Berlin (3:0) sogar noch einen würdigen Abschied von der Bundesliga-Bühne.

Weil das Modell Lattek so gut fruchtete, versuchten in der Folge etliche Vereine in Abstiegsnot, erfahrene Haudegen als Retter einzusetzen. So kamen beispielsweise ein Hans Meyer oder Rolf Schafstall im Rentenalter noch zu Bundesligaehren und das jüngste Beispiel ist dieser Tage in Berlin zu besichtigen: Otto Rehhagel, sein ewiger Rivale, wandelt bei der Hertha in Latteks Spuren.

Was sonst noch am 30. Spieltag geschah

1964/1965: Werder Bremen wird zweiter Deutscher Meister in der Bundesliga – mit einem 3:2 in Nürnberg. Damals ist es der letzte Spieltag.

1972/1973: Bayern München schafft die früheste Meisterschaft aller Zeiten – beim 6:0 gegen Kaiserslautern trifft Gerd Müller fünfmal.

1980/1981: Drama auf der Bielefelder Alm – im Abstiegsduell gegen 1860 München schießt Arminia in der 89. und 90. Minute zwei Tore (3:2). Schalke 04 kassiert gegen Bochum seine höchste Heimniederlage (0:6).

1993/1994: Höchster Auswärtssieg für Kaiserslautern – 7:1 in Duisburg.

1995/1996: Otto Rehhagel wird nach Bayerns Heimniederlage gegen Hansa Rostock (0:1) entlassen.

2006/2007: Bremens Diego trifft gegen Aachen aus 62 Metern.