Es geschah am 25. Spieltag: Als aus Spatzen Moorhühner wurden

"Es geschah am 25. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: Scheibenschießen in Ulm.

Datum: Samstag, 18. März 2000
Ort: Donaustadion Ulm
Partie: SSV Ulm - Bayer Leverkusen 1:9

Die Bundesliga gab an der Wende zum neuen Jahrtausend ein ungewöhnliches Bild ab. Während Altmeister wie der 1. FC Köln, der 1. FC Nürnberg und Borussia Mönchengladbach in der 2. Bundesliga spielten, tummelten sich zwei blutige Anfänger im Oberhaus: Die Spielvereinigung Unterhaching und der SSV Ulm 1846 waren Exoten, aber nicht gerade Attraktionen in der Saison 1999/2000. Die Experten prophezeiten den beiden Klubs mit U - also "U2" – den sofortigen Wiederabstieg.

Im März 2000 waren sie sich da nicht mehr so sicher: Beide hatten 30 Punkte gesammelt, der Abstand zu den Abstiegsplätzen betrug acht Zähler. Und in Ulm mussten sie nach dem 2:1 beim HSV in der Vorwoche Fragen beantworten, an die im Sommer keiner gedacht habe.

Warum die Schwaben denn nicht für den UI-Cup gemeldet hatten, der damals eine Möglichkeit bot, in den UEFA-Cup zu gelangen, wurde Manager Erich Steer gefragt. "Wenn die Mannschaft den Klassenerhalt schafft, dann hat sie genug geleistet. Wir sind zweimal in Folge aufgestiegen, wir brauchen die Regeneration dringend", antwortete er dem Kicker zwei Tage vor dem Spiel gegen Meisteraspirant Bayer Leverkusen.

Ulmer Kartfahrer werden schnell ausgebremst

Christoph Daums Leverkusener waren auf dem gewohnten zweiten Platz, aber voller Tatendrang nach zuvor drei Siegen in Serie. Natürlich schielten sie nach der Meisterschale, und in der Form des Frühjahrs 2000 war das Ziel auch nicht illusorisch. Daum posaunte schon wieder: "Wir wollen uns selber belohnen und die Meisterschaft holen." Die Brasilianer Ze Roberto und Emerson sorgten für eine selten gesehene spielerische Qualität, die Nationalstürmer Oliver Neuville, Ulf Kirsten und der eingebürgerte Paolo Rink für die Tore.

Zehn waren es in den drei Spielen zuvor gewesen, gegen den Aufsteiger sollten noch einige dazu kommen. Dass es so viel wie nie in der Bayer-Historie werden würden, ahnte natürlich niemand. Auch die Ulmer nicht, die zwar ihre Außenseiterrolle annahmen, aber durchaus Optimismus ausstrahlten.



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"Es geschah am 25. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: Scheibenschießen in Ulm.

Datum: Samstag, 18. März 2000
Ort: Donaustadion Ulm
Partie: SSV Ulm - Bayer Leverkusen 1:9

Die Bundesliga gab an der Wende zum neuen Jahrtausend ein ungewöhnliches Bild ab. Während Altmeister wie der 1. FC Köln, der 1. FC Nürnberg und Borussia Mönchengladbach in der 2. Bundesliga spielten, tummelten sich zwei blutige Anfänger im Oberhaus: Die Spielvereinigung Unterhaching und der SSV Ulm 1846 waren Exoten, aber nicht gerade Attraktionen in der Saison 1999/2000. Die Experten prophezeiten den beiden Klubs mit U - also "U2" – den sofortigen Wiederabstieg.

Im März 2000 waren sie sich da nicht mehr so sicher: Beide hatten 30 Punkte gesammelt, der Abstand zu den Abstiegsplätzen betrug acht Zähler. Und in Ulm mussten sie nach dem 2:1 beim HSV in der Vorwoche Fragen beantworten, an die im Sommer keiner gedacht habe.

Warum die Schwaben denn nicht für den UI-Cup gemeldet hatten, der damals eine Möglichkeit bot, in den UEFA-Cup zu gelangen, wurde Manager Erich Steer gefragt. "Wenn die Mannschaft den Klassenerhalt schafft, dann hat sie genug geleistet. Wir sind zweimal in Folge aufgestiegen, wir brauchen die Regeneration dringend", antwortete er dem Kicker zwei Tage vor dem Spiel gegen Meisteraspirant Bayer Leverkusen.

Ulmer Kartfahrer werden schnell ausgebremst

Christoph Daums Leverkusener waren auf dem gewohnten zweiten Platz, aber voller Tatendrang nach zuvor drei Siegen in Serie. Natürlich schielten sie nach der Meisterschale, und in der Form des Frühjahrs 2000 war das Ziel auch nicht illusorisch. Daum posaunte schon wieder: "Wir wollen uns selber belohnen und die Meisterschaft holen." Die Brasilianer Ze Roberto und Emerson sorgten für eine selten gesehene spielerische Qualität, die Nationalstürmer Oliver Neuville, Ulf Kirsten und der eingebürgerte Paolo Rink für die Tore.

Zehn waren es in den drei Spielen zuvor gewesen, gegen den Aufsteiger sollten noch einige dazu kommen. Dass es so viel wie nie in der Bayer-Historie werden würden, ahnte natürlich niemand. Auch die Ulmer nicht, die zwar ihre Außenseiterrolle annahmen, aber durchaus Optimismus ausstrahlten.

"Die Leverkusener sind schlagbar", versicherte Ulms Trainer Martin Andermatt, als typischer Schweizer ansonsten eher ein zurückhaltender Mann. Am Dienstag hatte er das Team noch auf die Kart-Bahn geschleppt, Teamgeist stärken, Stimmung heben, mal was anderes machen. Dann konzentrierten sie sich doch wieder auf Fußball, übten es, die Räume eng zu machen, "um den Bayer-Express zu stoppen" (Kicker).

Andermatt: "In der ersten Halbzeit gut gespielt"

Nun, irgendwas muss den Schützlingen von Fußball-Lehrer Andermatt entgangen sein, denn am folgenden Samstag erlebten die Ulmer ein historisches Debakel. Schon zur Halbzeit hieß es 0:4, und am Ende stand ein 1:9 auf der Anzeigetafel des mit 23.500 Zuschauern wieder ausverkauften Donaustadions. Es war der zweithöchste Auswärtssieg in der Bundesliga-Historie, nur der MSV Duisburg hatte am 26. März 1966 bei Liga-Prügelknabe Tasmania Berlin noch höher gewonnen, nämlich 9:0. Natürlich war es auch die höchste Ulmer Niederlage in ihrer bis dato einzigen Bundesligasaison, aber auch der höchste Leverkusener Sieg in immerhin 33 Jahren.

Wie kam es dazu? Ulm griff forsch an und lief Bayer ins offene Messer. Emerson mit rechts (10.), Rink mit links (14.) und Kirsten per Kopf (19.) sorgten frühzeitig für klare Verhältnisse. "Leverkusen nutzte jede sich bietende Gelegenheit und konnte bis zur Pause eine hundertprozentige Torausbeute vorweisen: vier Chancen, vier Treffer", schrieb der Kicker.

Mit Ulms Torwart Philipp Laux durfte man getrost Mitleid haben, überhaupt hatten die "Spatzen", wie sie genannt wurden, Mitleid verdient. "Ich will nichts beschönigen. Doch in der ersten Hälfte haben wir gut gespielt. Wir besaßen mehr Spielanteile und erspielten uns auch gute Chancen", suchte Martin Andermatt hinterher noch nach tröstlichen Aspekten. Gut gespielt, aber nach Emersons zweiten Treffer (39.) schon 0:4 zurück - da war es schwer, sich noch mal aufzubäumen.

Publikum feiert seine "Spatzen"

Andermatt wechselte zwei frische Kräfte ein, Oliver Unsöld und Sascha Rösler durften nun auch an der Lehrstunde teilnehmen. Denn Bayer begnügte sich keineswegs mit dem 4:0 und steigerte sich in einen Spielrausch, den die Rheinische Post später hymnisch feierte: "Leverkusen im Frühjahr 2000 - das ist Lust und Spaß pur, zirzensische Unterhaltung auf höchstem Niveau, ein stimmiges Produkt im Verhältnis zwischen Bezahlung und Leistung."

Ein derartiges Attest hat man Jungmillionären im Bundesligageschäft eher selten ausgestellt, aber Bayer 04 war in jenen letzten Tagen der D-Mark jeden Pfennig wert. Auch in Ulm. 20 Minuten hielten sie sich zurück, dann setzte die "Moorhuhnjagd" auf die Spatzen ein, wie es in der Sportschau süffisant in Bezug auf ein damals populäres Computerspiel hieß. Oliver Neuville (68.), Ze Roberto (74., 81.), Michael Ballack (75.) und per Kopf Nationalspieler Bernd Schneider (85.), der damals nur auf der Bank saß und nur acht Minuten spielte, erhöhten auf 0:9.

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"So etwas habe ich noch nie erlebt"

Das Ulmer Publikum bekam Mitleid mit den Aufstiegshelden und begann, sie nach Ballacks 0:7 aufmunternd zu feiern. Das dankte ihnen der Brasilianer Leonardo mit seinem Tor in letzter Minute, auch das wurde begeistert gefeiert. "Einmalig, so etwas habe ich noch nie erlebt", zeigte sich Bayer-Manager Reiner Calmund von den Fans beeindruckt.

Aber auch in Bezug auf die Leverkusener Vorstellung war noch mehrmals von Superlativen die Rede an diesem Tag. Emerson schwelgte: "So ein Spiel habe ich noch nie erlebt, nicht in Brasilien, nicht in Deutschland. Das war ein Ereignis für sich." Und Rudi Völler, schon damals Sportdirektor von Bayer, befand: "Das ist der beste Fußball, den eine Bayer-Mannschaft je gespielt hat. Wir haben eine reelle Chance.

Und danach? Ulm steigt ab, Bayer wird "Vizekusen"

Auf die Meisterschaft. Und die Ulmer waren überzeugt, drinzubleiben. Erich Steer beteuerte: "Hätten wir so eine Klatsche zu Beginn der Saison bekommen, hätte es einen Knacks gegeben. So sehe ich kein Problem."

Beide sollten enttäuscht werden. Bayer ging zwar als Tabellenführer ins letzte Spiel, verspielte den Titel aber in Unterhaching. Und Ulm gewann nach dem 1:9 nur noch eins der letzten neun Spiele, stieg ab und kam nie wieder in die Bundesliga. Was blieb, ist ein historisches Spiel, als aus den Spatzen Moorhühner wurden.

Was sonst noch am 25. Spieltag geschah

1964/1965: Kölns Zeze schießt gegen Kaiserslautern beim 3:0 das erste Brasilianer-Tor der Bundesliga.

1965/1966: Einmaliges Bundesliga-Resultat: Aufsteiger Borussia Mönchengladbach schlägt den 1. FC Nürnberg mit 8:3.

1966/1967: Nürnbergs Roland Wabra wird als erster Torwart vom Platz gestellt, beim 2:2 in Düsseldorf.

1975/1976: Eintracht Frankfurts Ersatztorwart Jürgen Friedl wird gegen Hannover beim 5:1 eingewechselt und damit jüngster Bundesligaspieler - mit 17 Jahren und 25 Tage.

1986/1987: Waldhof Mannheim erhält gegen Kaiserslautern beim 4:3 vier Elfmeter, Gerry Ehrmann hält zwei. Mannheims Fritz Walter schießt vier Tore.

1987/1988: Hannovers Siggi Reich trifft beim 1:3 in Stuttgart nach einem Gegentor vom Anstoßkreis zum 1:1.

1990/1991: Eintracht Frankfurt feuert Trainer Jörg Berger nach der 0:6-Heimpleite gegen den HSV. St. Paulis Dirk Zander schießt gegen Karlsruhe beim 2:0 nach 12 Sekunden das bis dahin schnellste Bundesligator.

1993/1994: Dortmunds Lars Ricken avanciert beim 2:1 gegen Duisburg zum jüngsten Torschützen der Ligahistorie - mit 17 Jahre, acht Monaten und einem Tag.

1997/1998: Bayerns 0:1 bei Schalke löst die legendäre Wut-Rede von Trainer Giovanna Trapattoni ("Flasche leer") zwei Tage später aus.

1998/1999: Dortmunds Torwart Jens Lehmann fliegt beim 0:2 des BVB in Rostock vom Platz.

2003/2004: Frankfurts Trainer Willi Reimann attackiert in Dortmund den Vierten Offiziellen und wird für fünf Spiele gesperrt - das ist bis dahin eine Rekordstrafe für Trainer.

2005/2006: Nürnbergs Robert Vittek glückt beim 4:3 in Köln ein Hattrick.