Es geschah am 20. Spieltag: Als Lehmann den BVB schockte

"Es geschah am 20. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: das erste Tor, das ein Bundesligatorhüter aus dem Spiel heraus erzielte.

Datum: Freitag, 19. Dezember 1997
Ort: Westfalen-Stadion Dortmund
Partie: Borussia Dortmund - Schalke 04 2:2

Ein normales Spiel ist es eigentlich nie gewesen, doch das 108. Revier-Derby zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 stand unter ganz besonderen Vorzeichen. Erstmals und seitdem nie wieder trafen die Ruhrpott-Nachbarn als aktuelle Europapokalsieger aufeinander. Im Mai 1997 nämlich spielten Europas Könige im Westen: Schalke hatte den UEFA-Pokal, der BVB gar die Champions-League-Trophäe gewonnen. Die Messlatte lag also besonders hoch an jenem 19. Dezember 1997, an dem die gastgebende Borussia auch noch ihren 88. Geburtstag feierte.

Allerdings hatte sie ansonsten wenig zu feiern, unter Ottmar Hitzfelds Nachfolger Nevio Scala war sie dramatisch abgestürzt und ging als Tabellenzehnter in das Freitagabendspiel der Bundesliga. Schalke 04 war immerhin Fünfter und stand damals für Defensivfußball. Unter Huub Stevens stand die Null häufig, keiner hatte weniger Gegentore (16 nach 18 Spielen). Dies war mit das Verdienst von Torwart Jens Lehmann, damals 28 Jahre alt.

Doch an diesem letzten Spieltag vor der Winterpause 1997/1998 war er nicht ganz auf dem Posten, jedenfalls nicht in seiner eigentlichen Funktion als Toreverhinderer. Schon nach sieben Minuten hatte er mit einer unglücklichen Abwehr Borussias Heiko Herrlich bedient, dieser aber die Großchance zum 1:0 vergeben. Dafür sorgte dann der Russe Vladimir But nach 26 Minuten mit einem herrlichen Freistoßtreffer, den sich zumindest der ehrgeizige Lehmann selbst ankreidete: "Da sehe ich schlecht aus, das ist meine Ecke." Auch der Kicker schrieb, But habe "den falsch reagierenden Lehmann" überwunden.

Möller überlistet verärgerten Lehmann

Lange musste Lehmann also befürchten, der Sündenbock des Abends zu werden - jedenfalls für die Schalker Fans. Dann glich Denis Klujew, der Russe in Schalker Diensten, aus – nach 75 Minuten hieß es 1:1. Doch der Jubel im Gäste-Block war kaum verhallt, als wieder die Borussen feierten: Denn auch Andreas Möller überlistete Lehmann mit einem Freistoß, aus 20 Metern (79.). Trainer Huub Stevens tadelte ihn dafür, er habe "zu weit im kurzen Eck gestanden". Zu dem Zeitpunkt wusste er das noch nicht, aber auch so brodelte es in Jens Lehmann. "Wenn ich zwei Gegentore kriege, habe ich immer ein schlechtes Gewissen", erklärte Lehmann hinterher, was ihm zu dem in der Bundesliga einmaligen Ereignis, das nun folgen sollte, trieb.

Es gab aber noch einen Antreiber: Libero Olaf Thon forderte seinen Torwart auf, mit nach vorne zu kommen - und das bereits in der 80. Minute. Lehmann gehorchte, war aber überrascht: "Der hatte die Zeit wohl auch nicht im Kopf." Es war damals kein Novum mehr, dass Torhüter von zurückliegenden Mannschaften mitstürmten, jedenfalls bei Standards. Aber das Risiko, das entscheidende Tor zu kassieren, schwang stets mit, und so wurden derartige Hasardeurauftritte gewöhnlich in die allerletzten Schlussminuten verlegt. Lehmann aber war quasi ab der 80. Minute der elfte Schalker Feldspieler, spielte einen schlimmen Fehlpass auf Michael Zorc und machte seinen Patzer mit einer Glanzparade wieder gut (87.).

"Ich wusste sofort: Den Ball erwischst du"

Als es dann in der 90. Minute noch eine Ecke für Schalke gab, die Linienrichter Margenberg übrigens zu Unrecht erkannt hatte, denn Schalkes Marc Wilmots war zuletzt am Ball gewesen, eilte Jens Lehmann mit nach vorne. Er selbst erzählte von der Tat, die ihn berühmter als jede Parade machte, in dem Buch von Manni Breuckmann "50 Legendäre Szenen des Deutschen Fußballs". Ein Auszug:

"Die letzten Sekunden liefen, wir bekamen noch einmal einen Eckball. Wieder ging ich mit nach vorne. Das war ein spontaner Impuls, ich dachte, ich könnte etwas bewegen. Vorher abgesprochen war es nicht, auch dazu aufgefordert wurde ich nicht. Olaf Thon schlug die Ecke, von der rechten Seite, relativ kurz und weg vom Fünfer zu Linke, der verlängerte den Ball auf den langen Pfosten. Ich sprintete los, und ich wusste sofort: Den Ball erwischst du, den machst du rein – die Flugbahn war einfach ideal. Er kam direkt auf meinen Kopf, ich köpfte aus kurzer Distanz gegen die Laufrichtung vom Dortmunder Keeper Klos - 2:2!“

Stevens: "Heute hast du drei Tore gemacht"

Danach war Feierabend. Das 33.325. Bundesliga-Tor war das erste eines Torwarts aus dem Spiel heraus, zuvor hatten einige immerhin Elfmeter verwandelt. Übrigens auch Lehmann, der deshalb mit Andreas Köpke (zwei Treffer) zu den torgefährlichsten Keppern der Ligahistorie zählt. Unangefochten vorne ist der heutige Bayern-Keeper Hans-Jörg Butt, der 26 Elfmeter verwandelte. Vergleichbares wie Lehmann schaffte seitdem aber nur Bremens Frank Rost, der am 31. März 2002 nach einer Ecke gegen Hansa Rostock den Ausgleich beim 4:3-Sieg schoss.

In der Kabine feierten die Schalker ihren Helden mehr oder weniger herzlich. Huub Stevens knurrte: "Jens, heute hast du drei Tore gemacht." Vor der Presse witzelte er über "Lehmanns Hattrick". Die Mitspieler hingegen sangen fröhlich: "Lehmann in den Sturm." Das war in jenen Tagen nach Rückständen in der Schalker Kurve noch öfter zu hören, doch Lehmanns Husarenstreich blieb ein für ihn einmaliges Kunststück.

Was sonst noch am 20. Spieltag geschah

1969/1970: Gerd Müller trifft bei Bayerns 1:2 in Frankfurt im 16. Spiel in Folge - die längste Bundesliga-Torserie aller Zeiten.

1971/1972: Dortmund gegen Köln wird wegen eines Bombenfunds auf dem Stadiongelände abgesagt.

1976/1977: Kölns Trainer Hennes Weisweiler unterläuft der erste Wechselfehler der Bundesliga: In Frankfurt wechselt er mit Roger van Gool den dritten Ausländer ein, zwei sind nur erlaubt. Da Frankfurt 4:0 gewinnt, gibt es keinen Protest.

1979/1980: Schützenfest beim Rheinderby: Fortuna Düsseldorf gegen 1. FC Köln 3:6

1982/83: Nürnbergs Torwart Rudi Kargus hält beim VfB Stuttgart zwei Elfermeter, trotzdem setzt es eine 0:3-Niederlage.

1993/1994: Meistertrainer Christoph Daum tritt in Stuttgart nach einem 4:0 gegen Duisburg zurück.

1994/1995: Bochums Henryk Baluszynski trifft gegen Werder Bremen nach bereits 16 Sekunden.

1998/1999: Mit lediglich elf Toren wird der Minusrekord für einen Spieltag eingestellt.

2000/2001: Debütant Ferreiro Adhemar erzielt bei Stuttgarts 6:1 gegen Kaiserslautern drei Tore.

2006/2007: Verpatzte Rückkehr von Trainer Ottmar Hitzfeld - Bayern verliert in Nürnberg mit 0:3. Schalke ist nach zwei Toren von Peter Lövenkrands im Spitzenspiel bei Werder neuer Tabellenführer.

2007/2008: Luca Toni gelingt bei Bayerns 3:0 in Hannover ein echter Hattrick.

2010/2011: Dortmund nach 3:0 in Wolfsburg bei 50 Punkten - Bundesligarekord eingestellt.

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"Es geschah am 20. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: das erste Tor, das ein Bundesligatorhüter aus dem Spiel heraus erzielte.

Datum: Freitag, 19. Dezember 1997
Ort: Westfalen-Stadion Dortmund
Partie: Borussia Dortmund - Schalke 04 2:2

Ein normales Spiel ist es eigentlich nie gewesen, doch das 108. Revier-Derby zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 stand unter ganz besonderen Vorzeichen. Erstmals und seitdem nie wieder trafen die Ruhrpott-Nachbarn als aktuelle Europapokalsieger aufeinander. Im Mai 1997 nämlich spielten Europas Könige im Westen: Schalke hatte den UEFA-Pokal, der BVB gar die Champions-League-Trophäe gewonnen. Die Messlatte lag also besonders hoch an jenem 19. Dezember 1997, an dem die gastgebende Borussia auch noch ihren 88. Geburtstag feierte.

Allerdings hatte sie ansonsten wenig zu feiern, unter Ottmar Hitzfelds Nachfolger Nevio Scala war sie dramatisch abgestürzt und ging als Tabellenzehnter in das Freitagabendspiel der Bundesliga. Schalke 04 war immerhin Fünfter und stand damals für Defensivfußball. Unter Huub Stevens stand die Null häufig, keiner hatte weniger Gegentore (16 nach 18 Spielen). Dies war mit das Verdienst von Torwart Jens Lehmann, damals 28 Jahre alt.

Doch an diesem letzten Spieltag vor der Winterpause 1997/1998 war er nicht ganz auf dem Posten, jedenfalls nicht in seiner eigentlichen Funktion als Toreverhinderer. Schon nach sieben Minuten hatte er mit einer unglücklichen Abwehr Borussias Heiko Herrlich bedient, dieser aber die Großchance zum 1:0 vergeben. Dafür sorgte dann der Russe Vladimir But nach 26 Minuten mit einem herrlichen Freistoßtreffer, den sich zumindest der ehrgeizige Lehmann selbst ankreidete: "Da sehe ich schlecht aus, das ist meine Ecke." Auch der Kicker schrieb, But habe "den falsch reagierenden Lehmann" überwunden.

Möller überlistet verärgerten Lehmann

Lange musste Lehmann also befürchten, der Sündenbock des Abends zu werden - jedenfalls für die Schalker Fans. Dann glich Denis Klujew, der Russe in Schalker Diensten, aus – nach 75 Minuten hieß es 1:1. Doch der Jubel im Gäste-Block war kaum verhallt, als wieder die Borussen feierten: Denn auch Andreas Möller überlistete Lehmann mit einem Freistoß, aus 20 Metern (79.). Trainer Huub Stevens tadelte ihn dafür, er habe "zu weit im kurzen Eck gestanden". Zu dem Zeitpunkt wusste er das noch nicht, aber auch so brodelte es in Jens Lehmann. "Wenn ich zwei Gegentore kriege, habe ich immer ein schlechtes Gewissen", erklärte Lehmann hinterher, was ihm zu dem in der Bundesliga einmaligen Ereignis, das nun folgen sollte, trieb.

Es gab aber noch einen Antreiber: Libero Olaf Thon forderte seinen Torwart auf, mit nach vorne zu kommen - und das bereits in der 80. Minute. Lehmann gehorchte, war aber überrascht: "Der hatte die Zeit wohl auch nicht im Kopf." Es war damals kein Novum mehr, dass Torhüter von zurückliegenden Mannschaften mitstürmten, jedenfalls bei Standards. Aber das Risiko, das entscheidende Tor zu kassieren, schwang stets mit, und so wurden derartige Hasardeurauftritte gewöhnlich in die allerletzten Schlussminuten verlegt. Lehmann aber war quasi ab der 80. Minute der elfte Schalker Feldspieler, spielte einen schlimmen Fehlpass auf Michael Zorc und machte seinen Patzer mit einer Glanzparade wieder gut (87.).

"Ich wusste sofort: Den Ball erwischst du"

Als es dann in der 90. Minute noch eine Ecke für Schalke gab, die Linienrichter Margenberg übrigens zu Unrecht erkannt hatte, denn Schalkes Marc Wilmots war zuletzt am Ball gewesen, eilte Jens Lehmann mit nach vorne. Er selbst erzählte von der Tat, die ihn berühmter als jede Parade machte, in dem Buch von Manni Breuckmann "50 Legendäre Szenen des Deutschen Fußballs". Ein Auszug:

"Die letzten Sekunden liefen, wir bekamen noch einmal einen Eckball. Wieder ging ich mit nach vorne. Das war ein spontaner Impuls, ich dachte, ich könnte etwas bewegen. Vorher abgesprochen war es nicht, auch dazu aufgefordert wurde ich nicht. Olaf Thon schlug die Ecke, von der rechten Seite, relativ kurz und weg vom Fünfer zu Linke, der verlängerte den Ball auf den langen Pfosten. Ich sprintete los, und ich wusste sofort: Den Ball erwischst du, den machst du rein – die Flugbahn war einfach ideal. Er kam direkt auf meinen Kopf, ich köpfte aus kurzer Distanz gegen die Laufrichtung vom Dortmunder Keeper Klos - 2:2!“

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Stevens: "Heute hast du drei Tore gemacht"

Danach war Feierabend. Das 33.325. Bundesliga-Tor war das erste eines Torwarts aus dem Spiel heraus, zuvor hatten einige immerhin Elfmeter verwandelt. Übrigens auch Lehmann, der deshalb mit Andreas Köpke (zwei Treffer) zu den torgefährlichsten Keppern der Ligahistorie zählt. Unangefochten vorne ist der heutige Bayern-Keeper Hans-Jörg Butt, der 26 Elfmeter verwandelte. Vergleichbares wie Lehmann schaffte seitdem aber nur Bremens Frank Rost, der am 31. März 2002 nach einer Ecke gegen Hansa Rostock den Ausgleich beim 4:3-Sieg schoss.

In der Kabine feierten die Schalker ihren Helden mehr oder weniger herzlich. Huub Stevens knurrte: "Jens, heute hast du drei Tore gemacht." Vor der Presse witzelte er über "Lehmanns Hattrick". Die Mitspieler hingegen sangen fröhlich: "Lehmann in den Sturm." Das war in jenen Tagen nach Rückständen in der Schalker Kurve noch öfter zu hören, doch Lehmanns Husarenstreich blieb ein für ihn einmaliges Kunststück.

Was sonst noch am 20. Spieltag geschah

1969/1970: Gerd Müller trifft bei Bayerns 1:2 in Frankfurt im 16. Spiel in Folge - die längste Bundesliga-Torserie aller Zeiten.

1971/1972: Dortmund gegen Köln wird wegen eines Bombenfunds auf dem Stadiongelände abgesagt.

1976/1977: Kölns Trainer Hennes Weisweiler unterläuft der erste Wechselfehler der Bundesliga: In Frankfurt wechselt er mit Roger van Gool den dritten Ausländer ein, zwei sind nur erlaubt. Da Frankfurt 4:0 gewinnt, gibt es keinen Protest.

1979/1980: Schützenfest beim Rheinderby: Fortuna Düsseldorf gegen 1. FC Köln 3:6

1982/83: Nürnbergs Torwart Rudi Kargus hält beim VfB Stuttgart zwei Elfermeter, trotzdem setzt es eine 0:3-Niederlage.

1993/1994: Meistertrainer Christoph Daum tritt in Stuttgart nach einem 4:0 gegen Duisburg zurück.

1994/1995: Bochums Henryk Baluszynski trifft gegen Werder Bremen nach bereits 16 Sekunden.

1998/1999: Mit lediglich elf Toren wird der Minusrekord für einen Spieltag eingestellt.

2000/2001: Debütant Ferreiro Adhemar erzielt bei Stuttgarts 6:1 gegen Kaiserslautern drei Tore.

2006/2007: Verpatzte Rückkehr von Trainer Ottmar Hitzfeld - Bayern verliert in Nürnberg mit 0:3. Schalke ist nach zwei Toren von Peter Lövenkrands im Spitzenspiel bei Werder neuer Tabellenführer.

2007/2008: Luca Toni gelingt bei Bayerns 3:0 in Hannover ein echter Hattrick.

2010/2011: Dortmund nach 3:0 in Wolfsburg bei 50 Punkten - Bundesligarekord eingestellt.