Es geschah am 10. Spieltag: Das Drama um Ditmar Jakobs

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"Es geschah am 10. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: Ditmar Jakobs und der Karabinerhaken.

Datum: Mittwoch, 20. September 1989

Ort: Volkspark Stadion Hamburg

Partie: Hamburger SV – Werder Bremen 4:0

Die Bundesliga steckt Mitte der Achtziger in einer Krise, volle Stadien sind die Ausnahme. Das gilt sogar für das heute wieder so brisante Nordderby, das an jenem Mittwochabend im September nur 14.000 Zuschauer sehen wollen – so wenige wie seit 1970 nicht mehr.

HSV gegen Werder Bremen, 1989 ist es ein ganz normales Bundesligaspiel zweier schwach gestarteter Ex-Meister – 16. gegen Achter. Und doch wird man von diesem Spiel noch lange sprechen, und es wird wohl auch in keinem Rückblick fehlen, wenn die Bundesliga 100 Jahre ist. Wer dabei gewesen ist, wird sich nicht gern erinnern, und wenn es möglich wäre, würde es jeder gern rückgängig machen. An diesem Abend endete eine große Karriere auf schreckliche Weise.

Ditmar Jakobs ist bereits 36 und hätte womöglich zum Saisonende ohnehin aufgehört. Aber seinen 500. Bundesligaeinsatz hätte der Vizeweltmeister, der nach dem Finale von Mexiko City 1986 auf dem unverhofften Höhepunkt aus der Nationalelf zurückgetreten ist, gern noch gemacht. Und wäre dann im Mai im Sonnenschein mit einem Strauß Blumen und freundlichem Beifall von den Rängen abgetreten. Aber es kommt anders.

Es läuft die 14. Minute, es läuft der Bremer Wynton Rufer allein aufs HSV-Tor zu. Torwart Richard Golz wird überlupft, die Werder-Fans wollen schon jubeln – da rauscht Ditmar Jakobs heran. So wie man ihn seit 15 Jahren kennt in der Bundesliga: kompromisslos, resolut und ohne Rücksicht auf Verluste. Jakobs, einer der letzten Ausputzer des Fußballs, schlägt den Ball von der Linie. Er selbst landet im Tor, vom eigenen Schwung mitgerissen, zappelt er im Netz.

Die HSV-Fans applaudieren, eine Großtat des alten Recken. Nun könnte er langsam wieder aufstehen. Aber Jakobs steht nicht auf. Eine teuflische Laune des Schicksals fesselt ihn an den Boden. Ein Karabinerhaken, der das Netz in der Erde hält, ist aufgeschnappt, hat sich vier Zentimeter tief in seinen Rücken gebohrt und gibt ihn nicht mehr her. "Ich hing irgendwo fest, tastete mein Rücken ab und fühlte das Tornetz, aber auch kaltes Metall. Unter Schock fühlte ich noch keinen Schmerz", erinnert sich der Verteidiger in einem NDR-Interview 20 Jahre später – und vermutlich auch ein Leben lang.

Jakobs liegt apathisch am Boden, er wird ohnmächtig. Helfer eilen herbei: Masseur Hermann Rieger und Vereinsarzt Dr. Fielker stehen vor einem Problem, das es noch nie gegeben hat. "Es war sehr schlimm, wir zeigen ihnen nicht alles. Wir verzichten auf Nahaufnahmen", sagt ZDF-Reporter Rolf Töpperwien am späten Abend den Zuschauern. Zunächst wird versucht, Jakobs mit der Hand zu befreien, auch wird das Netz an der Unglücksstelle zerschnitten. 25 Minuten lang ist an Fußball nicht zu denken, Schiedsrichter Wolfgang Mierswa hat die Partie natürlich unterbrochen.

Während die Zuschauer noch rätseln, was passiert sein könnte, hat Bremens Trainer Otto Rehhagel den Überblick. Er zeigt seinen Spielern auf der Ersatzbank mit dem Finger an: Er hat was im Rücken. Die Retter greifen derweil zum Äußersten: Eine Flex-Maschine wird geholt, um den Haken zu zerschneiden, doch beim ersten Versuch bricht die Scheibe. Jakobs ist es recht, denn er fürchtet, das synthetische Trikot könne Feuer fangen. So bittet er Teamarzt Gerold Schwarz, ihn mit einem Skalpell herauszuschneiden. Nach 21 endlosen Minuten gelingt die Befreiung, ein Krankenwagen hält hinter dem Tor. Unter dem Beifall der geschockten Zuschauer wird er abtransportiert, und an der Anzeigetafel steht: "Wir wünschen Ditmar Jakobs gute Besserung!"

Nach Abpfiff des Spiels, bei dem die HSV-Fans vier Tore und einen Sieg bejubeln können, kommt noch eine scheinbar gute Nachricht über das Stadionmikrofon: "Ditmar Jakobs geht es wieder gut", schallt es um 21.55 Uhr durch den Volkspark. Es ist ein fataler Irrtum, dem auch Jakobs aufgesessen ist: "In zwei Wochen spiele ich wieder", verkündet er noch aus dem Krankenhaus voller Zuversicht.

Doch es kommt anders: Der Schnitt mit dem Skalpell hat irreparable Folgen. Lassen wir Jakobs selbst sprechen: "Bei den weiteren Untersuchungen stellte sich heraus, dass bei der Rettungsaktion mehrere Dornfortsätze der Wirbel abgeschlagen und wichtige Nerven durchtrennt worden waren, drei Zentimeter von der Wirbelsäule entfernt. Eine vollständige Regeneration der Nervenbahnen stellte sich nicht ein, Schmerzen und die gestörte Motorik blieben. Meine Laufbahn war durch den Karabinerhaken plötzlich beendet worden."

Bis heute hat der jetzt als Versicherungsmakler tätige Jakobs Schmerzen, "doch ich habe gelernt, mit ihnen zu leben". Etwas jedoch hat sich geändert: Der HSV verbannt mit jenem Tag die Karabinerhaken aus seinen Toren. Nach einer Umfrage bei allen Bundesligisten befestigt er seine Netze fortan nur noch mit Schnüren.

Was sonst am 10. Spieltag geschah

1963/1964: Kaiserslautern gegen VfB Stuttgart 1:3: Drei Eigentore sind noch immer Bundesligarekord. Kaiserslauterns Dieter Pulter fabriziert zwei, Rudi Entenmann (VfB) eines.

1972/1973: Spielabbruch in Braunschweig nach 45 Minuten wegen Nebels beim Stand von 3:0 gegen Eintracht Frankfurt.

1974/1975: Kickers Offenbach schlägt Meister Mönchengladbach mit 4:3, OFC-Stürmer Erwin Kostedde erzielt das Tor des Jahres.

1978/1979: Nach 28 Spielen wieder ein Auswärtssieg der Bayern: 2:0 in Bielefeld.

1979/1980: 1. FC Köln gegen Eintracht Braunschweig 8:0, der bis dato höchste Kölner Heimsieg. Vier Tore schießt Dieter Müller.

1980/1981: Trainer Rinus Michels gibt sein Debüt beim 1. FC Köln und gewinnt 4:0 gegen den Karlsruher SC.

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1987/1988: Schwarzer Tag für den HSV: Er verliert in Mönchengladbach mit 2:8. HSV-Torwart Mladen Pralija wird ausgewechselt.

1997/1998: Rot-Rekord in der Bundesliga: Bayerns Markus Babbel fliegt gegen Stuttgart nach vier Minuten vom Platz.

1998/1999: Schützenfest am Bökelberg: Leverkusen gewinnt in Mönchengladbach 8:2 und stellt einen neuen Bundesligarekord auf.

2005/2006: Bielefeld gewinnt in Nürnberg 3:2 durch zwei Tore in den letzten beiden Minuten.

2007/2008: Ivica Olic vom HSV glückt gegen Meister VfB Stuttgart ein Hattrick beim 4:1-Heimsieg.

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"Es geschah am 10. Spieltag": In der DFB.de-Serie am Donnerstag blickt der Historiker und Autor Udo Muras zurück auf ein besonderes Ereignis am jeweiligen Spieltag einer früheren Saison. Heute: Ditmar Jakobs und der Karabinerhaken.

Datum: Mittwoch, 20. September 1989

Ort: Volkspark Stadion Hamburg

Partie: Hamburger SV – Werder Bremen 4:0

Die Bundesliga steckt Mitte der Achtziger in einer Krise, volle Stadien sind die Ausnahme. Das gilt sogar für das heute wieder so brisante Nordderby, das an jenem Mittwochabend im September nur 14.000 Zuschauer sehen wollen – so wenige wie seit 1970 nicht mehr.

HSV gegen Werder Bremen, 1989 ist es ein ganz normales Bundesligaspiel zweier schwach gestarteter Ex-Meister – 16. gegen Achter. Und doch wird man von diesem Spiel noch lange sprechen, und es wird wohl auch in keinem Rückblick fehlen, wenn die Bundesliga 100 Jahre ist. Wer dabei gewesen ist, wird sich nicht gern erinnern, und wenn es möglich wäre, würde es jeder gern rückgängig machen. An diesem Abend endete eine große Karriere auf schreckliche Weise.

Ditmar Jakobs ist bereits 36 und hätte womöglich zum Saisonende ohnehin aufgehört. Aber seinen 500. Bundesligaeinsatz hätte der Vizeweltmeister, der nach dem Finale von Mexiko City 1986 auf dem unverhofften Höhepunkt aus der Nationalelf zurückgetreten ist, gern noch gemacht. Und wäre dann im Mai im Sonnenschein mit einem Strauß Blumen und freundlichem Beifall von den Rängen abgetreten. Aber es kommt anders.

Es läuft die 14. Minute, es läuft der Bremer Wynton Rufer allein aufs HSV-Tor zu. Torwart Richard Golz wird überlupft, die Werder-Fans wollen schon jubeln – da rauscht Ditmar Jakobs heran. So wie man ihn seit 15 Jahren kennt in der Bundesliga: kompromisslos, resolut und ohne Rücksicht auf Verluste. Jakobs, einer der letzten Ausputzer des Fußballs, schlägt den Ball von der Linie. Er selbst landet im Tor, vom eigenen Schwung mitgerissen, zappelt er im Netz.

Die HSV-Fans applaudieren, eine Großtat des alten Recken. Nun könnte er langsam wieder aufstehen. Aber Jakobs steht nicht auf. Eine teuflische Laune des Schicksals fesselt ihn an den Boden. Ein Karabinerhaken, der das Netz in der Erde hält, ist aufgeschnappt, hat sich vier Zentimeter tief in seinen Rücken gebohrt und gibt ihn nicht mehr her. "Ich hing irgendwo fest, tastete mein Rücken ab und fühlte das Tornetz, aber auch kaltes Metall. Unter Schock fühlte ich noch keinen Schmerz", erinnert sich der Verteidiger in einem NDR-Interview 20 Jahre später – und vermutlich auch ein Leben lang.

Jakobs liegt apathisch am Boden, er wird ohnmächtig. Helfer eilen herbei: Masseur Hermann Rieger und Vereinsarzt Dr. Fielker stehen vor einem Problem, das es noch nie gegeben hat. "Es war sehr schlimm, wir zeigen ihnen nicht alles. Wir verzichten auf Nahaufnahmen", sagt ZDF-Reporter Rolf Töpperwien am späten Abend den Zuschauern. Zunächst wird versucht, Jakobs mit der Hand zu befreien, auch wird das Netz an der Unglücksstelle zerschnitten. 25 Minuten lang ist an Fußball nicht zu denken, Schiedsrichter Wolfgang Mierswa hat die Partie natürlich unterbrochen.

Während die Zuschauer noch rätseln, was passiert sein könnte, hat Bremens Trainer Otto Rehhagel den Überblick. Er zeigt seinen Spielern auf der Ersatzbank mit dem Finger an: Er hat was im Rücken. Die Retter greifen derweil zum Äußersten: Eine Flex-Maschine wird geholt, um den Haken zu zerschneiden, doch beim ersten Versuch bricht die Scheibe. Jakobs ist es recht, denn er fürchtet, das synthetische Trikot könne Feuer fangen. So bittet er Teamarzt Gerold Schwarz, ihn mit einem Skalpell herauszuschneiden. Nach 21 endlosen Minuten gelingt die Befreiung, ein Krankenwagen hält hinter dem Tor. Unter dem Beifall der geschockten Zuschauer wird er abtransportiert, und an der Anzeigetafel steht: "Wir wünschen Ditmar Jakobs gute Besserung!"

Nach Abpfiff des Spiels, bei dem die HSV-Fans vier Tore und einen Sieg bejubeln können, kommt noch eine scheinbar gute Nachricht über das Stadionmikrofon: "Ditmar Jakobs geht es wieder gut", schallt es um 21.55 Uhr durch den Volkspark. Es ist ein fataler Irrtum, dem auch Jakobs aufgesessen ist: "In zwei Wochen spiele ich wieder", verkündet er noch aus dem Krankenhaus voller Zuversicht.

Doch es kommt anders: Der Schnitt mit dem Skalpell hat irreparable Folgen. Lassen wir Jakobs selbst sprechen: "Bei den weiteren Untersuchungen stellte sich heraus, dass bei der Rettungsaktion mehrere Dornfortsätze der Wirbel abgeschlagen und wichtige Nerven durchtrennt worden waren, drei Zentimeter von der Wirbelsäule entfernt. Eine vollständige Regeneration der Nervenbahnen stellte sich nicht ein, Schmerzen und die gestörte Motorik blieben. Meine Laufbahn war durch den Karabinerhaken plötzlich beendet worden."

Bis heute hat der jetzt als Versicherungsmakler tätige Jakobs Schmerzen, "doch ich habe gelernt, mit ihnen zu leben". Etwas jedoch hat sich geändert: Der HSV verbannt mit jenem Tag die Karabinerhaken aus seinen Toren. Nach einer Umfrage bei allen Bundesligisten befestigt er seine Netze fortan nur noch mit Schnüren.

Was sonst am 10. Spieltag geschah

1963/1964: Kaiserslautern gegen VfB Stuttgart 1:3: Drei Eigentore sind noch immer Bundesligarekord. Kaiserslauterns Dieter Pulter fabriziert zwei, Rudi Entenmann (VfB) eines.

1972/1973: Spielabbruch in Braunschweig nach 45 Minuten wegen Nebels beim Stand von 3:0 gegen Eintracht Frankfurt.

1974/1975: Kickers Offenbach schlägt Meister Mönchengladbach mit 4:3, OFC-Stürmer Erwin Kostedde erzielt das Tor des Jahres.

1978/1979: Nach 28 Spielen wieder ein Auswärtssieg der Bayern: 2:0 in Bielefeld.

1979/1980: 1. FC Köln gegen Eintracht Braunschweig 8:0, der bis dato höchste Kölner Heimsieg. Vier Tore schießt Dieter Müller.

1980/1981: Trainer Rinus Michels gibt sein Debüt beim 1. FC Köln und gewinnt 4:0 gegen den Karlsruher SC.

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1987/1988: Schwarzer Tag für den HSV: Er verliert in Mönchengladbach mit 2:8. HSV-Torwart Mladen Pralija wird ausgewechselt.

1997/1998: Rot-Rekord in der Bundesliga: Bayerns Markus Babbel fliegt gegen Stuttgart nach vier Minuten vom Platz.

1998/1999: Schützenfest am Bökelberg: Leverkusen gewinnt in Mönchengladbach 8:2 und stellt einen neuen Bundesligarekord auf.

2005/2006: Bielefeld gewinnt in Nürnberg 3:2 durch zwei Tore in den letzten beiden Minuten.

2007/2008: Ivica Olic vom HSV glückt gegen Meister VfB Stuttgart ein Hattrick beim 4:1-Heimsieg.