EM 2012: Auf Umwegen zum Ruhm

EM 1980: Durchbruch der Talente

Vor der Endrunde 1980 in Italien waren die Erwartungen nicht ganz so euphorisch. Durch die Qualifikation war die Auswahl des neuen Bundestrainers Jupp Derwall zwar wie zuvor bei Schön und jetzt bei Joachim Löw ungeschlagen, aber nicht ohne blaue Flecken, gekommen. Der Umbruch nach der WM-Enttäuschung 1978, nach der nur sieben Nationalspieler im Kader blieben, forderte seinen Tribut. Im Frühjahr 1979 standen Nullnummern auf Malta und in der Türkei. Auf Schlüsselpositionen herrschte lange Unklarheit: Nach Sepp Maiers Autounfall im Juli 1979 testete Derwall drei Torhüter und erst der letzte, Toni Schumacher vom 1. FC Köln, machte das Rennen. Mit der „Erfahrung“ von drei Länderspielen flog er als neue Nummer 1 nach Italien. Der Abwehrchef wurde lange gesucht, auch weil Ulli Stielike bei Real Madrid spielte und es keine Verpflichtung zur Freigabe gab. So ließ Real-Trainer Boskov Stielike nicht zum wichtigen Heimspiel gegen Wales, schrieb Derwall aber: „Ich gebe allerdings die Zusage, dass Stielike zur EM-Endrunde in Italien freigestellt wird.“ Derwall trocken: „Den Brief hebe ich mir auf!“ Andere Zeiten.

Aus der Not, die durch den Beinbruch von Mittelstürmer Klaus Fischer noch größer zu werden schien, machte Derwall im Frühjahr 1980 eine Jugend. Die international führende Bundesliga produzierte Talente am Fließband – wie heute. Viele von Derwalls Fixsternen waren unter 25: Vorstopper Karl-Heinz Förster (21), Mittelfeldrackerer Hans-Peter Briegel (24), die Spielmacher Bernd Schuster (20) und Hansi Müller (22) sowie die Stürmer Klaus Allofs (23) und Karl-Heinz Rummenigge (24) waren allesamt noch titelhungrig. Geführt wurden sie von den Leitwölfen Bernard Dietz und Ulli Stielike. Selten soll die Kameradschaft in der Nationalmannschaft besser gewesen sein als in jenen Monaten anno 1980, und das war auch auf dem Platz zu sehen. Nach dem 3:1 über die Polen im Mai attestierte der „Kicker“ auf Seite 1: „Unsere Nationalelf ist für die EM gerüstet.“ Dort wurde die jüngste Mannschaft des Turniers (Altersdurchschnitt 25,06) prompt Europameister. Die entscheidenden Tore im Finale erzielte Fischer-Vertreter Horst Hrubesch, der in der Qualifikation noch gar nicht dabei gewesen war.

Höhenflug mit vielen Persönlichkeiten

Die dritten deutschen Europameister im Jahr 1996 hatten zu Beginn der Qualifikation eine schwere Bürde zu tragen. Das WM-Aus 1994 in den USA bereits im Viertelfinale nahm die Heimat der Mannschaft krumm. Doch Bundestrainer Berti Vogts steuerte das Team mit nur einer Niederlage durch die Qualifikation. Die Pfiffe nach einem 2:1 über Albanien Ende 1994 wichen euphorischem Beifall nach dem Abschluss gegen die Bulgaren in Berlin (3:1). Vogts blieb dennoch zurückhaltend, als die England-Tickets im November 1995 gelöst waren: „Wir haben erst 60, 70 Prozent ausgeschöpft und müssen uns noch steigern, wenn wir die Vorrunde überstehen wollen.“ Aber die Stimmung war bei annähernd 100 Prozent im Land. „Die Nationalmannschaft hat jetzt den Stellenwert, der ihr gebührt“, sagte Matthias Sammer, eine von vielen starken Persönlichkeiten des kommenden Europameisters. Das Besondere an jener Mannschaft: Es gab keinen absoluten Chef. Dafür hatte sie mehrere Köpfe (Klinsmann, Sammer, Helmer). „Wir hatten sehr viele Persönlichkeiten dabei, die in ihren Vereinen Kapitäne oder Stellvertreter waren“, erklärte Stürmer Stefan Kuntz später die mentale Stabilität jenes Teams.

Und wieder erwies sich eine Blockbildung von Vorteil, die stark an die Gegenwart erinnert. Acht Spieler von Bayern München und sechs von Meister Borussia Dortmund kamen in der Qualifikation zum Einsatz und bildeten das Herz der Mannschaft. Die Rivalität der beiden Top-Klubs im Bundesliga-Alltag war kein Hindernis: Der damalige Münchner Thomas Strunz: „Trotz aller Rivalität war die Zusammenarbeit sehr respektvoll, wir wollten am Ende alle gewinnen.“ Und das Reservoir war groß: 25 Spieler setzte Vogts in der Qualifikation ein, vier weniger als Löw jetzt. Aber der Matchwinner im Finale von Wembley wurde erst zwei Monate vorher ein Teil dieser Mannschaft: Oliver Bierhoff sprang noch im April auf den EM-Zug auf. Das erinnerte an 1980 (Hrubesch). Vogts folgte 1996 übrigens dem Rat seiner Frau, als sie durch Venedig gondelten: „Nimm' den Oliver mit, er wird es Dir danken.“ Und noch ein Unterschied zur Gegenwart: Mit 28,41 Jahren im Schnitt war es damals die älteste Mannschaft, die den DFB je bei einem Turnier vertrat. Man sieht: Viele Wege führen zum Ruhm.

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Deutschland 2012 Europameister – ein wunderbarer Traum nach 16 Jahren ohne Titel. Bis zum Turnier vergehen aber noch einige Monate. Eine Zeit, in der noch viel passieren kann. Und die Vergangenheit hat gezeigt, wie wichtig die Vorbereitung ist. Der Historiker Udo Muras vergleicht die drei Wege zum Ruhm und erkennt verblüffende Parallelen zur Gegenwart.

1972 hatte Deutschland nach allgemeiner Ansicht die beste Mannschaft aller Zeiten. Wie Löws Auswahl 2010 hatte auch die Mannschaft von Helmut Schön die vorhergehende WM auf einem fremden Kontinent mit dem dritten Platz beendet und die Fachwelt in Mexiko begeistert. Spiele wie das 3:2 gegen England und das 3:4 gegen Italien sind ebenso in die Klassikersammlung der DFB-Historie eingezogen wie 2010 das 4:1 (wieder) gegen England und das 4:0 gegen Argentinien. Doch 1970/1971 ging es nicht so glatt weiter wie 2010/11. Im ersten EM-Qualifikationsspiel erntete die Schön-Elf Pfiffe nach einem 1:1 gegen die Türkei. Und auch die Generation Beckenbauer/Netzer hatte ihre liebe Mühe mit Albanien, nur ein Tor von Gerd Müller verhinderte einen weiteren Ausrutscher in Tirana, wo 1967 (0:0) schon einmal ein EM-Traum vorzeitig geplatzt war.

Blockbildung vor der EM 1972

Der Aufschwung setzte Mitte 1971 ein, als Franz Beckenbauer vom Mittelfeldspieler zum Libero umfunktioniert wurde – erstmals Ende April beim 3:0 in Istanbul. Und als immer mehr Talente des Deutschen Meisters, auch einer Borussia, und der Bayern in die Nationalelf drängten. An jenem Tag von Istanbul war das erste Mal seit Bern 1954, als fünf Kaiserslauterer Weltmeister wurden, wieder von Blockbildung die Rede – wobei es nun aber zwei Blöcke waren. Es spielten fünf Mönchengladbacher und drei Münchner. Auf der Skandinavien-Reise 1971 kamen zwei junge Münchner Himmelsstürmer hinzu, die zusammen in einer WG wohnten: der Verteidiger Paul Breitner und der Stürmer Uli Hoeneß. Sie nutzten ihre Chance, für den „Kicker“ war Breitner „die Entdeckung des Jahres“ 1971.

Neue Alternativen – und ein altes Problem löste sich von selbst. Ähnlich wie Joachim Löw hatte Bundestrainer Helmut Schön in der Kreativzentrale ein Luxusproblem: Overath oder Netzer? Diese Frage beschäftigte den „Mann mit der Mütze“ über seine halbe Amtszeit. Schön experimentierte und stellte Netzer gegen Albanien in den Sturm, aber es funktionierte nicht richtig. Beide konnten nur Spielmacher sein, und miteinander ging es bei aller gegenseitigen Sympathie nicht.

Mythischer erster Sieg in Wembley

Das Schicksal nahm Schön damals die Entscheidung ab, Overath fiel wegen einer Leisten-OP Anfang 1972 aus. Er verpasste die legendären Viertelfinalspiele gegen England, darunter den mythischen ersten Sieg in Wembley (3:1). Es galt und gilt für viele Experten als bestes deutsches Länderspiel, auch in der Karriere von Netzer. Die Spielkunst, die die DFB-Auswahl an jenem 29. April 1972 entfaltete, hob sie schlagartig auf den Favoritenschild. Bis nach Brasilien schwappten die Wogen der Begeisterung: „Was haben die Deutschen nur für eine herrliche ausgeglichene Mannschaft!“, kommentierte „O Globo“. Und eine mexikanische Zeitung stellte neidvoll eine Frage, die sich heute auch wieder so mancher stellt: „Wo nimmt der Bundestrainer nur immer wieder solche Spieler her?“

Vier Wochen später feierte Deutschland ein weiteres Fußballfest. Zur Eröffnung des Münchner Olympiastadions wurde am 26. Mai die UdSSR 4:1 besiegt. Gerd Müller schoss alle Tore und der „Kicker“ titelte euphorisch: „Diese Elf kann alle schlagen!“ Der Trainer des Halbfinalgegners Belgien, Raymond Goethals, sagte unter dem Eindruck von München: „Ich habe den europäischen Meister und den Weltmeister 1974 gesehen. Die belgische Mannschaft hat in Antwerpen überhaupt keine Chance.“ Er sollte in jedem Punkt Recht bekommen. Schön konnte es sich gegen Belgien und im Finale gegen die UdSSR leisten, einen Overath auf Abruf zu Hause und den angeschlagenen Berti Vogts auf der Bank zu lassen. Dennoch: Eine spielerisch glänzende Nationalmannschaft, aus zwei Blöcken (sechs Bayern, drei Borussen) bestehend, fuhr als klarer Favorit zu einer Endrunde und gewann den Titel äußerst souverän. Ein gutes Omen.

EM 1980: Durchbruch der Talente

Vor der Endrunde 1980 in Italien waren die Erwartungen nicht ganz so euphorisch. Durch die Qualifikation war die Auswahl des neuen Bundestrainers Jupp Derwall zwar wie zuvor bei Schön und jetzt bei Joachim Löw ungeschlagen, aber nicht ohne blaue Flecken, gekommen. Der Umbruch nach der WM-Enttäuschung 1978, nach der nur sieben Nationalspieler im Kader blieben, forderte seinen Tribut. Im Frühjahr 1979 standen Nullnummern auf Malta und in der Türkei. Auf Schlüsselpositionen herrschte lange Unklarheit: Nach Sepp Maiers Autounfall im Juli 1979 testete Derwall drei Torhüter und erst der letzte, Toni Schumacher vom 1. FC Köln, machte das Rennen. Mit der „Erfahrung“ von drei Länderspielen flog er als neue Nummer 1 nach Italien. Der Abwehrchef wurde lange gesucht, auch weil Ulli Stielike bei Real Madrid spielte und es keine Verpflichtung zur Freigabe gab. So ließ Real-Trainer Boskov Stielike nicht zum wichtigen Heimspiel gegen Wales, schrieb Derwall aber: „Ich gebe allerdings die Zusage, dass Stielike zur EM-Endrunde in Italien freigestellt wird.“ Derwall trocken: „Den Brief hebe ich mir auf!“ Andere Zeiten.

Aus der Not, die durch den Beinbruch von Mittelstürmer Klaus Fischer noch größer zu werden schien, machte Derwall im Frühjahr 1980 eine Jugend. Die international führende Bundesliga produzierte Talente am Fließband – wie heute. Viele von Derwalls Fixsternen waren unter 25: Vorstopper Karl-Heinz Förster (21), Mittelfeldrackerer Hans-Peter Briegel (24), die Spielmacher Bernd Schuster (20) und Hansi Müller (22) sowie die Stürmer Klaus Allofs (23) und Karl-Heinz Rummenigge (24) waren allesamt noch titelhungrig. Geführt wurden sie von den Leitwölfen Bernard Dietz und Ulli Stielike. Selten soll die Kameradschaft in der Nationalmannschaft besser gewesen sein als in jenen Monaten anno 1980, und das war auch auf dem Platz zu sehen. Nach dem 3:1 über die Polen im Mai attestierte der „Kicker“ auf Seite 1: „Unsere Nationalelf ist für die EM gerüstet.“ Dort wurde die jüngste Mannschaft des Turniers (Altersdurchschnitt 25,06) prompt Europameister. Die entscheidenden Tore im Finale erzielte Fischer-Vertreter Horst Hrubesch, der in der Qualifikation noch gar nicht dabei gewesen war.

Höhenflug mit vielen Persönlichkeiten

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Die dritten deutschen Europameister im Jahr 1996 hatten zu Beginn der Qualifikation eine schwere Bürde zu tragen. Das WM-Aus 1994 in den USA bereits im Viertelfinale nahm die Heimat der Mannschaft krumm. Doch Bundestrainer Berti Vogts steuerte das Team mit nur einer Niederlage durch die Qualifikation. Die Pfiffe nach einem 2:1 über Albanien Ende 1994 wichen euphorischem Beifall nach dem Abschluss gegen die Bulgaren in Berlin (3:1). Vogts blieb dennoch zurückhaltend, als die England-Tickets im November 1995 gelöst waren: „Wir haben erst 60, 70 Prozent ausgeschöpft und müssen uns noch steigern, wenn wir die Vorrunde überstehen wollen.“ Aber die Stimmung war bei annähernd 100 Prozent im Land. „Die Nationalmannschaft hat jetzt den Stellenwert, der ihr gebührt“, sagte Matthias Sammer, eine von vielen starken Persönlichkeiten des kommenden Europameisters. Das Besondere an jener Mannschaft: Es gab keinen absoluten Chef. Dafür hatte sie mehrere Köpfe (Klinsmann, Sammer, Helmer). „Wir hatten sehr viele Persönlichkeiten dabei, die in ihren Vereinen Kapitäne oder Stellvertreter waren“, erklärte Stürmer Stefan Kuntz später die mentale Stabilität jenes Teams.

Und wieder erwies sich eine Blockbildung von Vorteil, die stark an die Gegenwart erinnert. Acht Spieler von Bayern München und sechs von Meister Borussia Dortmund kamen in der Qualifikation zum Einsatz und bildeten das Herz der Mannschaft. Die Rivalität der beiden Top-Klubs im Bundesliga-Alltag war kein Hindernis: Der damalige Münchner Thomas Strunz: „Trotz aller Rivalität war die Zusammenarbeit sehr respektvoll, wir wollten am Ende alle gewinnen.“ Und das Reservoir war groß: 25 Spieler setzte Vogts in der Qualifikation ein, vier weniger als Löw jetzt. Aber der Matchwinner im Finale von Wembley wurde erst zwei Monate vorher ein Teil dieser Mannschaft: Oliver Bierhoff sprang noch im April auf den EM-Zug auf. Das erinnerte an 1980 (Hrubesch). Vogts folgte 1996 übrigens dem Rat seiner Frau, als sie durch Venedig gondelten: „Nimm' den Oliver mit, er wird es Dir danken.“ Und noch ein Unterschied zur Gegenwart: Mit 28,41 Jahren im Schnitt war es damals die älteste Mannschaft, die den DFB je bei einem Turnier vertrat. Man sieht: Viele Wege führen zum Ruhm.