Ein Plädoyer fürs Ehrenamt: Karl-Heinz Hallemanns Leben für Germania

von Peter Wenig

Der kleine Fußball ist in Deutschland riesengroß. In fast 26.000 Vereinen wird unter dem Dach des DFB Fußball gespielt. Und das nur dank der etwa 1,7 Millionen Ehrenamtler, die sich pro Jahr in Fußballclubs engagieren. In der DFB-Serie Heimliche Helden rücken jene Persönlichkeiten aus der Basis einmal in den Mittelpunkt. Diesmal stellen wir Ihnen Karl-Heinz Hallemann vor, der als Ehrenamtlicher für den Hamburger Verein Germania Schnelsen aktiv ist. Seit fast 60 Jahren.

60 Jahre Ehrenamt

Behutsam nimmt Jörg Wohlgemuth das gerahmte Schwarz-Weiß-Foto von der Wand mit all den Pokalen und Urkunden, wischt mit dem Hemdärmel über das Glas und tippt auf den Herrn links im dunklen Anzug. "Ja, das ist der Heiner", sagt der Vereinschef von Germania Schnelsen dann. Kerzengerade steht Karl-Heinz Hallemann da und schaut mit strengem Lehrerblick auf seine Spieler in weißen Trikots mit Schnürkragen. Ist es der feine Zwirn? Oder sind es die deutlichen Geheimratsecken im dunklen Haar? Der Trainer sieht jedenfalls viel älter aus als seine Spieler. Dabei war er gerade 28 Jahre alt, als das Bild im Mai 1962 entstand.

Für Schnelsen war der Aufstieg in die Amateurliga ein historischer Sieg, die Meisternacht im benachbarten Hotel Zeppelin endete im Morgengrauen. Mittendrin der damals jüngste Meistermacher Hamburgs, ein Trainer ohne Schein. Für den Lehrgang hatte Hallemann keine Zeit, der Beruf war wichtiger. "Sie haben ja gezeigt, dass Sie das können", sagte Ausbilder und HSV-Trainer Martin Wilke und gab ihm den Schein ohne Prüfung.

Fünf Jahrzehnte nach der Verbandsliga-Meisterschaft trägt Hallemann braunen Cord und grauen Pullover. Wache blaue Augen, noch immer kerzengerader Gang - jetzt mag man es kaum glauben, dass er am 13. Juli seinen 80. Geburtstag feiern wird. Für ihn wird es in doppelter Hinsicht ein besonderer Tag. Denn seine Feier im Clubheim am Königskinderweg soll auch der Schlusspunkt einer fast 60-jährigen Germania-Karriere sein. Hallemann war Spieler, Trainer, Vorstand, Jugendleiter - eigentlich alles. Ein Fußballer-Leben abseits von Schlagzeilen, bunten Bildern und Twitter-Nachrichten, die der nur neun Kilometer entfernte HSV fast im Minutentakt in die glitzernde Profibranche sendet. Und doch ein Fußballer-Leben von ganz vielen. Denn eine Million Ehrenamtliche arbeiten für den deutschen Fußball.

Offizielle Verabschiedung am 13. Juli

Am 13. Juli also wird Hallemann, den sie alle nur Heiner nennen, offiziell verabschiedet. Germanias Vereinschef wird wehmütig, wenn er an diesen Tag denkt. "Der Heiner", sagt Wohlgemuth, "der ist nicht zu ersetzen. Der hat sich doch all die Jahre um alles gekümmert." Diese Sätze sind ihm so wichtig, dass er extra im Blaumann auf einen Sprung ins Clubhaus gekommen ist, obwohl in seiner Autowerkstatt in Stellingen richtig viel zu tun ist. Hallemann ist das Lob peinlich: "Nun lass mal gut sein, Jörg!"

Große Reden waren ohnehin nie seine Sache. "Ich bin eher der Typ, der anpackt." Nicht lang schnacken, machen. Seine Kindheit stahlen die Nazis. Mit gerade acht muss er 1941 Hamburg verlassen, raus aus dem Bombenhagel über der Hansestadt. "Mein Bruder und ich sind mit einem Köfferchen zum Bahnhof Altona, mit einem großen Namensschild um den Hals." Der Zug bringt die Jungs ins bayerische Kronach zu Pflegeltern. Heimweh? Hallemann zuckt mit den Schultern: "Ich weiß es nicht mehr. Und die Pflegeeltern waren ja auch gut zu uns." Vom Tod seines Vaters, an schwerer Tuberkulose erkrankt, erfährt er nur, weil er im Kohleherd ein paar Fetzen Papier entdeckt. Es ist der Brief der Mutter an ihre Söhne mit der traurigen Nachricht. Die Pflegeeltern wollten ihn verbrennen, um den Brüdern die Hiobsbotschaft zu ersparen.

Erst 1947 kehrt Karl-Heinz Hallemann mit seinem Bruder ins zerstörte Hamburg zurück. Die Kinder gehen wieder zur Schule, sammeln Trümmersteine für Schrebergärtner und spielen in jeder freien Minute Fußball. Die ersten Fußballstiefel mit Stahlkappe schwatzt Hallemann einem Besatzungssoldaten ab. Er lernt Kühlerklempner wie der Vater - und kickt für den HEBC, den Hamburg-Eimsbütteler Ballspiel-Club. Ein Spätsommertag 1954 ändert seine Karriere - und sein Leben. Hallemann findet bei einem Auswärtsspiel für den HEBC in Schnelsen im doppelten Sinn seine große Liebe. Die Helga. Und die Germania.

Riekbornweg - dort beginnt es

Hallemann schreitet über den Platz am Riekbornweg, auf dem vor 59 Jahren alles begann. Wo früher harter Grand für blutige Schrammen bei Grätschen sorgte, liegt jetzt ein sattgrüner Kunstrasenteppich. Mit dem Stolz eines Besitzers führt Hallemann über die Anlage, tippt auf die überdachten roten Kunststoffschalensitze für die Ersatzspieler, zeigt auf den Boden, wo die Stromleitungen für das Flutlicht verbuddelt wurden. Alles picobello, als ehrenamtlicher Bauleiter hat er schließlich darauf geachtet, dass beim Umbau nicht gepfuscht wurde. Als er auf die Betonstufen des alten Vereinsheim deutet - inzwischen Heimat eines Schachclubs -, wird seine Stimme weicher. "Genau hier", sagt er, "habe ich meine Helga nach unserem Auswärtsspiel das erste Mal gesehen." Die dritte Halbzeit im Germania-Vereinsheim, damals wurde noch nach jedem Meisterschaftsspiel mit den Gegnern gefeiert, bedeutete für Hallemann die große Zäsur. Neue Liebe, neuer Verein, neue Heimat.

Diese liegt seit der Hochzeit im März 1960 ein paar Freistöße entfernt am Radewisch, einer kleinen Seitenstraße im Herzen von Schnelsen. Der Rasen hinter dem weißen Putzbau und dem dunklen Jägerzaun ist so akkurat geschnitten, als würde er täglich mit der Nagelschere gepflegt. Helga Hallemann serviert einen Berg Butterkuchen: "Bedienen Sie sich, bei uns ist noch keiner hungrig aus dem Haus gegangen." Bedächtig kramt ihr Mann unterdessen in einer Kiste mit alten Schwarz-Weiß-Fotos, Dokumente eines Fußballer-Lebens. Natürlich sind die Bilder vom großen Tag der Meisterschaft 1962 dabei.

Quasi über Nacht war vor der Saison aus dem Spieler Hallemann der Trainer Hallemann geworden. "Wir sind damals als Mannschaft zum Vorstand marschiert und haben gesagt, dass ein Wechsel gut wäre", sagt Hallemann. Der alte Übungsleiter habe einfach nicht mehr den richtigen Draht zur Mannschaft gehabt. Für 30 Mark im Monat übernahm Hallemann den Job mit gerade 28 Jahren, manche Spieler waren älter als er. Und der Respekt? "Das war nie ein Problem. Die jüngeren Spieler haben mich sogar gesiezt." Den Torwart suspendierte er im Meisterschaftsendspurt nach einer Prügelei. Beim letzten Spiel musste er zur Strafe im Anzug zuschauen, entsprechend verbiestert blinzelt er auf dem offiziellen Meisterschaftsfoto in die Kamera.

Der schwarz-weiße Bilderbogen spannt sich über Ausflüge mit Jugendmannschaften nach Dänemark bis hin zum Umbau des alten Nebenplatzes, wo Hallemann in die Masten kletterte, um eigenhändig das Flutlicht zu setzen. Seine Ämter wechselten. Derzeit ist er Obmann, was im modernen Fußballvokabular der Manager und Scouts so wunderbar altmodisch klingt. Der Job blieb doch immer irgendwie gleich: Anpacken, wenn es ein Problem gibt. Als Germania Anfang der Achtziger durch viel zu hohe Zahlungen an die Ligaspieler in Finanznöte gerät, stehen sie wieder in der Zarge. "Heiner", sagen sie, "du musst uns helfen". Macht Hallemann natürlich, obwohl ihn die drohende Pleite schlaflose Nächte kostet. Denn Schulden hasst er genauso wie Pfusch. "Mein Vater", sagt Tochter Susanne, "ist ein absoluter Sicherheitsfanatiker. Bei Stromarbeiten dreht er die Sicherung mehrmals rein und raus, um wirklich sicher zu sein."

Zeiten ändern sich

Auch dank Hallemanns Einsatz überlebt Germania. Und doch haben sich die Zeiten geändert. "Die Geselligkeit", sagt Hallemann, "die gibt es in dieser Form nicht mehr." Er tippt auf die Bilder mit den Feierrunden im alten Vereinsheim. "Wir haben Schwarzbrote mit Mett geschmiert und ins Clubheim mitgenommen", erinnert sich Helga Hallemann. Denn bei Tante Frieda, der Vereinswirtin, gab's hinter dem alten Cola-Tresen eben nur Flüssignahrung. Als sie im Bilderberg noch ein Foto des Sportplatzes mit Tausenden brennenden Teelichtern sieht, muss sie lachen: "Das war unser Lichterfest. Und halb Schnelsen war auf den Beinen."

Heute glitzert eine bunte LED-Kette mit "Open" am Fenster des neuen Vereinsheims, daneben leuchtet der Schriftzug des Bezahlsenders Sky. Aber die Abende nach Spielen, wo nach dem Abpfiff gern bis in die Puppen gefeiert wurde, die gibt es nicht mehr. "Heute fahren die meisten Spieler direkt nach Hause", sagt Hallemann. Jeden ersten Donnerstag im Monat ist noch etwas von der alten Germania-Seele zu spüren, wenn die Vereinssenioren an langen Holztischen unter Pokalen, Wimpeln und Urkunden klönen. Die Wiener Würstchen dampfen auf weißen Tellern, Bier gibt's direkt aus der Kiste auf dem Nachbartisch.

Natürlich reden sie dann auch über die aktuelle Germania, die sich wie so viele Vereine tapfer gegen den Niedergang des Amateurfußballs stemmt. Hallemann geht selbstredend weiter zu den Heimspielen, meist mit nur 100, 200 Unentwegten - kein Vergleich zu den großen Zeiten Anfang der 1960er, als bei Spitzenspielen mehr als 1000 Zuschauer das Team anfeuerten. Achter ist das Team in der Oberliga geworden, mit Björn Nadler geht jetzt wieder einer der Besten. "Ein für beide Seiten trauriger Entschluss", heißt es auf der Homepage - aber die Perspektive Regionalliga könne ihm Germania nun mal nicht bieten.

Wieder ein Problem mehr für Vorstand Wohlgemuth, der mit ölverschmierten Händen in seinem winzigen Werkstattbüro um Rabatte für Torwarthandschuhe feilscht. "Im Prinzip", sagt er, "ist das ein Fulltime-Job". Zumal ihm die ehrenamtlichen Mitstreiter ausgehen. Neulich hat er Mitglieder gesucht, die an einem Wochenende den Platz pflegen sollten. "Da musste ich mir dann anhören, ob wir zumindest ein Frühstück anbieten."

Junge Leute "stehen unter ganz anderem Druck"

Undenkbar für einen wie Karl-Heinz Hallemann. Doch der klagt nicht, im Gegenteil, er hat Verständnis: "Es ist doch kein Wunder, dass die jungen Leute weniger Zeit haben. Die stehen doch unter ganz anderem Druck als wir. Ich musste mir bei den HEW nie Gedanken um meine berufliche Zukunft machen, ich hatte einen sicheren Job."

Vielleicht ist Hallemann genau deshalb bei den Germanen so beliebt. Er hat sich eben nicht wie andere in ein Früher-war-alles-besser-Reservat zurückgezogen, sondern lebt im Hier und Jetzt. Als vor dem Fototermin ein kleiner Fußballer im DFB-Trikot vergebens versucht, über den Zaun zu klettern, um mit seinen Freunden auf dem noch freien Platz zu kicken, brummt er nur: "Komm rein, ich schließe auf."

Dabei ist der Kunstrasen natürlich für Vereinsmitglieder reserviert, aber bei fußballbegeisterten Kindern drückt der akkurate Hallemann gern ein Auge zu. Es nervt ihn indes, wenn er abends im Gebüsch einen Ball findet, den Jugendfußballer einfach vergessen haben. In seiner aktiven Zeit waren Bälle fast heilig: "Wir haben extra Farbe aus der Drogerie geholt, um sie fürs Spiel weiß zu streichen, damit sie schön leuchteten." Und wenn ihm so richtig etwas gegen den Strich geht, dann setzt er sich an den Computer - Enkelsohn Sascha hat ihm gezeigt, wie das geht - und protestiert, wie neulich mit ein paar Zeilen in der Vereinszeitung: "Bei einigen unserer Mannschaften steht der Trainer mehr im Blickpunkt als die Spieler. Sobald die eigene Mannschaft in Rückstand gerät, wird der Schiedsrichter lautstark mit unflätigen Bemerkungen bedacht."

"So ganz werde ich wohl doch nicht aufhören können."

Nein, Selbstdarsteller mag Hallemann nicht. Sich selbst sieht er sowieso lieber in der zweiten Reihe. Es bedarf schon großer Überredungskünste, damit er sich für den Abendblatt-Fotografen auf die Trainerbank setzt: "Da gehöre ich doch gar nicht hin." Am 13. Juli, an seinem 80. Geburtstag, wird ihm das nichts nützen. Dann werden sie ihn feiern, ihren Heiner, natürlich im Clubhaus. Und danach? Vergebens hat er versucht, seine Schlüssel für die Sportanlage beim Vorstand abzuliefern. "Ist besser, wenn du sie behältst, falls mal irgendwas ist", hat Wohlgemuth nur gesagt. Ein paar Tage zuvor hat er ihm noch ein kaputtes Heizkörperventil in die Hand gedrückt. Ob er sich mal eben kurz kümmern könne? "So ganz", seufzt Hallemann, "werde ich wohl doch nicht aufhören können." Einmal Germane, immer Germane.

[dfb]

von Peter Wenig

[bild1]Der kleine Fußball ist in Deutschland riesengroß. In fast 26.000 Vereinen wird unter dem Dach des DFB Fußball gespielt. Und das nur dank der etwa 1,7 Millionen Ehrenamtler, die sich pro Jahr in Fußballclubs engagieren. In der DFB-Serie Heimliche Helden rücken jene Persönlichkeiten aus der Basis einmal in den Mittelpunkt. Diesmal stellen wir Ihnen Karl-Heinz Hallemann vor, der als Ehrenamtlicher für den Hamburger Verein Germania Schnelsen aktiv ist. Seit fast 60 Jahren.

60 Jahre Ehrenamt

Behutsam nimmt Jörg Wohlgemuth das gerahmte Schwarz-Weiß-Foto von der Wand mit all den Pokalen und Urkunden, wischt mit dem Hemdärmel über das Glas und tippt auf den Herrn links im dunklen Anzug. "Ja, das ist der Heiner", sagt der Vereinschef von Germania Schnelsen dann. Kerzengerade steht Karl-Heinz Hallemann da und schaut mit strengem Lehrerblick auf seine Spieler in weißen Trikots mit Schnürkragen. Ist es der feine Zwirn? Oder sind es die deutlichen Geheimratsecken im dunklen Haar? Der Trainer sieht jedenfalls viel älter aus als seine Spieler. Dabei war er gerade 28 Jahre alt, als das Bild im Mai 1962 entstand.

Für Schnelsen war der Aufstieg in die Amateurliga ein historischer Sieg, die Meisternacht im benachbarten Hotel Zeppelin endete im Morgengrauen. Mittendrin der damals jüngste Meistermacher Hamburgs, ein Trainer ohne Schein. Für den Lehrgang hatte Hallemann keine Zeit, der Beruf war wichtiger. "Sie haben ja gezeigt, dass Sie das können", sagte Ausbilder und HSV-Trainer Martin Wilke und gab ihm den Schein ohne Prüfung.

Fünf Jahrzehnte nach der Verbandsliga-Meisterschaft trägt Hallemann braunen Cord und grauen Pullover. Wache blaue Augen, noch immer kerzengerader Gang - jetzt mag man es kaum glauben, dass er am 13. Juli seinen 80. Geburtstag feiern wird. Für ihn wird es in doppelter Hinsicht ein besonderer Tag. Denn seine Feier im Clubheim am Königskinderweg soll auch der Schlusspunkt einer fast 60-jährigen Germania-Karriere sein. Hallemann war Spieler, Trainer, Vorstand, Jugendleiter - eigentlich alles. Ein Fußballer-Leben abseits von Schlagzeilen, bunten Bildern und Twitter-Nachrichten, die der nur neun Kilometer entfernte HSV fast im Minutentakt in die glitzernde Profibranche sendet. Und doch ein Fußballer-Leben von ganz vielen. Denn eine Million Ehrenamtliche arbeiten für den deutschen Fußball.

Offizielle Verabschiedung am 13. Juli

Am 13. Juli also wird Hallemann, den sie alle nur Heiner nennen, offiziell verabschiedet. Germanias Vereinschef wird wehmütig, wenn er an diesen Tag denkt. "Der Heiner", sagt Wohlgemuth, "der ist nicht zu ersetzen. Der hat sich doch all die Jahre um alles gekümmert." Diese Sätze sind ihm so wichtig, dass er extra im Blaumann auf einen Sprung ins Clubhaus gekommen ist, obwohl in seiner Autowerkstatt in Stellingen richtig viel zu tun ist. Hallemann ist das Lob peinlich: "Nun lass mal gut sein, Jörg!"

Große Reden waren ohnehin nie seine Sache. "Ich bin eher der Typ, der anpackt." Nicht lang schnacken, machen. Seine Kindheit stahlen die Nazis. Mit gerade acht muss er 1941 Hamburg verlassen, raus aus dem Bombenhagel über der Hansestadt. "Mein Bruder und ich sind mit einem Köfferchen zum Bahnhof Altona, mit einem großen Namensschild um den Hals." Der Zug bringt die Jungs ins bayerische Kronach zu Pflegeltern. Heimweh? Hallemann zuckt mit den Schultern: "Ich weiß es nicht mehr. Und die Pflegeeltern waren ja auch gut zu uns." Vom Tod seines Vaters, an schwerer Tuberkulose erkrankt, erfährt er nur, weil er im Kohleherd ein paar Fetzen Papier entdeckt. Es ist der Brief der Mutter an ihre Söhne mit der traurigen Nachricht. Die Pflegeeltern wollten ihn verbrennen, um den Brüdern die Hiobsbotschaft zu ersparen.

Erst 1947 kehrt Karl-Heinz Hallemann mit seinem Bruder ins zerstörte Hamburg zurück. Die Kinder gehen wieder zur Schule, sammeln Trümmersteine für Schrebergärtner und spielen in jeder freien Minute Fußball. Die ersten Fußballstiefel mit Stahlkappe schwatzt Hallemann einem Besatzungssoldaten ab. Er lernt Kühlerklempner wie der Vater - und kickt für den HEBC, den Hamburg-Eimsbütteler Ballspiel-Club. Ein Spätsommertag 1954 ändert seine Karriere - und sein Leben. Hallemann findet bei einem Auswärtsspiel für den HEBC in Schnelsen im doppelten Sinn seine große Liebe. Die Helga. Und die Germania.

Riekbornweg - dort beginnt es

Hallemann schreitet über den Platz am Riekbornweg, auf dem vor 59 Jahren alles begann. Wo früher harter Grand für blutige Schrammen bei Grätschen sorgte, liegt jetzt ein sattgrüner Kunstrasenteppich. Mit dem Stolz eines Besitzers führt Hallemann über die Anlage, tippt auf die überdachten roten Kunststoffschalensitze für die Ersatzspieler, zeigt auf den Boden, wo die Stromleitungen für das Flutlicht verbuddelt wurden. Alles picobello, als ehrenamtlicher Bauleiter hat er schließlich darauf geachtet, dass beim Umbau nicht gepfuscht wurde. Als er auf die Betonstufen des alten Vereinsheim deutet - inzwischen Heimat eines Schachclubs -, wird seine Stimme weicher. "Genau hier", sagt er, "habe ich meine Helga nach unserem Auswärtsspiel das erste Mal gesehen." Die dritte Halbzeit im Germania-Vereinsheim, damals wurde noch nach jedem Meisterschaftsspiel mit den Gegnern gefeiert, bedeutete für Hallemann die große Zäsur. Neue Liebe, neuer Verein, neue Heimat.

Diese liegt seit der Hochzeit im März 1960 ein paar Freistöße entfernt am Radewisch, einer kleinen Seitenstraße im Herzen von Schnelsen. Der Rasen hinter dem weißen Putzbau und dem dunklen Jägerzaun ist so akkurat geschnitten, als würde er täglich mit der Nagelschere gepflegt. Helga Hallemann serviert einen Berg Butterkuchen: "Bedienen Sie sich, bei uns ist noch keiner hungrig aus dem Haus gegangen." Bedächtig kramt ihr Mann unterdessen in einer Kiste mit alten Schwarz-Weiß-Fotos, Dokumente eines Fußballer-Lebens. Natürlich sind die Bilder vom großen Tag der Meisterschaft 1962 dabei.

Quasi über Nacht war vor der Saison aus dem Spieler Hallemann der Trainer Hallemann geworden. "Wir sind damals als Mannschaft zum Vorstand marschiert und haben gesagt, dass ein Wechsel gut wäre", sagt Hallemann. Der alte Übungsleiter habe einfach nicht mehr den richtigen Draht zur Mannschaft gehabt. Für 30 Mark im Monat übernahm Hallemann den Job mit gerade 28 Jahren, manche Spieler waren älter als er. Und der Respekt? "Das war nie ein Problem. Die jüngeren Spieler haben mich sogar gesiezt." Den Torwart suspendierte er im Meisterschaftsendspurt nach einer Prügelei. Beim letzten Spiel musste er zur Strafe im Anzug zuschauen, entsprechend verbiestert blinzelt er auf dem offiziellen Meisterschaftsfoto in die Kamera.

Der schwarz-weiße Bilderbogen spannt sich über Ausflüge mit Jugendmannschaften nach Dänemark bis hin zum Umbau des alten Nebenplatzes, wo Hallemann in die Masten kletterte, um eigenhändig das Flutlicht zu setzen. Seine Ämter wechselten. Derzeit ist er Obmann, was im modernen Fußballvokabular der Manager und Scouts so wunderbar altmodisch klingt. Der Job blieb doch immer irgendwie gleich: Anpacken, wenn es ein Problem gibt. Als Germania Anfang der Achtziger durch viel zu hohe Zahlungen an die Ligaspieler in Finanznöte gerät, stehen sie wieder in der Zarge. "Heiner", sagen sie, "du musst uns helfen". Macht Hallemann natürlich, obwohl ihn die drohende Pleite schlaflose Nächte kostet. Denn Schulden hasst er genauso wie Pfusch. "Mein Vater", sagt Tochter Susanne, "ist ein absoluter Sicherheitsfanatiker. Bei Stromarbeiten dreht er die Sicherung mehrmals rein und raus, um wirklich sicher zu sein."

Zeiten ändern sich

Auch dank Hallemanns Einsatz überlebt Germania. Und doch haben sich die Zeiten geändert. "Die Geselligkeit", sagt Hallemann, "die gibt es in dieser Form nicht mehr." Er tippt auf die Bilder mit den Feierrunden im alten Vereinsheim. "Wir haben Schwarzbrote mit Mett geschmiert und ins Clubheim mitgenommen", erinnert sich Helga Hallemann. Denn bei Tante Frieda, der Vereinswirtin, gab's hinter dem alten Cola-Tresen eben nur Flüssignahrung. Als sie im Bilderberg noch ein Foto des Sportplatzes mit Tausenden brennenden Teelichtern sieht, muss sie lachen: "Das war unser Lichterfest. Und halb Schnelsen war auf den Beinen."

Heute glitzert eine bunte LED-Kette mit "Open" am Fenster des neuen Vereinsheims, daneben leuchtet der Schriftzug des Bezahlsenders Sky. Aber die Abende nach Spielen, wo nach dem Abpfiff gern bis in die Puppen gefeiert wurde, die gibt es nicht mehr. "Heute fahren die meisten Spieler direkt nach Hause", sagt Hallemann. Jeden ersten Donnerstag im Monat ist noch etwas von der alten Germania-Seele zu spüren, wenn die Vereinssenioren an langen Holztischen unter Pokalen, Wimpeln und Urkunden klönen. Die Wiener Würstchen dampfen auf weißen Tellern, Bier gibt's direkt aus der Kiste auf dem Nachbartisch.

Natürlich reden sie dann auch über die aktuelle Germania, die sich wie so viele Vereine tapfer gegen den Niedergang des Amateurfußballs stemmt. Hallemann geht selbstredend weiter zu den Heimspielen, meist mit nur 100, 200 Unentwegten - kein Vergleich zu den großen Zeiten Anfang der 1960er, als bei Spitzenspielen mehr als 1000 Zuschauer das Team anfeuerten. Achter ist das Team in der Oberliga geworden, mit Björn Nadler geht jetzt wieder einer der Besten. "Ein für beide Seiten trauriger Entschluss", heißt es auf der Homepage - aber die Perspektive Regionalliga könne ihm Germania nun mal nicht bieten.

Wieder ein Problem mehr für Vorstand Wohlgemuth, der mit ölverschmierten Händen in seinem winzigen Werkstattbüro um Rabatte für Torwarthandschuhe feilscht. "Im Prinzip", sagt er, "ist das ein Fulltime-Job". Zumal ihm die ehrenamtlichen Mitstreiter ausgehen. Neulich hat er Mitglieder gesucht, die an einem Wochenende den Platz pflegen sollten. "Da musste ich mir dann anhören, ob wir zumindest ein Frühstück anbieten."

Junge Leute "stehen unter ganz anderem Druck"

Undenkbar für einen wie Karl-Heinz Hallemann. Doch der klagt nicht, im Gegenteil, er hat Verständnis: "Es ist doch kein Wunder, dass die jungen Leute weniger Zeit haben. Die stehen doch unter ganz anderem Druck als wir. Ich musste mir bei den HEW nie Gedanken um meine berufliche Zukunft machen, ich hatte einen sicheren Job."

Vielleicht ist Hallemann genau deshalb bei den Germanen so beliebt. Er hat sich eben nicht wie andere in ein Früher-war-alles-besser-Reservat zurückgezogen, sondern lebt im Hier und Jetzt. Als vor dem Fototermin ein kleiner Fußballer im DFB-Trikot vergebens versucht, über den Zaun zu klettern, um mit seinen Freunden auf dem noch freien Platz zu kicken, brummt er nur: "Komm rein, ich schließe auf."

Dabei ist der Kunstrasen natürlich für Vereinsmitglieder reserviert, aber bei fußballbegeisterten Kindern drückt der akkurate Hallemann gern ein Auge zu. Es nervt ihn indes, wenn er abends im Gebüsch einen Ball findet, den Jugendfußballer einfach vergessen haben. In seiner aktiven Zeit waren Bälle fast heilig: "Wir haben extra Farbe aus der Drogerie geholt, um sie fürs Spiel weiß zu streichen, damit sie schön leuchteten." Und wenn ihm so richtig etwas gegen den Strich geht, dann setzt er sich an den Computer - Enkelsohn Sascha hat ihm gezeigt, wie das geht - und protestiert, wie neulich mit ein paar Zeilen in der Vereinszeitung: "Bei einigen unserer Mannschaften steht der Trainer mehr im Blickpunkt als die Spieler. Sobald die eigene Mannschaft in Rückstand gerät, wird der Schiedsrichter lautstark mit unflätigen Bemerkungen bedacht."

"So ganz werde ich wohl doch nicht aufhören können."

Nein, Selbstdarsteller mag Hallemann nicht. Sich selbst sieht er sowieso lieber in der zweiten Reihe. Es bedarf schon großer Überredungskünste, damit er sich für den Abendblatt-Fotografen auf die Trainerbank setzt: "Da gehöre ich doch gar nicht hin." Am 13. Juli, an seinem 80. Geburtstag, wird ihm das nichts nützen. Dann werden sie ihn feiern, ihren Heiner, natürlich im Clubhaus. Und danach? Vergebens hat er versucht, seine Schlüssel für die Sportanlage beim Vorstand abzuliefern. "Ist besser, wenn du sie behältst, falls mal irgendwas ist", hat Wohlgemuth nur gesagt. Ein paar Tage zuvor hat er ihm noch ein kaputtes Heizkörperventil in die Hand gedrückt. Ob er sich mal eben kurz kümmern könne? "So ganz", seufzt Hallemann, "werde ich wohl doch nicht aufhören können." Einmal Germane, immer Germane.