Dortmund gegen Schalke: Machtkampf im Revier

Es sind Duelle, die sich ins kollektive Gedächtnis der Fußballfans eingebrannt haben. Spiele für die ganz großen Emotionen - Begeisterung und Entsetzen, Siegestaumel und tiefe Trauer. Begegnungen, die Millionen von Menschen in ihren Bann ziehen, jedes Mal aufs Neue. Unvergessene Momente der Bundesligahistorie, 90 Minuten für die Ewigkeit, die normale Partien zu Klassikern gemacht haben.

Ein Spiel und seine Geschichte: In einer neuen Serie schaut der DFB.de-Autor und Historiker Udo Muras immer freitags während der Saison in die Chronik von ganz besonderen Bundesliga-Duellen, die aktuell anstehen. Heute: Borussia Dortmund gegen Schalke 04.

Wer ist die Nummer eins im Pott?

Es gibt auch in diesem Spiel nur drei Punkte und doch ist es keines wie jedes andere. Weder für die Schalker noch für die Dortmunder. Es geht auch heute in Dortmund (ab 20.30 Uhr, live auf Sky) um die Macht im Revier, ums Prestige die Nummer eins im „Pott“ zu sein. Für die Fans beider Lager sind es stets die beiden wichtigsten Spiele der Saison, ganz egal was die Tabelle aussagt. Kaum zu glauben. Nur wer im Ruhrpott lebt weiß dass es wirklich so ist.

Das Mitglied der Dortmunder Europacupsieger-Elf anno 1966, Alfred „Aki“ Schmidt, berichtete mal, schon zu seiner Zeit wäre das BVB-Motto gewesen: „Lieber Schalke schlagen als Meister werden.“ Und als der Kult-Schalker Yves Eigenrauch Ende 1992 ein paar Tage vor dem Derby auf einem Fan-Klub-Treffen saß, sagten ihm blau-weiße Anhänger: „Ihr könnt ruhig absteigen, wenn ihr nur wieder gegen Dortmund gewinnt.“ Immerhin haben sie Dortmund gesagt, im Fan-Jargon ist ja mittlerweile „Lüdenscheid-Nord“ usus, so wie ein echter Borusse auch nie von Gelsenkirchen geschweige denn Schalke sondern nur von „Herne-West“ redet. Schmähungen gehören zum Vorspiel, im Internet kursieren Seiten über Schalke- und Dortmund-Witze, über die jeweils nur der andere lacht.

"Lieber Schalke schlagen als Meister werden"

Die herzliche Abneigung gehört zu diesem Derby wie die Portion Pommes zur Currywurst. Heute steigt schon die 138. Auflage, in der Bundesliga ist es die Nummer 78. Wird es diesmal eine klare Sache? Borussia Dortmund ist der ganzen Liga enteilt und spielt zuhause, doch das will nichts heißen. „In diesem Spiel gibt es eigentlich keinen Favorit“, sagte der mittlerweile verstorbene Ex-Nationalspieler Rolf Rüssmann, der es wissen muss. Er gehört zu den mutigen Grenzgängern, die ungeachtet aller Rivalität für beide Klubs gespielt haben. Auch Stars wie Jens Lehmann, Andy Möller oder Stan Libuda wagten das eigentlich Undenkbare und mussten mit Anfeindungen leben. Natürlich muss sich jede echte Rivalität entwickeln. Nachbarschaft allein reicht da nicht, im fußballbegeisterten Westen mit seinem guten Dutzend von namhaften Traditionsklubs schon gar nicht.

Vor dem Krieg hatte Schalke 04 jedenfalls andere Sorgen als ein Spiel gegen den BVB, der sich ihnen im Mai 1925 erstmals entgegenstellte und nur mit 2:4 unterlag. Danach wurde es in der Regel deftiger: der Serienmeister der Nazi-Zeit gewann 14 von 16 Gauligaspielen bei 84:11 Toren. Am 20. Oktober 1940 wurde es sogar zweistellig (10:0) und der Kicker verdeutlichte die Machtverhältnisse gleich im ersten Satz seines Spielberichts: „Wenn Borussia Dortmund nach Schalke muss, dann ist man im Lager der Dortmunder auf eine hohe Abfuhr gefasst.“ Die Elf um Szepan und Kuzorra, der an diesem Tage vier Tore schoss, war das Nonplusultra in den düstersten Jahren deutscher Geschichte. Sie sammelte stolze sechs Meistertitel zwischen 1934 und 1942, gegen den mythischen „Schalker Kreisel“ gab es kaum ein Mittel.

Führung in der "ewigen Derbytabelle" winkt

Erst im Oktober 1943 leisteten sich die Knappen nach 18 Jahren die erste Derby-Niederlage (0:1) überhaupt und die Borussia benannte das neue Klubhaus nach dem Torschützen, ihrem ersten Nationalspieler August Lenz. Purer Zufall? Nach dem Krieg wendete sich das Blatt. Borussia holte gewaltig auf, und als sie am 18. Mai 1947 gegen Schalke den Westfalen-Pokal gewann, schwänzten die Blau-Weißen die Siegerehrung. Es war nur ein Vorgeschmack: vor Bundesligagründung wurde der BVB dreimal Deutscher Meister, Schalke nur einmal, und verbuchte in den Oberligaspielen, die in den Fünfzigern die bestbesuchten im deutschen Fußball waren eine positive Bilanz (15-10-7). Rote Erde und Glückauf-Kampfbahn meldeten stets ausverkauft in den letzten Tagen des Amateurfußballs. 1963 gehörten dann beide zu den Gründungsmitgliedern der Bundesliga, in der sie sich seit 1991/92 ununterbrochen und unerbittlich gegenüberstehen.

Das prickelndste Derby der Bundesliga, jedenfalls seit es das Münchner Lokalduell nicht mehr gibt, schrieb einige völlig verrückte Geschichten, unglaubliche Spielverläufe und jede Menge Zünd- und Diskussionsstoff. Langweilig war es nie. Bezeichnenderweise ist die Bundesligabilanz absolut ausgeglichen – jeder hat 27 Siege verbucht, dazu kommen 23 Remis. Auffällig ist der geringe Anteil an Heimsiegen (44 %), von Heimvorteil konnte zuweilen jahrelang keine Rede sein. So gab es zwischen 1999 und 2006 in 14 Begegnungen nur einen einzigen Heimsieg und auch das Hinspiel der laufenden Saison endete mit einem Triumph der Gäste: der BVB gewann auf Schalke 3:1 und der Japaner Shinji Kagawa schoss sich mit einem Doppelschlag in die Herzen der Fans.

Schalke siegt im ersten Bundesliga-Derby

3:1 lautete auch das allererste Bundesligaergebnis – für Schalke auf eigenem Platz. Durchaus überraschend, der BVB war amtierender Meister und ging auch nach sechs Minuten durch Reinhold Wosab in Führung. Doch Manfred Berz und Waldemar Gerhardt drehten den Spieß um und ein Eigentor von Lothar Geisler entschied das erste Revierderby in der Bundesliga. Vor dem Spiel hatte Schalke noch artig mit Blumen zum Meistertitel gratuliert, zum Schluss aber hatte es Spaß an der Demütigung. „Sie zauberten und kreiselten, sie schlugen Haken und zeichneten Arabesken, tanzten Ringelreigen und Walzer, aber das waren brotlose Künste“, tadelte das Sport Magazin Schalkes Lust an der Vorführung des Lieblingsfeindes.

Die Rache der Borussen, die bei Bundesligabeginn vom Ex-Schalker Hermann Eppenhoff trainiert wurden, war fürchterlich. Sie gewannen die nächsten acht Spiele und hielten sich mit Toren nicht zurück, einmal gab es gar ein 7:0 (am 26. Februar 1966 in Dortmund, BVB-Rekordsieg).

Am 26. September 1964 stellten die Borussen einen Rekord auf und führten zur Pause in Schalke mit 6:0 – es ist bis dato die höchste Halbzeitführung einer Gastmannschaft in einem Bundesligaspiel. Dabei versichern die Quellen der Zeit, dass die Gäste nicht mal besonders gut gespielt hätten. „Aber jeder Schuss flog ins Tor, es war der Wahnsinn“, erinnert sich Aki Schmidt. In der Borussen-Kabine floss schon in der Pause der Sekt, bei den Schalkern dagegen so manche Träne. Zwei Ehrentore milderten den Schmerz nur unwesentlich. Apropos Schmerz: Ins Kuriositäten-Kabinett der Bundesliga ging das 1:1 am 6. September 1969 ein.

Legendärer Hundebiss in der Roten Erde

Tatort Rote Erde: das BVB-Stadion war ausverkauft, die Zuschauer standen in jenen Tagen noch dicht am Spielfeldrand. Als Schalke in Führung ging, rannten Dutzende Gäste-Fans jubelnd aufs Feld und die Polizei ließ die Hunde los. Ein fünfjähriger Schäferhund namens Blitz verlor in der Hektik die Übersicht und biss in den nächsten Hintern, den er zu fassen bekam: den von Schalkes Friedel Rausch. Auch Kollege Gerd Neuser wurde verwundet, am Oberschenkel. Während Neuser ausgewechselt werden musste, hielt Rausch dank einer Tetanusspritze durch. Später stellte sich heraus, dass es sich gar nicht um einen „offiziellen“ Wachhund gehandelt hatte. Vielmehr hatte ihn ein Fan mitgenommen, der vorgab Ordner zu sein um auf diese Weise um den Eintrittspreis zu kommen. Den eigentlich ganz braven Blitz hatte er sich vom Nachbarn ausgeliehen.

Die Liga hatte jedenfalls etwas zu lachen. Wer den Schaden braucht bekanntlich für den Spott nicht zu sorgen und der gute Friedel Rausch wurde noch wochenlang von Passanten auf offener Straße angebellt. Auch Gegenspieler griffen anfangs noch zu diesem Mittel psychologischer Kriegsführung. Rausch erinnert sich mit Grausen: „Fast in jedem Spiel kam einer an und machte wuff-wuff“.

Die Bundesliga verdankt dieser Episode die Maulkorbpflicht für alle vierbeinigen Ordnungskräfte und die Errichtung von Zäunen. Rausch und Neuser bekamen vom BVB 300 D-Mark und Blumen. Die sind längst verwelkt, die Narbe aber ist Friedel Rausch geblieben: „Das ist ein Andenken für immer.“ Nicht vergessen konnte auch Schalke-Präsident den Hundebiss-Skandal und patrouillierte vor dem Rückspiel an der Mittellinie mit einem wahrhaftigen Löwen, den er sich vom nächsten Tierpark ausgeliehen hatte. Das Gelächter war groß.

Derbylose Zeit von 1972 bis 1976

Es folgte die nächste Zäsur dieser bissigen Beziehung: Im Jahr als Schalke Pokalsieger wurde, stieg der BVB ab – von 1972 bis 1976 waren sie keine Klassenkameraden mehr. Es war die Epoche, in die der Satz des späteren Präsidenten Helmut Kremers noch am besten passte. „Früher haben wir uns nicht mal umgezogen, wenn wir gegen Dortmund gespielt haben.“ Damit gewann er 1994 übrigens die Wahl. Der Borussia ging es in der Zweiten Liga finanziell so schlecht, dass sich Schalke sogar zu einem Benefizspiel (0:3) erbarmte – 35.000 kamen zu einem Kick, in dem es (nur für Nicht-Ruhrpottler) um nichts ging.

Als Borussia unter Trainer Otto Rehhagel 1976 zurückkehrte, blieb sie im Derby zuhause zehnmal in Serie ungeschlagen. Für Schalke waren die Achtziger ohnehin ein finsteres Jahrzehnt, gleich dreimal stieg es ab (1981, 1983, 1988). Tristesse machte sich breit im Parkstadion, selbst die Derbies waren nicht mehr ausverkauft. Am 10. Dezember 1985 war das Stadion halb leer, aber wer kam hatte etwas zu erzählen. Zur Pause stand es noch 0:0, nach 90 Minuten aber hatte Schalke seinen höchsten Bundesliga-Derby-Sieg (6:1) eingefahren. Der 19jährige Olaf Thon erzielte seine beiden ersten Derby-Tore.

Torreiche Spiele und Zauberer Schlipper

Torreiche Spiele sollten noch viele folgen, pro Bundesliga-Derby fielen 3,05 Tore. Nach Schalkes letzter und längster Bundesligaabstinenz (1988-91) stürzten sich die Königsblauen wie ausgehungerte Raubkatzen auf die Borussen. Deren neuer Trainer Ottmar Hitzfeld wusste zwar schon um den Stellenwert des Derbies und gab am 24. August 1991 die Parole aus „verlieren ist hier verboten“, doch seine Schützlinge unterlagen mit 2:5. Nun war es wieder eine würdige Kulisse (70.200), überhaupt ist das Derby seitdem stets ausverkauft gewesen. Einige wollten gar nicht mehr gehen an diesem Tag, Tausende glückliche Schalker belagerten die Kabine ihrer Helden und kosteten den Triumph aus. Im Zentrum der Ovationen stand der begnadete Techniker Günter Schlipper, der bei Derbies oft zu Hochform auflief. So auch beim legendären 2:0 in Dortmund am 14. August 1992, als dort unter Trainer Udo Lattek der erste Sieg nach 20 Jahren oder 7466 Tagen gelang.

Schlipper schoss ein freches Tor und traf auch verbal: „Das kannten die Dortmunder nicht: den Ball mit der Sohle zurückgezogen und mit der Pike aufs Tor gehauen.“ Sein Trainer Lattek stürmte nach Abpfiff vor die Gästekurve, warf die Mütze hinein und genoss die Sprechchöre. Der Kicker schrieb: „Wer in Dortmund gewinnt, kann auf Schalke nichts mehr falsch machen.“ Schlechterer Stimmung war Ex-BVB-Stürmer Norbert Dickel, der an diesem Tag seinen Einstand als Stadionsprecher gab. Das ist er noch heute, trotz des bösen Omens.

Es gab ja auch noch viel zu feiern seitdem, 1995, 1996 und 2002 hieß der Meister BVB. Schalke konnte das nicht verhindern, blieb zwischen 1993 und 1997 siebenmal ohne Derby-Sieg. 199 vertrugen sich die Fan-Lager mal etwas besser, da beide Klubs Europapokalsieger wurden. Der BVB gewann die Champions League, Schalke den Uefa-Cup und die Fans skandierten voller Heimat-Stolz schlicht „Ruhrpott“.

Lehmann-Tor in letzter Sekunde

Am 19. Dezember 1997 wurde dann wieder nationale Geschichte geschrieben. Im Westfalenstadion lief die letzte Minute, Borussia führte mit 2:1. Zum zweiten Mal eilte Schalkes Keeper Jens Lehmann bereits nach vorne um das Unmögliche zu versuchen: ein Tor aus dem Spiel heraus zu erzielen. Nun, es gelang. Per Kopf! Lehmann gab später zu, ihn habe „das schlechte Gewissen getrieben“, da er an zwei Toren schuld gewesen sei. „Dann habe ich wenigstens noch ein drittes gemacht“. Nach 33234 „normalen“ Bundesligatoren war es das erste eines Torwarts aus dem Spiel heraus. Diese Episode hat übrigens den Wettanbieter Partybets dazu veranlasst, über ein Kopfballtor von Manuel Neuer zu spekulieren. Dafür gäbe es den 51fachen Einsatz zurück. Verrückt. Acht der folgenden elf Derbies endeten Remis, dabei gab es am 13. Mai 2000 dennoch einen Sieger. Die Borussia rettete sich mit einem 1:1 durch ein spätes Tor von Alfred Nijhuis vor dem Abstieg, nun saß Udo Lattek auf der BVB-Bank und wurde vom anderen Lager gefeiert.

Im nächsten Derby feierte Schalke seinen höchsten Sieg in Dortmund – 4:0 (23.9.2000). Überhaupt passierten die besonderen Dinge nach der Jahrtausendwende vorwiegend in Dortmund. Wie am 30. Januar 2004, als Schalkes Torwart Frank Rost gleich zwei Elfmeter hielt (von Koller und Frings) und einen Rekord einstellte, ehe Ebbe Sand in der 89. Minute den Gästesieg herstellte. Wie so oft. Borussia gewann in diesem Jahrtausend nur ein einziges Heim-Derby – dann als es Schalke am meisten weh tat.

Frei und Smolarek verbauen S04 den Weg zum Titel

Am 12. Mai 2007 hätte der Rivale mit einem Sieg vorzeitig Meister werden können. Gerald Asamoah kündigte für diesen Fall an, die 35 Kilometer nach Gelsenkirchen heim zu laufen, Manuel Neuer wollte immerhin das Fahrrad nehmen. Sie nahmen dann doch den Bus, es gab nichts zu feiern.

Die Borussen hängten sich rein als könnten sie selbst noch Meister werden und gewannen nach Toren von Frei und Smolarek mit 2:0. Der Kicker schrieb von „in spielerischer Hinsicht an diesem Nachmittag grausam limitierten und unerklärlich passiven Schalkern“. Wieder flossen Tränen in Schalkes Kabine und ein Borussen-Transparent wurde berühmt: „Nur gucken, nicht anfassen“. Es nahm Bezug auf einen Werbespot mit Schalkes Manager Rudi Assauer, der sich die Meisterschale wieder nur aus der Ferne angucken durfte.

Wie eine Niederlage fühlte sich auch das 3:3 im September 2008 an, als Schalke in Dortmund nach zwei Platzverweisen noch eine 3:0-Führung verspielte. Das war ihnen in der Bundesliga 35 Jahre nicht mehr passiert. Aber der neue BVB-Trainer Jürgen Klopp hatte seine Elf nach vorne gepeitscht und mit Alexander Frei den richtigen Joker eingewechselt. Der Schweizer erzielte zwei Tore und sprach hinterher davon das sei „vielleicht eines der besten Derbies aller Zeiten“ gewesen. Bis Freitag?

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Es sind Duelle, die sich ins kollektive Gedächtnis der Fußballfans eingebrannt haben. Spiele für die ganz großen Emotionen - Begeisterung und Entsetzen, Siegestaumel und tiefe Trauer. Begegnungen, die Millionen von Menschen in ihren Bann ziehen, jedes Mal aufs Neue. Unvergessene Momente der Bundesligahistorie, 90 Minuten für die Ewigkeit, die normale Partien zu Klassikern gemacht haben.

Ein Spiel und seine Geschichte: In einer neuen Serie schaut der DFB.de-Autor und Historiker Udo Muras immer freitags während der Saison in die Chronik von ganz besonderen Bundesliga-Duellen, die aktuell anstehen. Heute: Borussia Dortmund gegen Schalke 04.

Wer ist die Nummer eins im Pott?

Es gibt auch in diesem Spiel nur drei Punkte und doch ist es keines wie jedes andere. Weder für die Schalker noch für die Dortmunder. Es geht auch heute in Dortmund (ab 20.30 Uhr, live auf Sky) um die Macht im Revier, ums Prestige die Nummer eins im „Pott“ zu sein. Für die Fans beider Lager sind es stets die beiden wichtigsten Spiele der Saison, ganz egal was die Tabelle aussagt. Kaum zu glauben. Nur wer im Ruhrpott lebt weiß dass es wirklich so ist.

Das Mitglied der Dortmunder Europacupsieger-Elf anno 1966, Alfred „Aki“ Schmidt, berichtete mal, schon zu seiner Zeit wäre das BVB-Motto gewesen: „Lieber Schalke schlagen als Meister werden.“ Und als der Kult-Schalker Yves Eigenrauch Ende 1992 ein paar Tage vor dem Derby auf einem Fan-Klub-Treffen saß, sagten ihm blau-weiße Anhänger: „Ihr könnt ruhig absteigen, wenn ihr nur wieder gegen Dortmund gewinnt.“ Immerhin haben sie Dortmund gesagt, im Fan-Jargon ist ja mittlerweile „Lüdenscheid-Nord“ usus, so wie ein echter Borusse auch nie von Gelsenkirchen geschweige denn Schalke sondern nur von „Herne-West“ redet. Schmähungen gehören zum Vorspiel, im Internet kursieren Seiten über Schalke- und Dortmund-Witze, über die jeweils nur der andere lacht.

"Lieber Schalke schlagen als Meister werden"

Die herzliche Abneigung gehört zu diesem Derby wie die Portion Pommes zur Currywurst. Heute steigt schon die 138. Auflage, in der Bundesliga ist es die Nummer 78. Wird es diesmal eine klare Sache? Borussia Dortmund ist der ganzen Liga enteilt und spielt zuhause, doch das will nichts heißen. „In diesem Spiel gibt es eigentlich keinen Favorit“, sagte der mittlerweile verstorbene Ex-Nationalspieler Rolf Rüssmann, der es wissen muss. Er gehört zu den mutigen Grenzgängern, die ungeachtet aller Rivalität für beide Klubs gespielt haben. Auch Stars wie Jens Lehmann, Andy Möller oder Stan Libuda wagten das eigentlich Undenkbare und mussten mit Anfeindungen leben. Natürlich muss sich jede echte Rivalität entwickeln. Nachbarschaft allein reicht da nicht, im fußballbegeisterten Westen mit seinem guten Dutzend von namhaften Traditionsklubs schon gar nicht.

Vor dem Krieg hatte Schalke 04 jedenfalls andere Sorgen als ein Spiel gegen den BVB, der sich ihnen im Mai 1925 erstmals entgegenstellte und nur mit 2:4 unterlag. Danach wurde es in der Regel deftiger: der Serienmeister der Nazi-Zeit gewann 14 von 16 Gauligaspielen bei 84:11 Toren. Am 20. Oktober 1940 wurde es sogar zweistellig (10:0) und der Kicker verdeutlichte die Machtverhältnisse gleich im ersten Satz seines Spielberichts: „Wenn Borussia Dortmund nach Schalke muss, dann ist man im Lager der Dortmunder auf eine hohe Abfuhr gefasst.“ Die Elf um Szepan und Kuzorra, der an diesem Tage vier Tore schoss, war das Nonplusultra in den düstersten Jahren deutscher Geschichte. Sie sammelte stolze sechs Meistertitel zwischen 1934 und 1942, gegen den mythischen „Schalker Kreisel“ gab es kaum ein Mittel.

Führung in der "ewigen Derbytabelle" winkt

Erst im Oktober 1943 leisteten sich die Knappen nach 18 Jahren die erste Derby-Niederlage (0:1) überhaupt und die Borussia benannte das neue Klubhaus nach dem Torschützen, ihrem ersten Nationalspieler August Lenz. Purer Zufall? Nach dem Krieg wendete sich das Blatt. Borussia holte gewaltig auf, und als sie am 18. Mai 1947 gegen Schalke den Westfalen-Pokal gewann, schwänzten die Blau-Weißen die Siegerehrung. Es war nur ein Vorgeschmack: vor Bundesligagründung wurde der BVB dreimal Deutscher Meister, Schalke nur einmal, und verbuchte in den Oberligaspielen, die in den Fünfzigern die bestbesuchten im deutschen Fußball waren eine positive Bilanz (15-10-7). Rote Erde und Glückauf-Kampfbahn meldeten stets ausverkauft in den letzten Tagen des Amateurfußballs. 1963 gehörten dann beide zu den Gründungsmitgliedern der Bundesliga, in der sie sich seit 1991/92 ununterbrochen und unerbittlich gegenüberstehen.

Das prickelndste Derby der Bundesliga, jedenfalls seit es das Münchner Lokalduell nicht mehr gibt, schrieb einige völlig verrückte Geschichten, unglaubliche Spielverläufe und jede Menge Zünd- und Diskussionsstoff. Langweilig war es nie. Bezeichnenderweise ist die Bundesligabilanz absolut ausgeglichen – jeder hat 27 Siege verbucht, dazu kommen 23 Remis. Auffällig ist der geringe Anteil an Heimsiegen (44 %), von Heimvorteil konnte zuweilen jahrelang keine Rede sein. So gab es zwischen 1999 und 2006 in 14 Begegnungen nur einen einzigen Heimsieg und auch das Hinspiel der laufenden Saison endete mit einem Triumph der Gäste: der BVB gewann auf Schalke 3:1 und der Japaner Shinji Kagawa schoss sich mit einem Doppelschlag in die Herzen der Fans.

Schalke siegt im ersten Bundesliga-Derby

3:1 lautete auch das allererste Bundesligaergebnis – für Schalke auf eigenem Platz. Durchaus überraschend, der BVB war amtierender Meister und ging auch nach sechs Minuten durch Reinhold Wosab in Führung. Doch Manfred Berz und Waldemar Gerhardt drehten den Spieß um und ein Eigentor von Lothar Geisler entschied das erste Revierderby in der Bundesliga. Vor dem Spiel hatte Schalke noch artig mit Blumen zum Meistertitel gratuliert, zum Schluss aber hatte es Spaß an der Demütigung. „Sie zauberten und kreiselten, sie schlugen Haken und zeichneten Arabesken, tanzten Ringelreigen und Walzer, aber das waren brotlose Künste“, tadelte das Sport Magazin Schalkes Lust an der Vorführung des Lieblingsfeindes.

Die Rache der Borussen, die bei Bundesligabeginn vom Ex-Schalker Hermann Eppenhoff trainiert wurden, war fürchterlich. Sie gewannen die nächsten acht Spiele und hielten sich mit Toren nicht zurück, einmal gab es gar ein 7:0 (am 26. Februar 1966 in Dortmund, BVB-Rekordsieg).

Am 26. September 1964 stellten die Borussen einen Rekord auf und führten zur Pause in Schalke mit 6:0 – es ist bis dato die höchste Halbzeitführung einer Gastmannschaft in einem Bundesligaspiel. Dabei versichern die Quellen der Zeit, dass die Gäste nicht mal besonders gut gespielt hätten. „Aber jeder Schuss flog ins Tor, es war der Wahnsinn“, erinnert sich Aki Schmidt. In der Borussen-Kabine floss schon in der Pause der Sekt, bei den Schalkern dagegen so manche Träne. Zwei Ehrentore milderten den Schmerz nur unwesentlich. Apropos Schmerz: Ins Kuriositäten-Kabinett der Bundesliga ging das 1:1 am 6. September 1969 ein.

Legendärer Hundebiss in der Roten Erde

Tatort Rote Erde: das BVB-Stadion war ausverkauft, die Zuschauer standen in jenen Tagen noch dicht am Spielfeldrand. Als Schalke in Führung ging, rannten Dutzende Gäste-Fans jubelnd aufs Feld und die Polizei ließ die Hunde los. Ein fünfjähriger Schäferhund namens Blitz verlor in der Hektik die Übersicht und biss in den nächsten Hintern, den er zu fassen bekam: den von Schalkes Friedel Rausch. Auch Kollege Gerd Neuser wurde verwundet, am Oberschenkel. Während Neuser ausgewechselt werden musste, hielt Rausch dank einer Tetanusspritze durch. Später stellte sich heraus, dass es sich gar nicht um einen „offiziellen“ Wachhund gehandelt hatte. Vielmehr hatte ihn ein Fan mitgenommen, der vorgab Ordner zu sein um auf diese Weise um den Eintrittspreis zu kommen. Den eigentlich ganz braven Blitz hatte er sich vom Nachbarn ausgeliehen.

Die Liga hatte jedenfalls etwas zu lachen. Wer den Schaden braucht bekanntlich für den Spott nicht zu sorgen und der gute Friedel Rausch wurde noch wochenlang von Passanten auf offener Straße angebellt. Auch Gegenspieler griffen anfangs noch zu diesem Mittel psychologischer Kriegsführung. Rausch erinnert sich mit Grausen: „Fast in jedem Spiel kam einer an und machte wuff-wuff“.

Die Bundesliga verdankt dieser Episode die Maulkorbpflicht für alle vierbeinigen Ordnungskräfte und die Errichtung von Zäunen. Rausch und Neuser bekamen vom BVB 300 D-Mark und Blumen. Die sind längst verwelkt, die Narbe aber ist Friedel Rausch geblieben: „Das ist ein Andenken für immer.“ Nicht vergessen konnte auch Schalke-Präsident den Hundebiss-Skandal und patrouillierte vor dem Rückspiel an der Mittellinie mit einem wahrhaftigen Löwen, den er sich vom nächsten Tierpark ausgeliehen hatte. Das Gelächter war groß.

Derbylose Zeit von 1972 bis 1976

Es folgte die nächste Zäsur dieser bissigen Beziehung: Im Jahr als Schalke Pokalsieger wurde, stieg der BVB ab – von 1972 bis 1976 waren sie keine Klassenkameraden mehr. Es war die Epoche, in die der Satz des späteren Präsidenten Helmut Kremers noch am besten passte. „Früher haben wir uns nicht mal umgezogen, wenn wir gegen Dortmund gespielt haben.“ Damit gewann er 1994 übrigens die Wahl. Der Borussia ging es in der Zweiten Liga finanziell so schlecht, dass sich Schalke sogar zu einem Benefizspiel (0:3) erbarmte – 35.000 kamen zu einem Kick, in dem es (nur für Nicht-Ruhrpottler) um nichts ging.

Als Borussia unter Trainer Otto Rehhagel 1976 zurückkehrte, blieb sie im Derby zuhause zehnmal in Serie ungeschlagen. Für Schalke waren die Achtziger ohnehin ein finsteres Jahrzehnt, gleich dreimal stieg es ab (1981, 1983, 1988). Tristesse machte sich breit im Parkstadion, selbst die Derbies waren nicht mehr ausverkauft. Am 10. Dezember 1985 war das Stadion halb leer, aber wer kam hatte etwas zu erzählen. Zur Pause stand es noch 0:0, nach 90 Minuten aber hatte Schalke seinen höchsten Bundesliga-Derby-Sieg (6:1) eingefahren. Der 19jährige Olaf Thon erzielte seine beiden ersten Derby-Tore.

Torreiche Spiele und Zauberer Schlipper

Torreiche Spiele sollten noch viele folgen, pro Bundesliga-Derby fielen 3,05 Tore. Nach Schalkes letzter und längster Bundesligaabstinenz (1988-91) stürzten sich die Königsblauen wie ausgehungerte Raubkatzen auf die Borussen. Deren neuer Trainer Ottmar Hitzfeld wusste zwar schon um den Stellenwert des Derbies und gab am 24. August 1991 die Parole aus „verlieren ist hier verboten“, doch seine Schützlinge unterlagen mit 2:5. Nun war es wieder eine würdige Kulisse (70.200), überhaupt ist das Derby seitdem stets ausverkauft gewesen. Einige wollten gar nicht mehr gehen an diesem Tag, Tausende glückliche Schalker belagerten die Kabine ihrer Helden und kosteten den Triumph aus. Im Zentrum der Ovationen stand der begnadete Techniker Günter Schlipper, der bei Derbies oft zu Hochform auflief. So auch beim legendären 2:0 in Dortmund am 14. August 1992, als dort unter Trainer Udo Lattek der erste Sieg nach 20 Jahren oder 7466 Tagen gelang.

Schlipper schoss ein freches Tor und traf auch verbal: „Das kannten die Dortmunder nicht: den Ball mit der Sohle zurückgezogen und mit der Pike aufs Tor gehauen.“ Sein Trainer Lattek stürmte nach Abpfiff vor die Gästekurve, warf die Mütze hinein und genoss die Sprechchöre. Der Kicker schrieb: „Wer in Dortmund gewinnt, kann auf Schalke nichts mehr falsch machen.“ Schlechterer Stimmung war Ex-BVB-Stürmer Norbert Dickel, der an diesem Tag seinen Einstand als Stadionsprecher gab. Das ist er noch heute, trotz des bösen Omens.

Es gab ja auch noch viel zu feiern seitdem, 1995, 1996 und 2002 hieß der Meister BVB. Schalke konnte das nicht verhindern, blieb zwischen 1993 und 1997 siebenmal ohne Derby-Sieg. 199 vertrugen sich die Fan-Lager mal etwas besser, da beide Klubs Europapokalsieger wurden. Der BVB gewann die Champions League, Schalke den Uefa-Cup und die Fans skandierten voller Heimat-Stolz schlicht „Ruhrpott“.

Lehmann-Tor in letzter Sekunde

Am 19. Dezember 1997 wurde dann wieder nationale Geschichte geschrieben. Im Westfalenstadion lief die letzte Minute, Borussia führte mit 2:1. Zum zweiten Mal eilte Schalkes Keeper Jens Lehmann bereits nach vorne um das Unmögliche zu versuchen: ein Tor aus dem Spiel heraus zu erzielen. Nun, es gelang. Per Kopf! Lehmann gab später zu, ihn habe „das schlechte Gewissen getrieben“, da er an zwei Toren schuld gewesen sei. „Dann habe ich wenigstens noch ein drittes gemacht“. Nach 33234 „normalen“ Bundesligatoren war es das erste eines Torwarts aus dem Spiel heraus. Diese Episode hat übrigens den Wettanbieter Partybets dazu veranlasst, über ein Kopfballtor von Manuel Neuer zu spekulieren. Dafür gäbe es den 51fachen Einsatz zurück. Verrückt. Acht der folgenden elf Derbies endeten Remis, dabei gab es am 13. Mai 2000 dennoch einen Sieger. Die Borussia rettete sich mit einem 1:1 durch ein spätes Tor von Alfred Nijhuis vor dem Abstieg, nun saß Udo Lattek auf der BVB-Bank und wurde vom anderen Lager gefeiert.

Im nächsten Derby feierte Schalke seinen höchsten Sieg in Dortmund – 4:0 (23.9.2000). Überhaupt passierten die besonderen Dinge nach der Jahrtausendwende vorwiegend in Dortmund. Wie am 30. Januar 2004, als Schalkes Torwart Frank Rost gleich zwei Elfmeter hielt (von Koller und Frings) und einen Rekord einstellte, ehe Ebbe Sand in der 89. Minute den Gästesieg herstellte. Wie so oft. Borussia gewann in diesem Jahrtausend nur ein einziges Heim-Derby – dann als es Schalke am meisten weh tat.

Frei und Smolarek verbauen S04 den Weg zum Titel

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Am 12. Mai 2007 hätte der Rivale mit einem Sieg vorzeitig Meister werden können. Gerald Asamoah kündigte für diesen Fall an, die 35 Kilometer nach Gelsenkirchen heim zu laufen, Manuel Neuer wollte immerhin das Fahrrad nehmen. Sie nahmen dann doch den Bus, es gab nichts zu feiern.

Die Borussen hängten sich rein als könnten sie selbst noch Meister werden und gewannen nach Toren von Frei und Smolarek mit 2:0. Der Kicker schrieb von „in spielerischer Hinsicht an diesem Nachmittag grausam limitierten und unerklärlich passiven Schalkern“. Wieder flossen Tränen in Schalkes Kabine und ein Borussen-Transparent wurde berühmt: „Nur gucken, nicht anfassen“. Es nahm Bezug auf einen Werbespot mit Schalkes Manager Rudi Assauer, der sich die Meisterschale wieder nur aus der Ferne angucken durfte.

Wie eine Niederlage fühlte sich auch das 3:3 im September 2008 an, als Schalke in Dortmund nach zwei Platzverweisen noch eine 3:0-Führung verspielte. Das war ihnen in der Bundesliga 35 Jahre nicht mehr passiert. Aber der neue BVB-Trainer Jürgen Klopp hatte seine Elf nach vorne gepeitscht und mit Alexander Frei den richtigen Joker eingewechselt. Der Schweizer erzielte zwei Tore und sprach hinterher davon das sei „vielleicht eines der besten Derbies aller Zeiten“ gewesen. Bis Freitag?