Der Bundestrainer mit dem schweren Rucksack

Als Jupp Derwall heute vor 85 Jahren auf die Welt kam, war sein künftiger Beruf gerade erst in Mode gekommen. Seit vier Monaten trainierte Otto Nerz die deutsche Nationalmannschaft, die zuvor gar 18 Jahre ohne Trainer ausgekommen war. Als er im Alter von 51 Jahren sein Debüt auf der Bank gab, war er erst der vierte Bundestrainer und trug doch schon einen schweren Rucksack. Zwei Weltmeisterschaften und eine Europameisterschaft hatte die Nationalelf unter seinen Vorgängern gewonnen, kein WM-Turnier verpasst und nach der Enttäuschung bei der WM 1978 in Argentinien dürstete die Nation nach Wiedergutmachung.

War Jupp Derwall, der stets freundliche rheinische Jung' aus Würselen bei Aachen, dafür der Richtige? Wer war er überhaupt? Für die Bild-Zeitung nur „eine Übergangslösung“, für ihren scharfzüngigen Kolumnisten Max Merkel ein Mann mit lediglich äußerlichen Vorzügen. „So schön wie Jupp Derwall ist noch kein Bundestrainer gewesen. Ob allerdings Häuptling ondulierte Silberlocke auch ein großer Bundestrainer wird, muss stark bezweifelt werden. Bis zu seinem 53. Lebensjahr hat der Mann nämlich noch keinen Blumentopf gewonnen“, schrieb sein nicht sonderlich kollegialer Kollege vor Derwalls erstem Turnier, der EM 1980 in Italien.

Torjäger in Würselen und Aachen

Derwall war eben kein Beckenbauer oder Uwe Seeler, kein Unantastbarer. Er war die damals klassische DFB-Lösung – der aufrückende Co-Trainer. Dass sich Jupp Derwall im Fußball dennoch schon vor 1978 seine Meriten verdient hatte, wussten sie beim DFB, aber nicht in jeder Redaktionsstube. In Zeiten vor dem Internet blieb vieles verborgen, was erwähnenswerter gewesen wäre als all das, was heute in Sekundenschnelle durch die ganze Welt gejagt wird. Jupp Derwall, Sohn eines Obersekretärs bei der Reichsbahn, hatte das Pech, in der Zeit des Nationalsozialismus aufzuwachsen und noch mit 17 in den Krieg zu müssen. Er geriet in französische Gefangenschaft und entkam durch den Sprung von einem Güterwagen der vorbestimmten Arbeit in einem Bergwerk. Er fand seine Eltern wieder und kehrte in die Heimat zurück.

Dort gedieh er zu einem richtig guten Fußballer. Zweimal stieg der Mittelstürmer mit dem starken linken Fuß mit Rhenania Würselen auf, 1948 gar in die Oberliga West. Im Entscheidungsspiel gegen den 1. FC Köln schoss er das goldene Tor zum 1:0, und der Bundestrainer im Wartestand, Sepp Herberger, lud ihn zum Tee ein. Eine Auszeichnung und ein Versprechen. Fortan hatte er ein Auge auf den „Jupp“, der eigentlich Josef hieß, woraus im Rheinland automatisch ein Jupp wird. In seiner ersten Oberligasaison glückten ihm gleich zehn Treffer und Alemannia Aachen lockte ihn an den Tivoli. Auf Anhieb Stammspieler, traf er bis Sommer 1951 statistisch in fast jedem zweiten Spiel (26-mal in 59 Einsätzen).

„Gutes Material, dieser Junge“

Im Januar 1951 erschien ein Derwall-Porträt im Sport Magazin über den damals 22-Jährigen. Der Leser erfuhr, dass Derwall technischer Zeichner ist und mit seinem rechten Fuß wenig anfangen könne (Zitat: „Ich muss das zwingen“). Die Überschrift besteht jedoch aus einem Herberger-Zitat: „Gutes Material, dieser Junge“. Das erkannte auch Fortuna Düsseldorf, die Jupp 1953 abzuwerben versuchte. Der Westdeutsche Fußballverband verweigerte den Transfer mit der Begründung, er gefährde Alemannias Existenz. Er bestritt noch das DFB-Pokalfinale, das erste von fünf seines Lebens, und verlor trotz seines Tores gegen Rot-Weiss Essen in der Verlängerung 1:2. Ein böses Omen, Jupp Derwall sollte mit seinen Mannschaften als Spieler oder Trainer in Pokal-Finals stets unterliegen.

Eine Niederlage war auch das WFV-Urteil, das ihn 1953/54 zur Tatenlosigkeit verdammte. Der Verband sperrte ihn zunächst für zwei, in der Berufung dann für ein Jahr, weil er zur Fortuna wechselte. Es waren andere Zeiten, Wechsel hatten vor Einführung des Profifußballs oft etwas Unmoralisches. Jupp Derwall hat es dennoch nie bereut, denn schon in seinem ersten Jahr bei Fortuna avancierte er zum Nationalspieler. Im Herbst 1954 lud ihn Sepp Herberger nicht mehr nur zum Tee, sondern zum Vorbereitungslehrgang auf die Länderspiel-Premiere des amtierenden Weltmeisters in Wembley. Von den Berner Helden waren nur drei übrig geblieben. Trotzdem glaubte Derwall nicht so recht daran, dass er zu jener Elf gehören würde, die am 1. Dezember 1954 auflaufen sollte. Bis er sich quasi selbst aufstellte.

Zwei Einsätze im DFB-Trikot

In seiner Biografie schildert er, wie er nach einem schlechten Testspiel missmutig auf seinem Zimmer der Sportschule Grünwald saß und das Abendessen boykottierten wollte. Da klopfte es plötzlich an der Tür. „Ich rief etwas verärgert ‚Jaaa!’. Ich hatte in diesem Moment vermutet, dass es ein Mitspieler war. In der Tür stand leibhaftig Sepp Herberger, der Bundestrainer und Weltmeister von 1954, und fragte mich mit erstauntem Gesicht, völlig überrascht, mich im Bett zu finden, ob ich nicht zum Essen kommen wolle. Ich nuschelte etwas von: Hab' keinen Hunger, keine Lust, bin sauer, und so fort.“ Herberger wollte ihn besänftigen und forderte ihn erneut auf „jetzt kommen Sie nach unten und wir essen gemeinsam.“ Dann kam er noch einmal zurück und machte ihm das Abendessen auf seine typische Art schmackhaft: „Jupp, wolle Se spiele, in England?“. Derwall: „Ich glaubte in diesem Moment, mich tritt ein Pferd…In Sekundenbruchteilen war ich in meinem Trainingsanzug und sprang, vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter – es konnte losgehen.“

Leider war die Länderspielkarriere schneller zu Ende als gedacht. Nach einem zweiten Einsatz im März 1955 gegen Portugal kostete ihn der Blinddarm, der sich vier Tage vor dem Spiel gegen Italien meldete, das dritte Spiel. Er musste operiert werden, und die Konkurrenz schlief nicht. Mit zwei Länderspielen ging Jupp Derwall nur als einer unter vielen in die DFB-Annalen ein, zu wenig, um bundesweit populär zu werden. Und auf seinen Ruf als Pokal-Pechvogel konnte er getrost verzichten: 1957 und 1958 verlor er mit Fortuna gleich zweimal das Pokalfinale. Nachdem er 1958/59 für Fortuna so viele Oberliga-Tore wie nie schoss (17), nahm er eines der zahlreichen Auslandsangebote an, die ihn während seiner Düsseldorfer Zeit ereilten. Nach 242 Oberliga-Spielen und 96 Toren wechselte er 1959 in die Schweiz zu Aufsteiger FC Biel – als Spielertrainer.

Großer Erfolg an der ersten Station

Auf Anhieb wurde Derwall bei seinem ersten Trainerjob Vizemeister, eine echte Sensation. In den ersten 13 Spielen blieb der Aufsteiger ungeschlagen, was für einen Derwall nichts Außergewöhnliches war, wie sich zeigen sollte. Auch in Biel blieb ihm das Finalpech treu, 1960 unterlag er im Schweizer Pokal La Chaux-de-Fonds. Während seiner Zeit in der Schweiz, die er als Trainer beim FC Schaffhausen 1961/62 abschloss, stellte er die Weichen fürs Leben nach der Spielerzeit. Er machte sein Trainer-Diplom an der Sportschule in Magglingen und beim Skifahren die Bekanntschaft der Frau, die er später heiraten sollte: Elisabeth, die in Zürich als Verlagsleiterin arbeitete. Aber nicht sehr lange, denn die Heimat rief.

1962 holte Fortuna Düsseldorf Derwall zurück, nun „nur“ noch als Trainer. Zwei Jahre versuchte er, den damaligen Zweitligisten in die neue Bundesliga zu führen, schaffte es aber nicht. Dafür zog er mal wieder ins DFB-Pokalfinale ein, das Ende kann man sich denken. Gegen den 1. FC Nürnberg gab es im August 1962 ein unglückliches 1:2 nach Verlängerung, und Derwall stöhnte: „Mein Schicksal scheint es, in Pokal-Finals verlieren zu müssen.“ Aber noch einer bestimmte sein Schicksal: Sepp Herberger. Der scheidende Bundestrainer ordnete 1963 seinen Nachlass und schrieb Derwall einen Brief mit der Frage, ob er nicht Verbandstrainer des Saarlandes werden wollte. Derwall wollte und fand Gefallen an der Sichtung und Ausbildung von Talenten, an Lehrgängen und Seminaren. „Ich hatte mich für das Saarland entschieden, und ich bereute es nie. Es war keine Arbeit, bei der die Uhr den Tag bestimmte. Die zahlreichen Lehrgänge schenkten mir sehr viel Freude, und so mancher Spieler schaffte es vom Jugendauswahlspieler zur Jugend-Nationalmannschaft – und einige sogar zum Nationalspieler des DFB aufzusteigen“, schrieb Derwall in seinen Memoiren mit dem Titel „Fußball ist kein einfaches Spiel“. Im Saarland übte er quasi schon mal Bundestrainer.

Vom Saarland zum DFB

Ein Anruf von Hermann Neuberger im Dezember 1969 forcierte seine Karriere. Neuberger war damals nicht nur Verbandspräsident des Saarlands, sondern auch DFB-Vize. Er offerierte ihm die Stelle als Co-Trainer von Helmut Schön, der sich Derwall ausdrücklich gewünscht hatte. Neuberger: „Wir alle hier an der Saar sind mit Ihnen und Ihrer Arbeit sehr zufrieden. Aber es ist eine Chance für Sie – und ich meine, Sie haben Sie sich redlich verdient.“ Derwall nahm an und kam so zu seiner ersten WM-Teilnahme.

Am Verlauf der noch heute so legendären WM 1970 in Mexiko hatte er seinen Anteil. Kaum bekannt ist, dass er es war, der die bis dahin nicht sonderlich harmonierenden Mittelstürmer Gerd Müller und Uwe Seeler auf ein Zimmer legte. Schön hatte ihn mit der Zimmererteilung beauftragt, was Derwall eine schlaflose Nacht kostete. Dann ging er zu Seeler und fragte ihn, ob er mit Müller aufs Zimmer wolle. Uwe soll gesagt haben: „Also wenn der Gerd das möchte, dann wäre ich sofort dabei.“ Nun ging Derwall zu Müller und will dem gesagt haben, sein Kapitän würde gern mit ihm in Mexiko zusammen wohnen, und Müller tanzte fast vor Freude durchs Zimmer: „Ist das wahr, ist das wirklich wahr?“ Jeder glaubte nun, es ginge vom anderen aus. Mit diesem kleinen Trick brachte Derwall die Rivalen zusammen, die auch auf dem Platz endlich harmonierten und zusammen 13 Tore schossen. Auch an Schnellingers einzigem und so berühmtem Tor im Halbfinale gegen Italien hatte Derwall seinen Anteil. Er gab dem Verteidiger per Handzeichen das Kommando, nach vorne zu gehen.

Titel als Assistent, Titel als Chef

Derwall blieb der Assistent bei den großen Erfolgen der Schön-Ära: Europameister 1972, Weltmeister 1974 und EM-Zweiter 1976. Nebenher wurde Derwall 1974 Europameister der Amateure, für deren heute nicht mehr existierende Auswahl er auch zuständig war. Das Finale 1974 gewann er zwar auch wieder nicht, aber er verlor es auch nicht – es wurde wegen eines Wolkenbruchs abgesagt, und die UEFA erklärte beide Finalisten (Jugoslawien und Deutschland) zu Siegern. Dennoch, endlich ein Titel für den Trainer Jupp Derwall.

Als er 1978 Bundestrainer wurde, kam der zweite gleich hinzu. Trotz aller Skepsis. Ungeschlagen marschierte die neuformierte DFB-Auswahl durch die Qualifikation und die Endrunde in Italien. Am 22. Juni 1980 gewann sie das Finale von Rom gegen Belgien mit 2:1, und nun verstummten die Derwall-Kritiker plötzlich. Im „Holiday Inn St. Peter“ zu Rom sah man ihn, eine Zigarre rauchend, vor einer Reporterschar. Er hatte tatsächlich ein Finale gewonnen und dann gleich das bei einer Europameisterschaft – mit der jüngsten Mannschaft des Turniers zudem. „Nein, ich kann es immer noch nicht fassen. Da braucht man Zeit dazu, bis man so was richtig kapiert!“.

„Kein Dompteur, sondern ein Berater“

Die Experten brauchten es auch. Konnte man wirklich mit „antiautoritärer Erziehung“, mit kumpelhafter Art hartgesottenen Profis Beine machen? Gewiss, auch Helmut Schön war kein Diktator oder Zuchtmeister alter Schule gewesen – aber war er nicht genau deshalb in Argentinien gescheitert an der neuen Spielergeneration? Die Stuttgarter Zeitung schrieb: „Derwalls vermeintliche Schwäche entpuppte sich als Stärke. Derwall kommt an, den Spielern gefällt sein neuer Stil. Da ist plötzlich einer, der sie nicht nur als Fußballer, sondern auch als Mensch ernst nimmt. Kein Dompteur, sondern ein Berater.“

Derwall, der Friedliebende, stand zu seiner Art der Menschenführung: „Ich habe keine Schwierigkeiten mit Spielern. Ich bin in der Lage, sie einfach anzusprechen und alles mit ihnen besprechen zu können. Ich will die Spieler zu einer Art von Selbsterziehung anhalten und ihnen mein Vertrauen geben. Ich bin überzeugt, dass sich das auch auf dem Spielfeld auszahlt.“ 1980 war das gewiss so, am Ende des Jahres war er als Bundestrainer noch immer ungeschlagen und seine Mannschaft seit 23 Spielen – es ist noch immer die längste Serie der DFB-Historie: Sie riss bei der Mini-WM Anfang 1981 in Uruguay, doch das war kein Beinbruch. Zur WM 1982 fuhr Deutschland nach acht Siegen in acht Spielen als Top-Favorit.

Vizeweltmeister – trotz einiger Misstöne

In Spanien lief bekanntlich einiges schief, hier machte sich Derwalls Gutmütigkeit nicht bezahlt. Die Disziplin litt etwas, und Deutschland quälte sich durch das Turnier. Mit den Tugenden einer Turniermannschaft erreichte man trotzdem das Finale von Madrid, verließ Stadt und Land aber als zweiter Sieger – 1:3 gegen Italien. Selten hat ein Vize-Weltmeister weniger Beifall im eigenen Land erhalten, Derwall war gekränkt denn er war „im Stillen stolz auf meine Spieler, die alles gegeben hatten“. Doch negative Begleiterscheinungen wie der Fall Battiston oder das Ballgeschiebe von Gijon gegen Österreich trübten das Gesamt-Bild. Nach der internen Manöverkritik am 30. Oktober 1982 schrieb Derwall dem DFB-Vorstand: „Es wäre schön, wenn bei aller tiefschürfenden Kritik an dieser Weltmeisterschaft das Resultat eines Vize-Weltmeistertitels nicht ganz vergessen würde und wir die Chance nutzen würden, auch der Mannschaft das Gefühl zu geben, etwas geleistet zu haben.“

Nach der EM 1984, als Deutschland durch ein Tor in letzter Minute gegen Spanien schon in der Vorrunde ausschied, fiel das öffentliche Echo noch härter aus, und Jupp Derwall trat unter dem Druck zurück. Seine Bilanz jedoch ist erwähnenswert: 67 Spiele, 45 Siege, elf Unentschieden, elf Niederlagen, ein Europameister-Titel, Platz zwei bei einer WM und ein Rekord (vielleicht) für die Ewigkeit.

Verehrt und geehrt in der Türkei

Es ist tröstlich, dass Jupp Derwalls Trainer-Karriere noch einige Höhepunkte beinhalten sollte. Fünf Jahre arbeitete er noch in der Türkei, später auch als Technischer Direktor, bei Galatasaray Istanbul. Dort wurde er nach zwei Meisterschaften (1987, 1988) und einem Pokalsieg (1985) wie ein Volksheld verehrt. Der Trainingsplatz auf dem Klubgelände trägt seinen Namen, und am 28. September 1989 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Hacettepe-Universität Ankara, auch für seine „Verdienste um die friedensfördernden deutsch-türkischen sportlichen Beziehungen sowie der Verwissenschaftlichung des Fußballsports“.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Auch sein Heimatland wusste Derwalls Lebensleistung zu würdigen. Er erhielt 1989 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, 1992 die Goldene Ehrennadel des DFB, der ihm auch einen Tagungssaal in der Zentrale gewidmet hat. Und in Würselen, wo 1927 alles begann, heißt eine Straße nach dem berühmten Sohn, der am 26. Juni 2007 in St. Ingbert verstarb.

Das meinen DFB.de-User:

"Ein Trainer, der ohne viel "Nebentrainer" viel erreicht hat und vor allen Dingen mit relativ jungen Spielern viel für Deutschland erreicht hat." (Gesine Vritschan, Köln)

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Als Jupp Derwall heute vor 85 Jahren auf die Welt kam, war sein künftiger Beruf gerade erst in Mode gekommen. Seit vier Monaten trainierte Otto Nerz die deutsche Nationalmannschaft, die zuvor gar 18 Jahre ohne Trainer ausgekommen war. Als er im Alter von 51 Jahren sein Debüt auf der Bank gab, war er erst der vierte Bundestrainer und trug doch schon einen schweren Rucksack. Zwei Weltmeisterschaften und eine Europameisterschaft hatte die Nationalelf unter seinen Vorgängern gewonnen, kein WM-Turnier verpasst und nach der Enttäuschung bei der WM 1978 in Argentinien dürstete die Nation nach Wiedergutmachung.

War Jupp Derwall, der stets freundliche rheinische Jung' aus Würselen bei Aachen, dafür der Richtige? Wer war er überhaupt? Für die Bild-Zeitung nur „eine Übergangslösung“, für ihren scharfzüngigen Kolumnisten Max Merkel ein Mann mit lediglich äußerlichen Vorzügen. „So schön wie Jupp Derwall ist noch kein Bundestrainer gewesen. Ob allerdings Häuptling ondulierte Silberlocke auch ein großer Bundestrainer wird, muss stark bezweifelt werden. Bis zu seinem 53. Lebensjahr hat der Mann nämlich noch keinen Blumentopf gewonnen“, schrieb sein nicht sonderlich kollegialer Kollege vor Derwalls erstem Turnier, der EM 1980 in Italien.

Torjäger in Würselen und Aachen

Derwall war eben kein Beckenbauer oder Uwe Seeler, kein Unantastbarer. Er war die damals klassische DFB-Lösung – der aufrückende Co-Trainer. Dass sich Jupp Derwall im Fußball dennoch schon vor 1978 seine Meriten verdient hatte, wussten sie beim DFB, aber nicht in jeder Redaktionsstube. In Zeiten vor dem Internet blieb vieles verborgen, was erwähnenswerter gewesen wäre als all das, was heute in Sekundenschnelle durch die ganze Welt gejagt wird. Jupp Derwall, Sohn eines Obersekretärs bei der Reichsbahn, hatte das Pech, in der Zeit des Nationalsozialismus aufzuwachsen und noch mit 17 in den Krieg zu müssen. Er geriet in französische Gefangenschaft und entkam durch den Sprung von einem Güterwagen der vorbestimmten Arbeit in einem Bergwerk. Er fand seine Eltern wieder und kehrte in die Heimat zurück.

Dort gedieh er zu einem richtig guten Fußballer. Zweimal stieg der Mittelstürmer mit dem starken linken Fuß mit Rhenania Würselen auf, 1948 gar in die Oberliga West. Im Entscheidungsspiel gegen den 1. FC Köln schoss er das goldene Tor zum 1:0, und der Bundestrainer im Wartestand, Sepp Herberger, lud ihn zum Tee ein. Eine Auszeichnung und ein Versprechen. Fortan hatte er ein Auge auf den „Jupp“, der eigentlich Josef hieß, woraus im Rheinland automatisch ein Jupp wird. In seiner ersten Oberligasaison glückten ihm gleich zehn Treffer und Alemannia Aachen lockte ihn an den Tivoli. Auf Anhieb Stammspieler, traf er bis Sommer 1951 statistisch in fast jedem zweiten Spiel (26-mal in 59 Einsätzen).

„Gutes Material, dieser Junge“

Im Januar 1951 erschien ein Derwall-Porträt im Sport Magazin über den damals 22-Jährigen. Der Leser erfuhr, dass Derwall technischer Zeichner ist und mit seinem rechten Fuß wenig anfangen könne (Zitat: „Ich muss das zwingen“). Die Überschrift besteht jedoch aus einem Herberger-Zitat: „Gutes Material, dieser Junge“. Das erkannte auch Fortuna Düsseldorf, die Jupp 1953 abzuwerben versuchte. Der Westdeutsche Fußballverband verweigerte den Transfer mit der Begründung, er gefährde Alemannias Existenz. Er bestritt noch das DFB-Pokalfinale, das erste von fünf seines Lebens, und verlor trotz seines Tores gegen Rot-Weiss Essen in der Verlängerung 1:2. Ein böses Omen, Jupp Derwall sollte mit seinen Mannschaften als Spieler oder Trainer in Pokal-Finals stets unterliegen.

Eine Niederlage war auch das WFV-Urteil, das ihn 1953/54 zur Tatenlosigkeit verdammte. Der Verband sperrte ihn zunächst für zwei, in der Berufung dann für ein Jahr, weil er zur Fortuna wechselte. Es waren andere Zeiten, Wechsel hatten vor Einführung des Profifußballs oft etwas Unmoralisches. Jupp Derwall hat es dennoch nie bereut, denn schon in seinem ersten Jahr bei Fortuna avancierte er zum Nationalspieler. Im Herbst 1954 lud ihn Sepp Herberger nicht mehr nur zum Tee, sondern zum Vorbereitungslehrgang auf die Länderspiel-Premiere des amtierenden Weltmeisters in Wembley. Von den Berner Helden waren nur drei übrig geblieben. Trotzdem glaubte Derwall nicht so recht daran, dass er zu jener Elf gehören würde, die am 1. Dezember 1954 auflaufen sollte. Bis er sich quasi selbst aufstellte.

Zwei Einsätze im DFB-Trikot

In seiner Biografie schildert er, wie er nach einem schlechten Testspiel missmutig auf seinem Zimmer der Sportschule Grünwald saß und das Abendessen boykottierten wollte. Da klopfte es plötzlich an der Tür. „Ich rief etwas verärgert ‚Jaaa!’. Ich hatte in diesem Moment vermutet, dass es ein Mitspieler war. In der Tür stand leibhaftig Sepp Herberger, der Bundestrainer und Weltmeister von 1954, und fragte mich mit erstauntem Gesicht, völlig überrascht, mich im Bett zu finden, ob ich nicht zum Essen kommen wolle. Ich nuschelte etwas von: Hab' keinen Hunger, keine Lust, bin sauer, und so fort.“ Herberger wollte ihn besänftigen und forderte ihn erneut auf „jetzt kommen Sie nach unten und wir essen gemeinsam.“ Dann kam er noch einmal zurück und machte ihm das Abendessen auf seine typische Art schmackhaft: „Jupp, wolle Se spiele, in England?“. Derwall: „Ich glaubte in diesem Moment, mich tritt ein Pferd…In Sekundenbruchteilen war ich in meinem Trainingsanzug und sprang, vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter – es konnte losgehen.“

Leider war die Länderspielkarriere schneller zu Ende als gedacht. Nach einem zweiten Einsatz im März 1955 gegen Portugal kostete ihn der Blinddarm, der sich vier Tage vor dem Spiel gegen Italien meldete, das dritte Spiel. Er musste operiert werden, und die Konkurrenz schlief nicht. Mit zwei Länderspielen ging Jupp Derwall nur als einer unter vielen in die DFB-Annalen ein, zu wenig, um bundesweit populär zu werden. Und auf seinen Ruf als Pokal-Pechvogel konnte er getrost verzichten: 1957 und 1958 verlor er mit Fortuna gleich zweimal das Pokalfinale. Nachdem er 1958/59 für Fortuna so viele Oberliga-Tore wie nie schoss (17), nahm er eines der zahlreichen Auslandsangebote an, die ihn während seiner Düsseldorfer Zeit ereilten. Nach 242 Oberliga-Spielen und 96 Toren wechselte er 1959 in die Schweiz zu Aufsteiger FC Biel – als Spielertrainer.

Großer Erfolg an der ersten Station

Auf Anhieb wurde Derwall bei seinem ersten Trainerjob Vizemeister, eine echte Sensation. In den ersten 13 Spielen blieb der Aufsteiger ungeschlagen, was für einen Derwall nichts Außergewöhnliches war, wie sich zeigen sollte. Auch in Biel blieb ihm das Finalpech treu, 1960 unterlag er im Schweizer Pokal La Chaux-de-Fonds. Während seiner Zeit in der Schweiz, die er als Trainer beim FC Schaffhausen 1961/62 abschloss, stellte er die Weichen fürs Leben nach der Spielerzeit. Er machte sein Trainer-Diplom an der Sportschule in Magglingen und beim Skifahren die Bekanntschaft der Frau, die er später heiraten sollte: Elisabeth, die in Zürich als Verlagsleiterin arbeitete. Aber nicht sehr lange, denn die Heimat rief.

1962 holte Fortuna Düsseldorf Derwall zurück, nun „nur“ noch als Trainer. Zwei Jahre versuchte er, den damaligen Zweitligisten in die neue Bundesliga zu führen, schaffte es aber nicht. Dafür zog er mal wieder ins DFB-Pokalfinale ein, das Ende kann man sich denken. Gegen den 1. FC Nürnberg gab es im August 1962 ein unglückliches 1:2 nach Verlängerung, und Derwall stöhnte: „Mein Schicksal scheint es, in Pokal-Finals verlieren zu müssen.“ Aber noch einer bestimmte sein Schicksal: Sepp Herberger. Der scheidende Bundestrainer ordnete 1963 seinen Nachlass und schrieb Derwall einen Brief mit der Frage, ob er nicht Verbandstrainer des Saarlandes werden wollte. Derwall wollte und fand Gefallen an der Sichtung und Ausbildung von Talenten, an Lehrgängen und Seminaren. „Ich hatte mich für das Saarland entschieden, und ich bereute es nie. Es war keine Arbeit, bei der die Uhr den Tag bestimmte. Die zahlreichen Lehrgänge schenkten mir sehr viel Freude, und so mancher Spieler schaffte es vom Jugendauswahlspieler zur Jugend-Nationalmannschaft – und einige sogar zum Nationalspieler des DFB aufzusteigen“, schrieb Derwall in seinen Memoiren mit dem Titel „Fußball ist kein einfaches Spiel“. Im Saarland übte er quasi schon mal Bundestrainer.

Vom Saarland zum DFB

Ein Anruf von Hermann Neuberger im Dezember 1969 forcierte seine Karriere. Neuberger war damals nicht nur Verbandspräsident des Saarlands, sondern auch DFB-Vize. Er offerierte ihm die Stelle als Co-Trainer von Helmut Schön, der sich Derwall ausdrücklich gewünscht hatte. Neuberger: „Wir alle hier an der Saar sind mit Ihnen und Ihrer Arbeit sehr zufrieden. Aber es ist eine Chance für Sie – und ich meine, Sie haben Sie sich redlich verdient.“ Derwall nahm an und kam so zu seiner ersten WM-Teilnahme.

Am Verlauf der noch heute so legendären WM 1970 in Mexiko hatte er seinen Anteil. Kaum bekannt ist, dass er es war, der die bis dahin nicht sonderlich harmonierenden Mittelstürmer Gerd Müller und Uwe Seeler auf ein Zimmer legte. Schön hatte ihn mit der Zimmererteilung beauftragt, was Derwall eine schlaflose Nacht kostete. Dann ging er zu Seeler und fragte ihn, ob er mit Müller aufs Zimmer wolle. Uwe soll gesagt haben: „Also wenn der Gerd das möchte, dann wäre ich sofort dabei.“ Nun ging Derwall zu Müller und will dem gesagt haben, sein Kapitän würde gern mit ihm in Mexiko zusammen wohnen, und Müller tanzte fast vor Freude durchs Zimmer: „Ist das wahr, ist das wirklich wahr?“ Jeder glaubte nun, es ginge vom anderen aus. Mit diesem kleinen Trick brachte Derwall die Rivalen zusammen, die auch auf dem Platz endlich harmonierten und zusammen 13 Tore schossen. Auch an Schnellingers einzigem und so berühmtem Tor im Halbfinale gegen Italien hatte Derwall seinen Anteil. Er gab dem Verteidiger per Handzeichen das Kommando, nach vorne zu gehen.

Titel als Assistent, Titel als Chef

Derwall blieb der Assistent bei den großen Erfolgen der Schön-Ära: Europameister 1972, Weltmeister 1974 und EM-Zweiter 1976. Nebenher wurde Derwall 1974 Europameister der Amateure, für deren heute nicht mehr existierende Auswahl er auch zuständig war. Das Finale 1974 gewann er zwar auch wieder nicht, aber er verlor es auch nicht – es wurde wegen eines Wolkenbruchs abgesagt, und die UEFA erklärte beide Finalisten (Jugoslawien und Deutschland) zu Siegern. Dennoch, endlich ein Titel für den Trainer Jupp Derwall.

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Als er 1978 Bundestrainer wurde, kam der zweite gleich hinzu. Trotz aller Skepsis. Ungeschlagen marschierte die neuformierte DFB-Auswahl durch die Qualifikation und die Endrunde in Italien. Am 22. Juni 1980 gewann sie das Finale von Rom gegen Belgien mit 2:1, und nun verstummten die Derwall-Kritiker plötzlich. Im „Holiday Inn St. Peter“ zu Rom sah man ihn, eine Zigarre rauchend, vor einer Reporterschar. Er hatte tatsächlich ein Finale gewonnen und dann gleich das bei einer Europameisterschaft – mit der jüngsten Mannschaft des Turniers zudem. „Nein, ich kann es immer noch nicht fassen. Da braucht man Zeit dazu, bis man so was richtig kapiert!“.

„Kein Dompteur, sondern ein Berater“

Die Experten brauchten es auch. Konnte man wirklich mit „antiautoritärer Erziehung“, mit kumpelhafter Art hartgesottenen Profis Beine machen? Gewiss, auch Helmut Schön war kein Diktator oder Zuchtmeister alter Schule gewesen – aber war er nicht genau deshalb in Argentinien gescheitert an der neuen Spielergeneration? Die Stuttgarter Zeitung schrieb: „Derwalls vermeintliche Schwäche entpuppte sich als Stärke. Derwall kommt an, den Spielern gefällt sein neuer Stil. Da ist plötzlich einer, der sie nicht nur als Fußballer, sondern auch als Mensch ernst nimmt. Kein Dompteur, sondern ein Berater.“

Derwall, der Friedliebende, stand zu seiner Art der Menschenführung: „Ich habe keine Schwierigkeiten mit Spielern. Ich bin in der Lage, sie einfach anzusprechen und alles mit ihnen besprechen zu können. Ich will die Spieler zu einer Art von Selbsterziehung anhalten und ihnen mein Vertrauen geben. Ich bin überzeugt, dass sich das auch auf dem Spielfeld auszahlt.“ 1980 war das gewiss so, am Ende des Jahres war er als Bundestrainer noch immer ungeschlagen und seine Mannschaft seit 23 Spielen – es ist noch immer die längste Serie der DFB-Historie: Sie riss bei der Mini-WM Anfang 1981 in Uruguay, doch das war kein Beinbruch. Zur WM 1982 fuhr Deutschland nach acht Siegen in acht Spielen als Top-Favorit.

Vizeweltmeister – trotz einiger Misstöne

In Spanien lief bekanntlich einiges schief, hier machte sich Derwalls Gutmütigkeit nicht bezahlt. Die Disziplin litt etwas, und Deutschland quälte sich durch das Turnier. Mit den Tugenden einer Turniermannschaft erreichte man trotzdem das Finale von Madrid, verließ Stadt und Land aber als zweiter Sieger – 1:3 gegen Italien. Selten hat ein Vize-Weltmeister weniger Beifall im eigenen Land erhalten, Derwall war gekränkt denn er war „im Stillen stolz auf meine Spieler, die alles gegeben hatten“. Doch negative Begleiterscheinungen wie der Fall Battiston oder das Ballgeschiebe von Gijon gegen Österreich trübten das Gesamt-Bild. Nach der internen Manöverkritik am 30. Oktober 1982 schrieb Derwall dem DFB-Vorstand: „Es wäre schön, wenn bei aller tiefschürfenden Kritik an dieser Weltmeisterschaft das Resultat eines Vize-Weltmeistertitels nicht ganz vergessen würde und wir die Chance nutzen würden, auch der Mannschaft das Gefühl zu geben, etwas geleistet zu haben.“

Nach der EM 1984, als Deutschland durch ein Tor in letzter Minute gegen Spanien schon in der Vorrunde ausschied, fiel das öffentliche Echo noch härter aus, und Jupp Derwall trat unter dem Druck zurück. Seine Bilanz jedoch ist erwähnenswert: 67 Spiele, 45 Siege, elf Unentschieden, elf Niederlagen, ein Europameister-Titel, Platz zwei bei einer WM und ein Rekord (vielleicht) für die Ewigkeit.

Verehrt und geehrt in der Türkei

Es ist tröstlich, dass Jupp Derwalls Trainer-Karriere noch einige Höhepunkte beinhalten sollte. Fünf Jahre arbeitete er noch in der Türkei, später auch als Technischer Direktor, bei Galatasaray Istanbul. Dort wurde er nach zwei Meisterschaften (1987, 1988) und einem Pokalsieg (1985) wie ein Volksheld verehrt. Der Trainingsplatz auf dem Klubgelände trägt seinen Namen, und am 28. September 1989 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Hacettepe-Universität Ankara, auch für seine „Verdienste um die friedensfördernden deutsch-türkischen sportlichen Beziehungen sowie der Verwissenschaftlichung des Fußballsports“.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Auch sein Heimatland wusste Derwalls Lebensleistung zu würdigen. Er erhielt 1989 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, 1992 die Goldene Ehrennadel des DFB, der ihm auch einen Tagungssaal in der Zentrale gewidmet hat. Und in Würselen, wo 1927 alles begann, heißt eine Straße nach dem berühmten Sohn, der am 26. Juni 2007 in St. Ingbert verstarb.

Das meinen DFB.de-User:

"Ein Trainer, der ohne viel "Nebentrainer" viel erreicht hat und vor allen Dingen mit relativ jungen Spielern viel für Deutschland erreicht hat." (Gesine Vritschan, Köln)