Coaching – mehr als nur beobachten

Wenn ein Bundesliga-Schiedsrichter nach einem Spiel seine Leistung reflektiert, dann interessiert ihn weniger die Meinung der Medien, auch nicht die der Fans oder der Spieler. Viel wichtiger ist ihm die Einschätzung des Experten auf der Tribüne: Der sogenannte "Schiedsrichter-Coach" analysiert die Leistung des Unparteiischen und gibt ihm nach dem Spiel wertvolle Ratschläge. Bianca Riedl, Mitarbeiterin der Schiedsrichter-Zeitung, hat Coach Rainer Werthmann zu einem Bundesliga-Spiel "auf Schalke" begleitet.

Fans strömen in Massen zu den Eingängen, dick eingepackt in Jacken, Handschuhe an und Mützen auf. Die Schals tun heute ihren Dienst nicht nur als Fan-Utensil. Es ist der zweite Februar-Tag, und eisiger Wind pfeift über die blau-weißen Fangruppen hinweg, die dem bevorstehenden Bundesliga-Spiel zwischen Schalke und Greuther Fürth entgegenfiebern.

14.00 Uhr: Unbeachtet von den Wartenden gelangt Rainer Werthmann in den Eingangsbereich. Zielstrebig schreitet der hochgewachsene Mann durch die Eingangshalle zur Rolltreppe, die direkt in die Katakomben hinunterführt.

Er braucht nur wenige Schritte, dann ist er den Gang entlang an den vielen Ordnern vorbei und klopft energisch an die Kabinentür. Nach kurzem Warten wird sie geöffnet, und Rainer betritt die Schiedsrichter-Kabine. Die Assis­tenten Martin Petersen und Thomas Gorniak sowie der Vierte Offizielle Thorsten Schriever erwarten ihn bereits. "Ich bin seit sechseinhalb Jahren raus aus dem Aktiven-Dasein", erläutert Werthmann, "aber ich kann mich noch genau an die Anspannung vor dem Spiel erinnern." Er versuche daher immer, gute Laune zu verbreiten, um dem Team die Nervosität ein wenig zu nehmen. Überhaupt sei es seine wichtigste Aufgabe, die vier Unparteiischen in jeder Form zu unterstützen.

Bastian und Rainer kennen und schätzen sich

Ein Klopfen unterbricht ihn, und Bastian Dankert, der Schiedsrichter des heutigen Spiels, tritt ein. Als er Rainer sieht, lächelt er, und beide begrüßen sich herzlich. Man merkt schnell, dass sie sich kennen und schätzen: Rainer Werthmann ist zugleich auch Bastians Individual-Coach. Er verfolgt die Entwicklung seines Schützlings über die ganze Saison, gibt ihm Tipps und begleitet seinen Werdegang. Die Stimmung in der Kabine ist gut, und während die Schiedsrichter für die Massage vor dem Spiel abwechselnd den Raum verlassen (eine Maßnahme, die es seit Beginn dieser Saison in der Bundesliga gibt), wird sich unterhalten, die Jungs ziehen sich um, und es wird auch mal gelacht. Bereits zwei Stunden vor dem Spiel waren die Schiedsrichter im Stadion und haben die vielen Dinge, die vor einem solchen Spiel anstehen, längst erledigt: Abgleichen der Trikotfarben, Kontrolle des Platz­aufbaus, kurze Gespräche mit beiden Trainern. "Die Zeit rennt", merkt Bastian an, "langweilig wird es nie."

14.30 Uhr: Wieder klopft es an der Tür: Die Mannschafts-Aufstellungen sind da und werden jedem der Beteiligten in die Hand gedrückt. Sofort fangen die Assistenten und der Schiedsrichter an, die Aufstellungen beider Mannschaften zu diskutieren. Jetzt ist es noch eine Stunde bis zum Spielbeginn, eine halbe Stunde vor Anpfiff werden die Schiedsrichter zum Warmlaufen gehen. Ein letztes Mal wendet sich der Beobachter an das Team und verkündet lächelnd, dass er ja vielleicht gar nichts zu arbeiten habe. Vorausgesetzt, Bastian und seine Helfer machen alles richtig. Lachen schallt durch den Raum, und nach einem letzten Handschlag für jeden verlässt Rainer die Kabine.

"Etwa eine Stunde vor Spielbeginn beginnt die Konzentrationsphase"

Er wird wieder ernst: "Etwa eine Stunde vor Spielbeginn beginnt die Konzentrationsphase. Sie dient der mentalen Vorbereitung, und in dieser Zeit sollte man das Team möglichst alleine lassen." Jeder bereite sich unterschiedlich auf das Spiel vor. Es gebe Schiedsrichter, die – ähnlich wie ein Tour-de-France-Fahrer alle Etappen-Schwierigkeiten im Kopf durchgeht – sich mit möglichen Situationen im Spiel befassen. Es gebe andere, die eine Art Tunnelblick entwickeln. Er selbst, erzählt Rainer Werthmann, habe es gerne gehabt, wenn bis kurz vor Spielbeginn noch Witze erzählt wurden. Mit dem Anpfiff waren dann auf einen Schlag die Ernsthaftigkeit und Konzentration im Team da. Auch in seiner jetzigen Rolle sei es ihm wichtig, die Situation zu entspannen: "Die stehen alle schon derart stark unter Druck. Als Beobachter zusätzlichen Druck aufzubauen, ist da das Verkehrteste, was man machen kann."

Während wir uns durch die gut gefüllte VIP-Lounge unseren Weg bahnen (Schiedsrichter-Coaches haben zu allen Stadion-Bereichen Zutritt), erzählt Rainer seinen Werdegang. Mit 15 sei er Schiedsrichter geworden, dank der Überredungskünste seines Vaters. Einmal Schiedsrichter, habe es ihm immer mehr Spaß gemacht, und er habe schnell erkannt: "Hier kannst du viel mehr erreichen, als wenn du aktiver Spieler bleibst." Eine richtige Erkenntnis, schließlich schaffte er es bis in die Bundesliga. Mit 47 Jahren, der Altersgrenze für Top-Schiedsrichter, habe er sich dann entschieden, als Lehrwart junge Schiedsrichter weiterzubilden. Das ist auch kein Wunder, denn Rainer Werthmann ist auch im "richtigen Leben" Lehrer. Seit fast sechs Jahren gehört er dem Verbands-Schiedsrichter-Ausschuss Westfalen an und ist seit zwei Jahren Coach.

14.45 Uhr: Wir haben noch Zeit für ein Getränk. Es gehe ihm bei dieser Aufgabe nicht darum, alles perfekt zu machen. Das könne man gar nicht, weil es so viele verschiedene Herangehensweisen gebe. Ziel sei es vielmehr, dass möglichst jeder seiner Schützlinge aus seinen Anmerkungen etwas mitnehmen könne. Auf die Frage, ob es auch Schiedsrichter gebe, die seine Kritik nicht annehmen, schmunzelt Rainer: "Mit mir war es früher auch nicht immer einfach, denn ich wollte die Hinweise von erfahrenen Beobachtern manchmal auch nicht wahrhaben." Deswegen habe er für solche Reaktionen Verständnis. Er versuche stets, den Schiedsrichtern das Gefühl zu geben, dass er nicht auf Gegenkurs sei, sondern dass das Aufzeigen einer anderen Perspektive durchaus hilfreich sein kann. "Ich interessiere mich immer für die Sichtweise des Schiedsrichters." Deshalb frage er ihn auch zu Beginn der Besprechung, was er in dieser oder jener Situation mit den Spielern kommuniziert habe. So versuche er, sich ein genaueres Bild von der Situation auf dem Rasen zu machen.

Die Entwicklung unterstützen, statt Erbsen zu zählen

"Die große Mehrheit der Schiedsrichter ist sehr selbstkritisch und offen für fachliche Hinweise", betont Rainer. "Manche haben sogar eine so überzeugende Eigeneinschätzung, dass ich schon die Mappe zugeklappt und gesagt habe: perfekt!" Generell komme er mit allen Aktiven gut klar: "Ich versuche stets deutlich zu machen, dass ich kein Erbsenzähler bin, sondern jemand, der sie bei ihrer weiteren Entwicklung unterstützt. Nur das ist entscheidend. Zu Hause muss sich dann jeder selbst überlegen, ob er etwas mit meinen Tipps anfangen kann."

Auf die Frage, wie groß denn bei der Beurteilung strittiger Szenen der Ermessensbereich sei, wird der Schiedsrichter-Beobachter ernst: "Die Arbeit hat sich stark verändert durch die Medien und die fast perfekte Fernseh-Technik. Während früher bei einer Abseits-Entscheidung zwei, drei Meter eine Rolle spielten, diskutieren wir heute über Entscheidungen, bei denen sich einzelne Körperteile im Abseits befinden oder auch nicht." Bei solchen Szenen müsse man schauen, dass die Verhältnismäßigkeit gewahrt werde, unterstreicht Werthmann. Jeder Assis­tent werde ehrlich zugeben müssen, dass immer auch ein bisschen Glück dazugehöre. "Ich habe auf meinem Tribünenplatz die Möglichkeit, mir die Szene noch einmal in Zeitlupe anzusehen, das sind natürlich ganz andere Bedingungen als für das Schiedsrichter-Team unten auf dem Rasen." Hier sei es wichtig, betont Rainer, "zu versuchen, ehrlich zu sein und auseinanderzuhalten, was mir wirklich live beim Spiel aufgefallen ist und was ich danach in der Zeitlupe gesehen habe." An letzterem könne man den Schiedsrichter nicht messen. "Natürlich gibt es auch teilweise Entscheidungen, bei denen ich sage, dass ich sie mittrage, obwohl ich selbst anders entschieden hätte."

15.25 Uhr: Der Schiedsrichter-Beobachter schaut auf seine Uhr: "Gleich ist Anpfiff, wir müssen los." Während wir auf der Pressetribüne Platz genommen haben, betreten die Unparteiischen den Rasen, an der Hand den Fußball-Nachwuchs. Rainer Werthmann richtet sich auf, sein Blick ist ab jetzt fest auf das Spielfeld gerichtet. Seit der Schiedsrichter und seine Assistenten auf dem Rasen sind, signalisiert die Körperhaltung des Beobachters höchste Konzentration. Vor ihm liegt ein leerer Bogen, vorbereitet für die Spiel-Notizen. In einer Zeile ganz oben ist Platz für die Fouls, weiter unten finden sich die Kommentare zu den beiden Schiedsrichter-Assistenten. Der ganze Mittelteil ist frei für Anmerkungen zu den Schiedsrichter-Entscheidungen.

15.30 Uhr: Anpfiff. Die Gesänge der Fans erschallen im Stadion. Der Blick des Schiedsrichter-Beobachters weicht nicht vom Rasen und verfolgt gebannt das Geschehen. Kaum fällt Bastian Dankert seine erste wichtige Entscheidung, lehnt sich sein Coach vor und schaut sich auf den Bildschirmen eine Reihe vor ihm die Szene noch einmal in Zeitlupe an. Dann schreibt er die erste Notiz auf seinen Bogen. In sauberer, ordentlicher Schrift notiert er seine Gedanken zu der Szene. Während des Spiels wird die Situation deutlich, die Rainer vorher angedeutet hatte: Nach jedem Pfiff richtet sich sein Blick automatisch auf die Bildschirme vor ihm. Er betrachtet die Szene zunächst zeitversetzt und dann noch einmal in der Wiederholung. Während Rainer seine Notizen verfasst, geht es auf dem Rasen in Sekundenschnelle weiter. Bastian hat keine Zeit, lange nachzudenken, ruck­zuck muss er seine Konzentration auf die nächste Situation fokussieren. Das Blatt seines Beobachters füllt sich schnell. Zu jeder Szene ist die Zeitangabe auf dem Monitor notiert: "So können wir die Szene nachher in der Besprechung schneller wiederfinden und gezielt unter die Lupe nehmen."

Der Bogen füllt sich mit Notizen

Schriftlich festgehalten hat Rainer Situationen, die Bastian gut entschieden hat. Kommentare wie "hart, aber fair" zieren den Rand, aber auch Situationen, die kritikwürdig sind. "Darüber müssen wir nachher reden", sagt der Beobachter. In diesem Moment beendet Bastian Dankert unten auf dem Rasen mit einem lauten Pfiff die erste Halbzeit, Spielstand: 0:0.

16.16 Uhr: Während die Fans zu den Toiletten oder Bierständen strömen, erläutert uns Rainer seine Sicht auf die erste Halbzeit: "Als Schiedsrichter ist es wichtig, eine klare Linie zu fahren. Für die Spieler sollte es berechenbar sein, in welchen Situationen er das Spiel unterbricht." Bastian habe zu Beginn sehr großzügig gepfiffen, sei aber in der letzten Szene eher kleinlich gewesen. "Diese Situation werde ich sicher mit ihm besprechen", meint der Beobachter ruhig. Er zeigt den Kommentar "nicht zu viel laufen lassen" auf seinem Block.

Mit der Gesamtleistung seines Schützlings ist er bis hierhin aber zufrieden: "Als Schiedsrichter muss man stets die Kommunikation als Mittel zur Deeskalation einsetzen", erklärt Rainer. Es sei wichtig, den Ton der Spieler zu treffen: "Das ist eine von Bastians Stärken. Deswegen rate ich ihm oft, das gezielt einzusetzen."

16.32 Uhr: Während unten das bisher torlose Spiel weiterläuft, erläutert der Coach die Situation: "Das ist jetzt eine sensible Phase, Bastian muss aufpassen, dass er außen vor bleibt und nicht zu sehr in den Fokus rückt." In diesem Moment fällt durch Michel Bastos das erste Tor, die Schalker fallen sich in die Arme. Sechs Minuten später schafft Felix Klaus allerdings den Ausgleich für die Fürther. Der Druck, der von beiden Mannschaften ausgeht, wird jetzt spürbar, Bastian muss immer häufiger eingreifen. Bei der Auswechslung von Julian Draxler in der 66. Minute entlädt sich der Frust der Schalke-Fans, wütende Pfiffe übertönen die Stadionansage. "Das ist jetzt genau das, was wir vorher besprochen haben", betont der Beobachter, "die Stimmung kippt und richtet sich gegen das eigene Team. Jetzt muss er die Konzentration besonders hochhalten, weil es zu Frustreaktionen der Heim-Mannschaft kommen kann." Bastian zeigt Nervenstärke und pfeift das Spiel weiter souverän.

Das verhängnisvolle 2:1 für Fürth

Die Nachspielzeit neigt sich schon dem Ende zu, als Djurdjic in der Nachspielzeit das 2:1 für das Schlusslicht Greuther Fürth schießt. Kaum ist das Spiel abgepfiffen, die wenigen Fürther Fans sind noch am Jubeln, da ist Rainer bereits verschwunden. Die Mitarbeiter der "Sportschau" in der Reihe vor uns diskutieren aufgeregt und spulen die Video-Aufnahmen zurück. Als der Schiedsrichter-Beobachter zurückkommt, bleibt ihm ein kurzer Satz zu uns, bevor er von Fragen bestürmt wird: "Das war Abseits." Nachdem er mit den Journalisten gesprochen hat, lässt sich Rainer Werthmann wieder auf seinem Platz nieder. "Ein spielentscheidendes Abseitstor ist natürlich ein gravierender Fehler, der sowohl in der öffentlichen als auch in meiner internen Bewertung ordentlich zu Buche schlägt", kommentiert der Schiedsrichter-Beobachter. "Allerdings muss man hier auch eindeutig differenzieren: Es war kein Fehler des Schiedsrichters, sondern des Assistenten."

Der Coach nimmt sich die Zeit, in Ruhe seine Notizen zu vervollständigen, und klappt anschließend die Mappe zu. "Jetzt muss ich den Finger in die Wunde legen, am Ende wird man an Einzel-Entscheidungen gemessen", meint er ernst, "Ich muss jetzt versuchen, Wege aufzuzeigen, wie ein solcher Fehler verhindert werden kann. Rückgängig machen kann man ihn nicht mehr." Und während sich das Stadion leert, macht sich Rainer auf den Weg zu den Unparteiischen, denn für die ist der Tag noch lange nicht zu Ende.

17.45 Uhr: Zurück in der Kabine wartet der Beobachter, bis alle Unparteiischen geduscht und umgezogen sind. Als sie erfahren, dass ein Abseitstor das Spiel entschieden hat, ist die Stimmung gedrückt. Bastian Dankert bringt es auf den Punkt: "Das ist wie ein Schlag ins Gesicht. Da haben wir 90 Minuten ein gutes Spiel gepfiffen, und dann so ein Mist." Der Reihe nach fragt Rainer jeden aus dem Team über seine Meinung zu dem Spiel. Jeder von ihnen kritisiert einzelne Szenen. Sie sind sich aber darin einig, dass sie das Spiel unter Kontrolle hatten. Der Beobachter bestätigt ihre Sicht. "Die zweite Halbzeit war richtig stark von euch, ihr habt das Spiel souverän geleitet", lobt er. "Allerdings wisst ihr auch, dass ihr an problematischen Einzel-Entscheidungen gemessen werdet." Rainer nennt die Situationen, die er sich notiert hat: "Das wären die Dinge, die ich mir gerne mit euch anschauen würde." Das Team nickt zustimmend, und alle versammeln sich gemeinsam in einem Halbkreis um den Bildschirm. Zusammen sprechen sie Situation für Situation durch, und wie er es immer macht, lässt sich der Beobachter stets die Sichtweise der Unparteiischen erläutern.

"Gelb" war richtig

Das Gespräch ist durch gegenseitigen Respekt gezeichnet. "Hier warst du schnell dabei, 'Tatort-Präsenz' ist auch gefragt", lobt Rainer den Schiedsrichter. Als einer der Assistenten zugibt, dass er eine Szene in der ersten Halbzeit so nicht gesehen habe, winkt der Beobachter ab: "Das hättest du auch gar nicht sehen können. So etwas kriegen auch viele Teams nicht hin, die schon lange eingespielt sind." Beim Studium des Fouls eines Fürther Spielers sind alle überrascht: "In dieser Einstellung sieht es nach purer Absicht aus." Bastian räumt ein, dass er das so nicht gesehen habe. "Das konntest du auch nicht, dafür müsstest du hinter dem Tor stehen", kommentiert Rainer. So wie die Kamera, die diese Bilder aufgezeichnet hat. Als das Gespräch auf einen ausgefahrenen Ellenbogen in der ersten Halbzeit kommt, ordnet Rainer Werthmann das so ein: "Ein sehr erfahrener Bundesliga-Schiedsrichter könnte das vielleicht noch mit einer Ermahnung regeln, aber es ist absolut im 'gelb'-würdigen Bereich. Und deshalb war es richtig, hier mit 'Gelb' einzusteigen.“

Auch für eine weitere Foul-Situation und deren Bewältigung durch Bastian hat er viel Lob übrig: "Hier ist die Schnelligkeit der Entscheidung gefragt, die Gestik und dass du auf den Foulspieler zeigst. Eine solche Entscheidung musst du hundertprozentig verkaufen, damit es zu keinen Diskussionen kommt. Und genau das hast du gemacht. Klasse!"

Thorsten Schriever, der Vierte Offizielle an diesem Tag, berichtet von einem aufgebrachten Trainer, der auf den Rasen gestürmt ist. Nach seinem "Ausflug" habe der Trainer ihn reumütig gefragt, ob er jetzt auf die Tribüne müsse. Die fünf lachen, und Rainer bestätigt: "Bei ihm war immerhin das Unrechtsbewusstsein da. Deshalb müssen wir auch nicht päpstlicher sein als der Papst, das habt ihr richtig gemacht."

Analyse des Abseitstors

Neben all’ dem Lob werden natürlich auch die kritischen Situationen angesprochen, das Fehlen einer klaren Berechenbarkeit in der ersten Halbzeit am Beispiel einzelner Szenen. Dennoch schafft es der Beobachter, die Kritik konstruktiv zu formulieren und mit Ratschlägen für die Zukunft zu versehen. Und dann ist es so weit, das 2:1 für Fürth fällt noch einmal – jetzt auf dem Bildschirm. Wieder und wieder schauen sich alle die Szene an, aber die Worte des Beobachters lassen keinen Interpretations-Spielraum: "Das war ein gravierender Fehler. Ihr macht einen verdammt schwierigen Job, und ich bin kein Freund von Diskussionen über einzelne Körperteile. Aber das hier war eine klare Abseitsstellung. Ihr pfeift in der Bundesliga, so etwas müsst ihr sehen."

Das Team schildert seine Sichtweise und versucht herauszufinden, wie Thomas das Abseits übersehen konnte. Wieder achtet Rainer darauf, Tipps mit an die Hand zu geben: "Wichtig ist, dass du die Konzentration bis zum Abpfiff beibehältst! Das Stellungsspiel machst du generell richtig, aber hier musst du aufpassen. Die Szenen sind so komplex, da darfst du auch in der letzten Minute nicht einen Augenblick unaufmerksam sein." Bastian muntert seinen Assistenten auf: "Wir gewinnen zusammen als Team, und wir verlieren als Team." Doch Thomas nimmt die Schuld auf sich. "Vielleicht kommst du jetzt auch öffentlich unter Beschuss. Ich war mal in der Bild-Zeitung mit Tomaten auf den Augen abgebildet", erzählt Rainer von seinen eigenen Erfahrungen. "Wichtig ist, dass du dich der sachlichen Kritik stellst, dann aber wieder nach vorn schaust!" Alle nicken zustimmend.

18.45 Uhr: Als die relevanten Spielszenen besprochen sind, verlässt das Team die Kabine und geht durch das längst leere Stadion zu den beiden Wagen, die die Schiedsrichter zum Bahnhof bringen. Auch Rainer Werthmann macht sich auf den Heimweg. Doch für ihn ist der Arbeitstag noch immer nicht zu Ende: Er muss zu Hause seine Eindrücke am PC schriftlich festhalten. Den Beobachtungsbogen wird er dann später der Schiedsrichter-Kommission des DFB zukommen lassen. Denn auch dort wollen die Verantwortlichen wissen, wie die neutralen Schiedsrichter-Experten in den Stadien die Leistungen ihrer Unparteiischen einschätzen.

Zur Person

Ein Mann mit viel Erfahrung

Mehr als 20 Jahre lang war Rainer Werthmann für den DFB als Schiedsrichter und Schiedsrichter-Assis­tent im Einsatz. Bis 2006 war er in der Bundesliga aktiv, bevor er aus Altersgründen ausschied. „Ich war bei mehr als 400 Spielen im Einsatz und bildete zusammen mit Hellmut Krug ein festes Gespann“, blickt Rainer Werthmann auf seine aktive Karriere zurück. Auch mit Thorsten Kinhöfer (Foto) leitete er einige Bundesliga-Spiele. Neben seiner Tätigkeit als Schiedsrichter-Coach ist der heute 53-Jährige als Lehrwart im Fußball- und Leichtathletik-Verband Westfalen aktiv.

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Wenn ein Bundesliga-Schiedsrichter nach einem Spiel seine Leistung reflektiert, dann interessiert ihn weniger die Meinung der Medien, auch nicht die der Fans oder der Spieler. Viel wichtiger ist ihm die Einschätzung des Experten auf der Tribüne: Der sogenannte "Schiedsrichter-Coach" analysiert die Leistung des Unparteiischen und gibt ihm nach dem Spiel wertvolle Ratschläge. Bianca Riedl, Mitarbeiterin der Schiedsrichter-Zeitung, hat Coach Rainer Werthmann zu einem Bundesliga-Spiel "auf Schalke" begleitet.

Fans strömen in Massen zu den Eingängen, dick eingepackt in Jacken, Handschuhe an und Mützen auf. Die Schals tun heute ihren Dienst nicht nur als Fan-Utensil. Es ist der zweite Februar-Tag, und eisiger Wind pfeift über die blau-weißen Fangruppen hinweg, die dem bevorstehenden Bundesliga-Spiel zwischen Schalke und Greuther Fürth entgegenfiebern.

14.00 Uhr: Unbeachtet von den Wartenden gelangt Rainer Werthmann in den Eingangsbereich. Zielstrebig schreitet der hochgewachsene Mann durch die Eingangshalle zur Rolltreppe, die direkt in die Katakomben hinunterführt.

Er braucht nur wenige Schritte, dann ist er den Gang entlang an den vielen Ordnern vorbei und klopft energisch an die Kabinentür. Nach kurzem Warten wird sie geöffnet, und Rainer betritt die Schiedsrichter-Kabine. Die Assis­tenten Martin Petersen und Thomas Gorniak sowie der Vierte Offizielle Thorsten Schriever erwarten ihn bereits. "Ich bin seit sechseinhalb Jahren raus aus dem Aktiven-Dasein", erläutert Werthmann, "aber ich kann mich noch genau an die Anspannung vor dem Spiel erinnern." Er versuche daher immer, gute Laune zu verbreiten, um dem Team die Nervosität ein wenig zu nehmen. Überhaupt sei es seine wichtigste Aufgabe, die vier Unparteiischen in jeder Form zu unterstützen.

Bastian und Rainer kennen und schätzen sich

Ein Klopfen unterbricht ihn, und Bastian Dankert, der Schiedsrichter des heutigen Spiels, tritt ein. Als er Rainer sieht, lächelt er, und beide begrüßen sich herzlich. Man merkt schnell, dass sie sich kennen und schätzen: Rainer Werthmann ist zugleich auch Bastians Individual-Coach. Er verfolgt die Entwicklung seines Schützlings über die ganze Saison, gibt ihm Tipps und begleitet seinen Werdegang. Die Stimmung in der Kabine ist gut, und während die Schiedsrichter für die Massage vor dem Spiel abwechselnd den Raum verlassen (eine Maßnahme, die es seit Beginn dieser Saison in der Bundesliga gibt), wird sich unterhalten, die Jungs ziehen sich um, und es wird auch mal gelacht. Bereits zwei Stunden vor dem Spiel waren die Schiedsrichter im Stadion und haben die vielen Dinge, die vor einem solchen Spiel anstehen, längst erledigt: Abgleichen der Trikotfarben, Kontrolle des Platz­aufbaus, kurze Gespräche mit beiden Trainern. "Die Zeit rennt", merkt Bastian an, "langweilig wird es nie."

14.30 Uhr: Wieder klopft es an der Tür: Die Mannschafts-Aufstellungen sind da und werden jedem der Beteiligten in die Hand gedrückt. Sofort fangen die Assistenten und der Schiedsrichter an, die Aufstellungen beider Mannschaften zu diskutieren. Jetzt ist es noch eine Stunde bis zum Spielbeginn, eine halbe Stunde vor Anpfiff werden die Schiedsrichter zum Warmlaufen gehen. Ein letztes Mal wendet sich der Beobachter an das Team und verkündet lächelnd, dass er ja vielleicht gar nichts zu arbeiten habe. Vorausgesetzt, Bastian und seine Helfer machen alles richtig. Lachen schallt durch den Raum, und nach einem letzten Handschlag für jeden verlässt Rainer die Kabine.

"Etwa eine Stunde vor Spielbeginn beginnt die Konzentrationsphase"

Er wird wieder ernst: "Etwa eine Stunde vor Spielbeginn beginnt die Konzentrationsphase. Sie dient der mentalen Vorbereitung, und in dieser Zeit sollte man das Team möglichst alleine lassen." Jeder bereite sich unterschiedlich auf das Spiel vor. Es gebe Schiedsrichter, die – ähnlich wie ein Tour-de-France-Fahrer alle Etappen-Schwierigkeiten im Kopf durchgeht – sich mit möglichen Situationen im Spiel befassen. Es gebe andere, die eine Art Tunnelblick entwickeln. Er selbst, erzählt Rainer Werthmann, habe es gerne gehabt, wenn bis kurz vor Spielbeginn noch Witze erzählt wurden. Mit dem Anpfiff waren dann auf einen Schlag die Ernsthaftigkeit und Konzentration im Team da. Auch in seiner jetzigen Rolle sei es ihm wichtig, die Situation zu entspannen: "Die stehen alle schon derart stark unter Druck. Als Beobachter zusätzlichen Druck aufzubauen, ist da das Verkehrteste, was man machen kann."

Während wir uns durch die gut gefüllte VIP-Lounge unseren Weg bahnen (Schiedsrichter-Coaches haben zu allen Stadion-Bereichen Zutritt), erzählt Rainer seinen Werdegang. Mit 15 sei er Schiedsrichter geworden, dank der Überredungskünste seines Vaters. Einmal Schiedsrichter, habe es ihm immer mehr Spaß gemacht, und er habe schnell erkannt: "Hier kannst du viel mehr erreichen, als wenn du aktiver Spieler bleibst." Eine richtige Erkenntnis, schließlich schaffte er es bis in die Bundesliga. Mit 47 Jahren, der Altersgrenze für Top-Schiedsrichter, habe er sich dann entschieden, als Lehrwart junge Schiedsrichter weiterzubilden. Das ist auch kein Wunder, denn Rainer Werthmann ist auch im "richtigen Leben" Lehrer. Seit fast sechs Jahren gehört er dem Verbands-Schiedsrichter-Ausschuss Westfalen an und ist seit zwei Jahren Coach.

14.45 Uhr: Wir haben noch Zeit für ein Getränk. Es gehe ihm bei dieser Aufgabe nicht darum, alles perfekt zu machen. Das könne man gar nicht, weil es so viele verschiedene Herangehensweisen gebe. Ziel sei es vielmehr, dass möglichst jeder seiner Schützlinge aus seinen Anmerkungen etwas mitnehmen könne. Auf die Frage, ob es auch Schiedsrichter gebe, die seine Kritik nicht annehmen, schmunzelt Rainer: "Mit mir war es früher auch nicht immer einfach, denn ich wollte die Hinweise von erfahrenen Beobachtern manchmal auch nicht wahrhaben." Deswegen habe er für solche Reaktionen Verständnis. Er versuche stets, den Schiedsrichtern das Gefühl zu geben, dass er nicht auf Gegenkurs sei, sondern dass das Aufzeigen einer anderen Perspektive durchaus hilfreich sein kann. "Ich interessiere mich immer für die Sichtweise des Schiedsrichters." Deshalb frage er ihn auch zu Beginn der Besprechung, was er in dieser oder jener Situation mit den Spielern kommuniziert habe. So versuche er, sich ein genaueres Bild von der Situation auf dem Rasen zu machen.

Die Entwicklung unterstützen, statt Erbsen zu zählen

"Die große Mehrheit der Schiedsrichter ist sehr selbstkritisch und offen für fachliche Hinweise", betont Rainer. "Manche haben sogar eine so überzeugende Eigeneinschätzung, dass ich schon die Mappe zugeklappt und gesagt habe: perfekt!" Generell komme er mit allen Aktiven gut klar: "Ich versuche stets deutlich zu machen, dass ich kein Erbsenzähler bin, sondern jemand, der sie bei ihrer weiteren Entwicklung unterstützt. Nur das ist entscheidend. Zu Hause muss sich dann jeder selbst überlegen, ob er etwas mit meinen Tipps anfangen kann."

Auf die Frage, wie groß denn bei der Beurteilung strittiger Szenen der Ermessensbereich sei, wird der Schiedsrichter-Beobachter ernst: "Die Arbeit hat sich stark verändert durch die Medien und die fast perfekte Fernseh-Technik. Während früher bei einer Abseits-Entscheidung zwei, drei Meter eine Rolle spielten, diskutieren wir heute über Entscheidungen, bei denen sich einzelne Körperteile im Abseits befinden oder auch nicht." Bei solchen Szenen müsse man schauen, dass die Verhältnismäßigkeit gewahrt werde, unterstreicht Werthmann. Jeder Assis­tent werde ehrlich zugeben müssen, dass immer auch ein bisschen Glück dazugehöre. "Ich habe auf meinem Tribünenplatz die Möglichkeit, mir die Szene noch einmal in Zeitlupe anzusehen, das sind natürlich ganz andere Bedingungen als für das Schiedsrichter-Team unten auf dem Rasen." Hier sei es wichtig, betont Rainer, "zu versuchen, ehrlich zu sein und auseinanderzuhalten, was mir wirklich live beim Spiel aufgefallen ist und was ich danach in der Zeitlupe gesehen habe." An letzterem könne man den Schiedsrichter nicht messen. "Natürlich gibt es auch teilweise Entscheidungen, bei denen ich sage, dass ich sie mittrage, obwohl ich selbst anders entschieden hätte."

15.25 Uhr: Der Schiedsrichter-Beobachter schaut auf seine Uhr: "Gleich ist Anpfiff, wir müssen los." Während wir auf der Pressetribüne Platz genommen haben, betreten die Unparteiischen den Rasen, an der Hand den Fußball-Nachwuchs. Rainer Werthmann richtet sich auf, sein Blick ist ab jetzt fest auf das Spielfeld gerichtet. Seit der Schiedsrichter und seine Assistenten auf dem Rasen sind, signalisiert die Körperhaltung des Beobachters höchste Konzentration. Vor ihm liegt ein leerer Bogen, vorbereitet für die Spiel-Notizen. In einer Zeile ganz oben ist Platz für die Fouls, weiter unten finden sich die Kommentare zu den beiden Schiedsrichter-Assistenten. Der ganze Mittelteil ist frei für Anmerkungen zu den Schiedsrichter-Entscheidungen.

15.30 Uhr: Anpfiff. Die Gesänge der Fans erschallen im Stadion. Der Blick des Schiedsrichter-Beobachters weicht nicht vom Rasen und verfolgt gebannt das Geschehen. Kaum fällt Bastian Dankert seine erste wichtige Entscheidung, lehnt sich sein Coach vor und schaut sich auf den Bildschirmen eine Reihe vor ihm die Szene noch einmal in Zeitlupe an. Dann schreibt er die erste Notiz auf seinen Bogen. In sauberer, ordentlicher Schrift notiert er seine Gedanken zu der Szene. Während des Spiels wird die Situation deutlich, die Rainer vorher angedeutet hatte: Nach jedem Pfiff richtet sich sein Blick automatisch auf die Bildschirme vor ihm. Er betrachtet die Szene zunächst zeitversetzt und dann noch einmal in der Wiederholung. Während Rainer seine Notizen verfasst, geht es auf dem Rasen in Sekundenschnelle weiter. Bastian hat keine Zeit, lange nachzudenken, ruck­zuck muss er seine Konzentration auf die nächste Situation fokussieren. Das Blatt seines Beobachters füllt sich schnell. Zu jeder Szene ist die Zeitangabe auf dem Monitor notiert: "So können wir die Szene nachher in der Besprechung schneller wiederfinden und gezielt unter die Lupe nehmen."

Der Bogen füllt sich mit Notizen

Schriftlich festgehalten hat Rainer Situationen, die Bastian gut entschieden hat. Kommentare wie "hart, aber fair" zieren den Rand, aber auch Situationen, die kritikwürdig sind. "Darüber müssen wir nachher reden", sagt der Beobachter. In diesem Moment beendet Bastian Dankert unten auf dem Rasen mit einem lauten Pfiff die erste Halbzeit, Spielstand: 0:0.

16.16 Uhr: Während die Fans zu den Toiletten oder Bierständen strömen, erläutert uns Rainer seine Sicht auf die erste Halbzeit: "Als Schiedsrichter ist es wichtig, eine klare Linie zu fahren. Für die Spieler sollte es berechenbar sein, in welchen Situationen er das Spiel unterbricht." Bastian habe zu Beginn sehr großzügig gepfiffen, sei aber in der letzten Szene eher kleinlich gewesen. "Diese Situation werde ich sicher mit ihm besprechen", meint der Beobachter ruhig. Er zeigt den Kommentar "nicht zu viel laufen lassen" auf seinem Block.

Mit der Gesamtleistung seines Schützlings ist er bis hierhin aber zufrieden: "Als Schiedsrichter muss man stets die Kommunikation als Mittel zur Deeskalation einsetzen", erklärt Rainer. Es sei wichtig, den Ton der Spieler zu treffen: "Das ist eine von Bastians Stärken. Deswegen rate ich ihm oft, das gezielt einzusetzen."

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16.32 Uhr: Während unten das bisher torlose Spiel weiterläuft, erläutert der Coach die Situation: "Das ist jetzt eine sensible Phase, Bastian muss aufpassen, dass er außen vor bleibt und nicht zu sehr in den Fokus rückt." In diesem Moment fällt durch Michel Bastos das erste Tor, die Schalker fallen sich in die Arme. Sechs Minuten später schafft Felix Klaus allerdings den Ausgleich für die Fürther. Der Druck, der von beiden Mannschaften ausgeht, wird jetzt spürbar, Bastian muss immer häufiger eingreifen. Bei der Auswechslung von Julian Draxler in der 66. Minute entlädt sich der Frust der Schalke-Fans, wütende Pfiffe übertönen die Stadionansage. "Das ist jetzt genau das, was wir vorher besprochen haben", betont der Beobachter, "die Stimmung kippt und richtet sich gegen das eigene Team. Jetzt muss er die Konzentration besonders hochhalten, weil es zu Frustreaktionen der Heim-Mannschaft kommen kann." Bastian zeigt Nervenstärke und pfeift das Spiel weiter souverän.

Das verhängnisvolle 2:1 für Fürth

Die Nachspielzeit neigt sich schon dem Ende zu, als Djurdjic in der Nachspielzeit das 2:1 für das Schlusslicht Greuther Fürth schießt. Kaum ist das Spiel abgepfiffen, die wenigen Fürther Fans sind noch am Jubeln, da ist Rainer bereits verschwunden. Die Mitarbeiter der "Sportschau" in der Reihe vor uns diskutieren aufgeregt und spulen die Video-Aufnahmen zurück. Als der Schiedsrichter-Beobachter zurückkommt, bleibt ihm ein kurzer Satz zu uns, bevor er von Fragen bestürmt wird: "Das war Abseits." Nachdem er mit den Journalisten gesprochen hat, lässt sich Rainer Werthmann wieder auf seinem Platz nieder. "Ein spielentscheidendes Abseitstor ist natürlich ein gravierender Fehler, der sowohl in der öffentlichen als auch in meiner internen Bewertung ordentlich zu Buche schlägt", kommentiert der Schiedsrichter-Beobachter. "Allerdings muss man hier auch eindeutig differenzieren: Es war kein Fehler des Schiedsrichters, sondern des Assistenten."

Der Coach nimmt sich die Zeit, in Ruhe seine Notizen zu vervollständigen, und klappt anschließend die Mappe zu. "Jetzt muss ich den Finger in die Wunde legen, am Ende wird man an Einzel-Entscheidungen gemessen", meint er ernst, "Ich muss jetzt versuchen, Wege aufzuzeigen, wie ein solcher Fehler verhindert werden kann. Rückgängig machen kann man ihn nicht mehr." Und während sich das Stadion leert, macht sich Rainer auf den Weg zu den Unparteiischen, denn für die ist der Tag noch lange nicht zu Ende.

17.45 Uhr: Zurück in der Kabine wartet der Beobachter, bis alle Unparteiischen geduscht und umgezogen sind. Als sie erfahren, dass ein Abseitstor das Spiel entschieden hat, ist die Stimmung gedrückt. Bastian Dankert bringt es auf den Punkt: "Das ist wie ein Schlag ins Gesicht. Da haben wir 90 Minuten ein gutes Spiel gepfiffen, und dann so ein Mist." Der Reihe nach fragt Rainer jeden aus dem Team über seine Meinung zu dem Spiel. Jeder von ihnen kritisiert einzelne Szenen. Sie sind sich aber darin einig, dass sie das Spiel unter Kontrolle hatten. Der Beobachter bestätigt ihre Sicht. "Die zweite Halbzeit war richtig stark von euch, ihr habt das Spiel souverän geleitet", lobt er. "Allerdings wisst ihr auch, dass ihr an problematischen Einzel-Entscheidungen gemessen werdet." Rainer nennt die Situationen, die er sich notiert hat: "Das wären die Dinge, die ich mir gerne mit euch anschauen würde." Das Team nickt zustimmend, und alle versammeln sich gemeinsam in einem Halbkreis um den Bildschirm. Zusammen sprechen sie Situation für Situation durch, und wie er es immer macht, lässt sich der Beobachter stets die Sichtweise der Unparteiischen erläutern.

"Gelb" war richtig

Das Gespräch ist durch gegenseitigen Respekt gezeichnet. "Hier warst du schnell dabei, 'Tatort-Präsenz' ist auch gefragt", lobt Rainer den Schiedsrichter. Als einer der Assistenten zugibt, dass er eine Szene in der ersten Halbzeit so nicht gesehen habe, winkt der Beobachter ab: "Das hättest du auch gar nicht sehen können. So etwas kriegen auch viele Teams nicht hin, die schon lange eingespielt sind." Beim Studium des Fouls eines Fürther Spielers sind alle überrascht: "In dieser Einstellung sieht es nach purer Absicht aus." Bastian räumt ein, dass er das so nicht gesehen habe. "Das konntest du auch nicht, dafür müsstest du hinter dem Tor stehen", kommentiert Rainer. So wie die Kamera, die diese Bilder aufgezeichnet hat. Als das Gespräch auf einen ausgefahrenen Ellenbogen in der ersten Halbzeit kommt, ordnet Rainer Werthmann das so ein: "Ein sehr erfahrener Bundesliga-Schiedsrichter könnte das vielleicht noch mit einer Ermahnung regeln, aber es ist absolut im 'gelb'-würdigen Bereich. Und deshalb war es richtig, hier mit 'Gelb' einzusteigen.“

Auch für eine weitere Foul-Situation und deren Bewältigung durch Bastian hat er viel Lob übrig: "Hier ist die Schnelligkeit der Entscheidung gefragt, die Gestik und dass du auf den Foulspieler zeigst. Eine solche Entscheidung musst du hundertprozentig verkaufen, damit es zu keinen Diskussionen kommt. Und genau das hast du gemacht. Klasse!"

Thorsten Schriever, der Vierte Offizielle an diesem Tag, berichtet von einem aufgebrachten Trainer, der auf den Rasen gestürmt ist. Nach seinem "Ausflug" habe der Trainer ihn reumütig gefragt, ob er jetzt auf die Tribüne müsse. Die fünf lachen, und Rainer bestätigt: "Bei ihm war immerhin das Unrechtsbewusstsein da. Deshalb müssen wir auch nicht päpstlicher sein als der Papst, das habt ihr richtig gemacht."

Analyse des Abseitstors

Neben all’ dem Lob werden natürlich auch die kritischen Situationen angesprochen, das Fehlen einer klaren Berechenbarkeit in der ersten Halbzeit am Beispiel einzelner Szenen. Dennoch schafft es der Beobachter, die Kritik konstruktiv zu formulieren und mit Ratschlägen für die Zukunft zu versehen. Und dann ist es so weit, das 2:1 für Fürth fällt noch einmal – jetzt auf dem Bildschirm. Wieder und wieder schauen sich alle die Szene an, aber die Worte des Beobachters lassen keinen Interpretations-Spielraum: "Das war ein gravierender Fehler. Ihr macht einen verdammt schwierigen Job, und ich bin kein Freund von Diskussionen über einzelne Körperteile. Aber das hier war eine klare Abseitsstellung. Ihr pfeift in der Bundesliga, so etwas müsst ihr sehen."

Das Team schildert seine Sichtweise und versucht herauszufinden, wie Thomas das Abseits übersehen konnte. Wieder achtet Rainer darauf, Tipps mit an die Hand zu geben: "Wichtig ist, dass du die Konzentration bis zum Abpfiff beibehältst! Das Stellungsspiel machst du generell richtig, aber hier musst du aufpassen. Die Szenen sind so komplex, da darfst du auch in der letzten Minute nicht einen Augenblick unaufmerksam sein." Bastian muntert seinen Assistenten auf: "Wir gewinnen zusammen als Team, und wir verlieren als Team." Doch Thomas nimmt die Schuld auf sich. "Vielleicht kommst du jetzt auch öffentlich unter Beschuss. Ich war mal in der Bild-Zeitung mit Tomaten auf den Augen abgebildet", erzählt Rainer von seinen eigenen Erfahrungen. "Wichtig ist, dass du dich der sachlichen Kritik stellst, dann aber wieder nach vorn schaust!" Alle nicken zustimmend.

18.45 Uhr: Als die relevanten Spielszenen besprochen sind, verlässt das Team die Kabine und geht durch das längst leere Stadion zu den beiden Wagen, die die Schiedsrichter zum Bahnhof bringen. Auch Rainer Werthmann macht sich auf den Heimweg. Doch für ihn ist der Arbeitstag noch immer nicht zu Ende: Er muss zu Hause seine Eindrücke am PC schriftlich festhalten. Den Beobachtungsbogen wird er dann später der Schiedsrichter-Kommission des DFB zukommen lassen. Denn auch dort wollen die Verantwortlichen wissen, wie die neutralen Schiedsrichter-Experten in den Stadien die Leistungen ihrer Unparteiischen einschätzen.

Zur Person

Ein Mann mit viel Erfahrung

Mehr als 20 Jahre lang war Rainer Werthmann für den DFB als Schiedsrichter und Schiedsrichter-Assis­tent im Einsatz. Bis 2006 war er in der Bundesliga aktiv, bevor er aus Altersgründen ausschied. „Ich war bei mehr als 400 Spielen im Einsatz und bildete zusammen mit Hellmut Krug ein festes Gespann“, blickt Rainer Werthmann auf seine aktive Karriere zurück. Auch mit Thorsten Kinhöfer (Foto) leitete er einige Bundesliga-Spiele. Neben seiner Tätigkeit als Schiedsrichter-Coach ist der heute 53-Jährige als Lehrwart im Fußball- und Leichtathletik-Verband Westfalen aktiv.