Boatengs Sehnsucht nach der Heimat

Große Wertschätzung statt niveauloser Kommentare

Früher wäre es ja so gewesen: Boateng fliegt vom Platz, die Schublade fliegt auf. Die Kindheit in Berlin wird thematisiert, das Temperament seines Bruders Kevin-Prince wird erwähnt. Und in extrem niveaulosen Kommentaren werden die Wurzeln der Boatengs in Zusammenhang mit ihrer angeblichen Unbeherrschtheit gebracht. Es ist schon eine Weile her, dass sich Boateng öffentlich gegen so viel Dummheit gewehrt hat. "Am Ende kommt noch die Hautfarbe ins Spiel, gegen die es geht", hat Boateng im Jahr 2011 dem Tagesspiegel gesagt. "Ich habe manchmal das Gefühl, wenn es einem anderen passiert wäre, hätte das nicht diese Reaktionen ausgelöst." Heute sind die Reaktionen anders. Grundsätzliche Kritik an Boateng würde nicht dem Kritisierten sondern dem Kritisierenden Spott einbringen, Boatengs Fähigkeiten sind mittlerweile über jeden Zweifel und sogar Rassismus erhaben.

Auch die Reaktion seines Trainers zeigt große Wertschätzung. Pep Guardiola sanktionierte Boateng nicht, er kritisierte ihn nicht, er gab Boateng vier Tage frei. "Das fand ich wirklich großartig vom Trainer", sagt Boateng. "Pep Guardiola hat gespürt, dass mir alles in diesem Moment ein wenig zu viel wurde. Ich hatte den Kopf einfach zu voll. Vier Tage ein wenig abzuschalten hat mir gut getan." Der Deutsche ist begeistert vom Spanier, nicht nur wegen der willkommenen Auszeit. Unter Guardiola hat der Verteidiger noch einmal einen Entwicklungssprung gemacht, insbesondere hat sein Spielverständnis ein neues Niveau erreicht. Boateng beschreibt dies gegenüber der Sport Bild so: "Pep Guardiola ist der Trainer in meiner Karriere, der mich am meisten taktisch geschult hat. Er sagt dir exakt, wie du dich auf dem Feld in jeder Sekunde zu verhalten hast. Ob Spiel-Eröffnung oder Reaktionen auf den Gegner – unter Guardiola spiele ich mehr mit dem Kopf denn je."

Der Traum von Berlin

So wird Boateng es auch heute Abend im Spiel gegen Braunschweig machen. Schließlich will er in dieser Saison noch zwei Mal im Berliner Olympiastadion vorspielen. "Das habe ich auf jeden Fall auf dem Schirm. Das wäre ein Traum", sagt er. Wobei er weiß, dass die Gegner auf seine Heimatgefühle kaum Rücksicht nehmen werden. Braunschweig nicht im DFB-Pokal, und die internationale Konkurrenz nicht in der Königsklasse. "Leider gibt es da mit Real Madrid, Chelsea und Barcelona noch ein paar andere Mannschaften, denen es egal ist, dass ich aus Berlin komme."

[sl]


Schon immer hat es Jerome Boateng in die Hauptstadt gezogen. In Berlin ist er geboren und aufgewachsen, die Bindungen sind eng. Boateng nutzt viele Gelegenheiten für einen Abstecher in die Heimat, seine Freizeit verbringt er häufig in Charlottenburg. In dieser Saison hat er auch beruflich noch zwei Möglichkeiten, der Hauptstadt seine Aufwartung zu machen. Das Finale der Champions League findet 2015 im Olympiastadion statt, das Finale im DFB-Pokal sowieso. Noch ist es nicht so weit, noch müssen sich die Bayern und Boateng erst für Berlin qualifizieren. Einen kleinen Schritt Richtung Heimat kann der 26-Jährige heute Abend setzen, im Achtelfinale des DFB-Pokals empfängt der Rekordpokalsieger die Eintracht aus Braunschweig. Für den Verteidger werden es mindestens 90 Minuten Richtung Heimat, für DFB.de ist das Spiel Anlass für einen Streifzug durch die Karriere des Weltmeisters.

Die Schlagzeilen gehörten einem anderen Spieler. Die 90 Minuten sollten Boatengs Leben ändern, die Öffentlichkeit nahm davon keine Notiz. Nicht Jerome Boateng stand im Fokus, die Aufmerksamkeit galt Darren Bent. Im Winter 2011 war der Stürmer für mehr als 20 Millionen Euro von Sunderland zu Aston Villa gewechselt, mit ihm war die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verbunden. Der Transfer wurde am 19. Januar perfekt gemacht, drei Tage später stand seine Premiere an. Und gleich in Spiel eins vergrößerte Bent die mit ihm verbundene Hoffnung auf eine bessere Zukunft. In der 18. Minute erzielte er den einzigen Treffer der Partie, Trainer Gerard Houllier fand nach dem Spiel kaum Worte, um seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Boateng war schuldlos am Gegentreffer, er spielte sachlich und solide, gehörte damit zu den besseren Spielern bei ManCity, die Niederlage verhindern konnte auch er nicht. Und wie gesagt: Großartig Notiz genommen, hat kaum einer von ihm.

Schicksalträchtiger Tag im Januar 2011

Mit einer gewichtigen Ausnahme. Sie ist ein Grund, weswegen der Berliner mittlerweile fast alles gewonnen hat, was es im Weltfußball zu gewinnen gibt. Im Rückblick lässt sich sagen: Ein wesentliches Kapitel der Erfolgsgeschichte des Jerome Boateng wurde an diesem kalten Januartag im Jahr 2011 angelegt. Der FC Bayern war auf der Suche nach einem Innenverteidiger, und seit der formidablen U 21-EM 2009 in Schweden wurde der Name Boateng in München immer wieder gehandelt. Im Spiel gegen Aston Villa ließen die Münchner den Verteidiger beobachten. Und im Schatten der Hysterie um Darren Bent sahen die Scouts viel Licht im Spiel Boatengs.

Wenig später erhielt dieser ein Angebot aus der Säbener Straße. Boateng war damals überrascht über das Interesse aus München. Nach seiner Zeit bei Hertha BSC und drei Jahren beim Hamburger SV war er erst im Sommer nach England gewechselt. Ganz bewusst hatte er sich für die große Herausforderung entschieden: neues Land, neue Liga, neuer Klub. Als die Anfrage aus München kam, steckte Boateng in England im Grunde immer noch in der Findungsphase. Zu Saisonbeginn fiel er zwei Monate lang aus, dann kämpfte er sich nach und nach in die Mannschaft. Boateng spielte, jedoch nicht dort, wo er sich am wohlsten fühlt, nicht in der Mitte. "Ich pendelte zwischen linken und rechtem Außenverteidiger", erzählt er der Sport Bild. Und gibt zu: "Das hatte ich mir anders vorgestellt."

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Es war nicht die beste Phase in seinem Leben

Ein Satz, der im Grunde über seiner kompletten Zeit auf der Insel stehen könnte. Kaum hatte Boateng den Schritt in die Zentrale geschafft, warf ihn eine erneute Verletzung zurück. Es war nicht die beste Phase in seinem Leben, sportlich nicht, auch privat nicht. Boateng schwankte zwischen dem Kitzel des Abenteuers in England und der Sehnsucht nach zu Hause. Verstärkt durch seine Zwillingstöchter, die damals im Bauch seiner Freundin heranwuchsen. Er erzählt: "Meine Freundin war zu diesem Zeitpunkt schwanger, musste in dieser Zeit lange im Krankenhaus liegen, und ich konnte sie ja nicht einfach mal so besuchen." Seine Freundin im Krankenhaus in Deutschland, er selber in Manchester, die Konstellation war alles andere als ideal. Dann kamen das Spiel gegen Aston Villa und das Angebot aus München. Für Boateng war es eine kleine Befreiung. "Dabei war ich zu diesem Zeitpunkt noch mit meiner Knieverletzung beschäftigt. Umso mehr hat mich das klare Bekenntnis von Bayern zu mir beeindruckt."

Oft ist es ja so, dass Spieler über Wochen und manchmal Monate grübeln, sie wägen Vor- und Nachteile ab und ringen fast täglich mit ihrer Entscheidung. Der Leistung ist dies meist wenig förderlich, wenn der Kopf nicht frei ist, sind auch die Beine gefangen. Boateng ist das erspart geblieben. Schließlich hat nicht irgendein Verein Interesse gezeigt, es war der deutsche Rekordmeister. "Und wenn der FC Bayern bei Dir anklopft, überlegst du nicht lange", sagt er. Boateng folgte dem Ruf der Münchner, und schon nach einer Spielzeit war Manchester für ihn wieder Vergangenheit. Den Schritt nach England hat er gleichwohl nicht bereut. So wie keine seiner Karriereentscheidungen, schließlich haben sie ihm zu dem Spieler gemacht, der er heute ist. "Ich kann wirklich sagen, dass ich auf jeder meiner Stationen etwas gelernt habe", sagt er.

Ziemlich viel muss das gewesen sein, Boateng gilt heute als einer der weltbesten Innenverteidiger. Viele Experten schweigen auf die Frage, wen sie im Niveau noch höher als Boateng einstufen. Aus der jüngeren Vergangenheit gibt es ein paar Beispiele, die verdeutlichen, welche Ausnahmerolle sich Boateng mittlerweile erspielt hat. Beispiel eins ist das Angebot des FC Barcelona, das ihm nach der WM 2014 ins Haus flatterte. Beispiel zwei sind die Reaktionen auf seine Rote Karte im Spiel gegen Schalke 04 vom 3. Februar. Gegen Sidney Sam war Boateng einen Tick zu spät gekommen, er traf nicht den Ball, sondern die Beine des Gegners und musste folgerichtig vorzeitig vom Feld.

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Große Wertschätzung statt niveauloser Kommentare

Früher wäre es ja so gewesen: Boateng fliegt vom Platz, die Schublade fliegt auf. Die Kindheit in Berlin wird thematisiert, das Temperament seines Bruders Kevin-Prince wird erwähnt. Und in extrem niveaulosen Kommentaren werden die Wurzeln der Boatengs in Zusammenhang mit ihrer angeblichen Unbeherrschtheit gebracht. Es ist schon eine Weile her, dass sich Boateng öffentlich gegen so viel Dummheit gewehrt hat. "Am Ende kommt noch die Hautfarbe ins Spiel, gegen die es geht", hat Boateng im Jahr 2011 dem Tagesspiegel gesagt. "Ich habe manchmal das Gefühl, wenn es einem anderen passiert wäre, hätte das nicht diese Reaktionen ausgelöst." Heute sind die Reaktionen anders. Grundsätzliche Kritik an Boateng würde nicht dem Kritisierten sondern dem Kritisierenden Spott einbringen, Boatengs Fähigkeiten sind mittlerweile über jeden Zweifel und sogar Rassismus erhaben.

Auch die Reaktion seines Trainers zeigt große Wertschätzung. Pep Guardiola sanktionierte Boateng nicht, er kritisierte ihn nicht, er gab Boateng vier Tage frei. "Das fand ich wirklich großartig vom Trainer", sagt Boateng. "Pep Guardiola hat gespürt, dass mir alles in diesem Moment ein wenig zu viel wurde. Ich hatte den Kopf einfach zu voll. Vier Tage ein wenig abzuschalten hat mir gut getan." Der Deutsche ist begeistert vom Spanier, nicht nur wegen der willkommenen Auszeit. Unter Guardiola hat der Verteidiger noch einmal einen Entwicklungssprung gemacht, insbesondere hat sein Spielverständnis ein neues Niveau erreicht. Boateng beschreibt dies gegenüber der Sport Bild so: "Pep Guardiola ist der Trainer in meiner Karriere, der mich am meisten taktisch geschult hat. Er sagt dir exakt, wie du dich auf dem Feld in jeder Sekunde zu verhalten hast. Ob Spiel-Eröffnung oder Reaktionen auf den Gegner – unter Guardiola spiele ich mehr mit dem Kopf denn je."

Der Traum von Berlin

So wird Boateng es auch heute Abend im Spiel gegen Braunschweig machen. Schließlich will er in dieser Saison noch zwei Mal im Berliner Olympiastadion vorspielen. "Das habe ich auf jeden Fall auf dem Schirm. Das wäre ein Traum", sagt er. Wobei er weiß, dass die Gegner auf seine Heimatgefühle kaum Rücksicht nehmen werden. Braunschweig nicht im DFB-Pokal, und die internationale Konkurrenz nicht in der Königsklasse. "Leider gibt es da mit Real Madrid, Chelsea und Barcelona noch ein paar andere Mannschaften, denen es egal ist, dass ich aus Berlin komme."