Blindes Spielverständnis

„Natürlich sind wir der Bundeskanzlerin sehr dankbar, dass sie die Schirmherrschaft übernommen hat. Das wird für unsere blinden Fußballer und die vielen Zuschauer vor dem Reichstag ein toller Tag“, sagt DFB-Vizepräsident Karl Rothmund, im Präsidium des Verbandes für die sozialen Themen verantwortlich. „Gerade auch beim Blindenfußball beweist sich die integrative Kraft des Fußballs, weshalb das Engagement unserer Stiftung ganz im Sinne von Sepp Herberger wäre.“



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Ulrich Pfisterer macht völlig verrückte Sachen. An einem frühen Morgen stand er irgendwann an einem steilen Skihang und hat sich die Augen zugebunden. Dann ist er runter gefahren. „Zu einer Uhrzeit, als kein anderer Skier unterwegs war. Und dennoch hatte ich einen brutalen Schweißausbruch“, erinnert sich der Trainer der deutschen Blinden-Nationalmannschaft. Er lacht dabei über sich selbst, die eigene Tollkühnheit, die Unvernunft. Nach drei Jahrzehnten Sozialarbeit in Australien, kehrte er nach Deutschland zurück. Er wurde Trainer des MTV Stuttgart und führte deren Blindenmannschaft 2009 zum Meistertitel in der Deutschen Blindenfußball-Bundesliga (DBFL). Als Diplom-Sportlehrer arbeitet er in der Stuttgarter Nikolaus-Pflege. Und verfolgt mit der Nationalmannschaft ein großes Ziel: „Wir haben den Anspruch, irgendwann mal Weltmeister zu werden.“

Auf dem Weg zu diesem großen Ziel bestreitet die deutsche Blinden-Nationalmannschaft ihr Heimdebüt vor historischer Kulisse. Der Rasselball rollt vor dem Reichstag. Direkt an den Treppenstufen zum Parlamentsgebäude wird das 20 mal 40 Meter große Feld aufgebaut. Im Rahmen des „Tages des Blindenfußballs“ bestreitet Deutschland, immerhin Fünfter der vergangenen Europameisterschaft, am 20. Mai ein Länderspiel gegen die Türkei (Anstoß 14 Uhr). Dr. Angela Merkel ist Schirmherrin, Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert und Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière werden an dem Donnerstag ab 11 Uhr als Gäste erwartet. „Blindenfußball steht für Selbstvertrauen und Leistungsfähigkeit. Er ist Ausdruck von Lebensfreude und Lebensqualität“, sagt die Bundeskanzlerin.

"Die Fähigkeit, sich im freien Raum zu bewegen"

Über welche Qualitäten verfügt aber ein starker Blindenfußballer? „Zuallererst“, meint Ulrich Pfisterer, „die Fähigkeit, sich im freien Raum zu bewegen“. Der Besuch eines Spiels seiner Stuttgarter Bundesliga-Mannschaft macht schnell deutlich, wovon er spricht. Während die Gegner sich im schnellen Trott bewegen, dabei den Ellenbogen nach vorne abgewinkelt, um sich vor einem möglichen Zusammenprall zu schützen, sprinten Pfisterers Spieler immer wieder übers Feld. Sven Schwarze spielt für den MTV Stuttgart und in der Nationalmannschaft. Vor fünf Jahren kam es bei dem heute 31-jährigen Stuttgarter zu einer Ablösung der Netzhaut, seitdem ist er völlig erblindet. „Es gibt Spieler“, sagt Sven Schwarze, „die nach einer heftigen Kollision erstmal nicht mehr rennen und dann ganz aufhören. Man muss das halt wegstecken können, Angst darf man auf dem Feld nicht haben.“

Blindenfußball ist eine ebenso harte wie spektakuläre Sportart. „Wir sind eine Mischung aus Fußball und Eishockey“, sagt Pfisterer. Der kompromisslose Einsatz der Spieler ist bewundernswert, ihr Geschick am Ball verblüffend. Vor zwei Jahren unterlag ein Team bestehend aus den Bundesliga-Profis Delron Buckley, Thomas Broich und Joel Matip den Stuttgartern in einem vom WDR veranstalteten Testspiel. Beim entscheidenden Treffer wurde Dennis Eiloff sogar getunnelt. „Der Ball ist irgendwo, aber du kannst ihn nicht finden. Wie ein Pinguin bin ich rumgelaufen“, sagte Buckley nach dem Match.

Zu den Grundregeln: Blinde Fußballer müssen sich auf ihre Ohren verlassen. Rasseln im Ball signalisieren dem Spieler, wo sich das Leder befindet. Die Längsseiten des 20 mal 40 Meter großen Feldes sind durch Banden begrenzt. Die Spieldauer beträgt zweimal 25 Minuten reine Spielzeit. Eine Mannschaft besteht aus vier Feldspielern und einem Torwart. Hier wie dort muss das Runde ins Eckige, wobei im „Blindentor“ ein sehender Keeper steht. „Sonst wäre ja fast jeder Schuss ein Treffer, das würde keinen Spaß machen. Außerdem hört man die Schelle nicht, wenn der Ball fliegt, wodurch ein blinder Torwart erst recht chancenlos wäre“, erklärt Mulgheta Russom, der aus Eritrea stammende Rekordspieler der deutschen Nationalmannschaft.

"Beim Blindenfußball beweist sich die integrative Kraft

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Kommunikation auf und neben dem Feld ist enorm wichtig. Der Torwart dirigiert seine Abwehr, der Trainer, der an der Längsseite steht, das Mittelfeld, und ein Guide hinter dem gegnerischen Tor unterstützt seinen Sturm. Ein Verteidiger, der den Ballführenden attackiert, ruft als Warnung laut „Voy“, das spanische Wort für „ich komme“. Im März 2008 begann die Blindenfußball-Bundesliga (DBFL) mit dem Spielbetrieb. Möglich gemacht wird dieser erste organisierte Fußball-Spielbetrieb durch eine Kooperation der DFB-Stiftung Sepp Herberger, des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) und des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV).

„Natürlich sind wir der Bundeskanzlerin sehr dankbar, dass sie die Schirmherrschaft übernommen hat. Das wird für unsere blinden Fußballer und die vielen Zuschauer vor dem Reichstag ein toller Tag“, sagt DFB-Vizepräsident Karl Rothmund, im Präsidium des Verbandes für die sozialen Themen verantwortlich. „Gerade auch beim Blindenfußball beweist sich die integrative Kraft des Fußballs, weshalb das Engagement unserer Stiftung ganz im Sinne von Sepp Herberger wäre.“