Achtelfinale gegen Algerien: Mit Kampfgeist und Neuer zum Sieg

Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

30. Juni 2014 in Porto Alegre - Achtelfinale: Deutschland - Algerien 2:1 n.V.

Vor dem Spiel:

Für das erste K.o.-Spiel mussten die Deutschen bis in den tiefsten Süden des Landes, es war die weiteste Reise während der Brasilien-WM. Bundestrainer Joachim Löw hatte ein Luxusproblem im Mittelfeld, wo mit Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira nun beide "Sechser" einsatzfähig waren. Da mit Kapitän Philipp Lahm ein weiterer Defensivspieler gesetzt war, musste ein Großer draußen bleiben. "Die Sechser-Frage wird zum Pulverfass", schrieb der Kicker etwas reißerisch. Vielleicht auch deshalb, weil Khedira, obwohl gegen die USA nicht eingesetzt, deutliche Worte der Kritik an der Spielweise fand. "Mit der Art und Weise können wir nicht zufrieden sein. Gegen Ghana waren wir nicht aggressiv genug, jetzt haben wir zu langsam gespielt. Wir müssen uns steigern. Um weit zu kommen, muss man schneller spielen." Folgen hatte das TV-Interview keine, auch nicht die, dass er in die Mannschaft rückte. Zwei Änderungen gab es trotzdem: Für den erkrankten Mats Hummels (Fieber) rückte Shkodran Mustafi in die Viererkette, ging aber auf rechts, während Jerome Boateng innen verteidigte. Mario Götze verdrängte Lukas Podolski wieder aus dem Sturm.

Bei den Algeriern, die nur Geheimfavorit Belgien unterlagen und sich vor Russland und Südkorea in Gruppe H durchsetzten, gab es ein altbekanntes Problem. Am Sonntag vor dem Spiel begann der muslimische Fastenmonat Ramadan und damit die Debatte, ob Leistungssportler bei einer WM eine Ausnahme machen dürften. Kapitän Madjid Bougherra sagte: "Ich werde das von meinem körperlichen Zustand abhängig machen." Die Bild-Zeitung ging prompt der Frage nach: "Macht Fasten die Algerier torhungriger?" und fand für jede denkbare Antwort einen Experten. Für Unruhe sorgte auch das Gerücht, Trainer Vahid Halihodzic sei nach der Niederlage gegen Belgien entmachtet worden, der Verbandschef habe die Aufstellung gemacht.



Im Sommer nimmt Deutschland zum 19. Mal an einer WM-Endrunde teil. DFB.de dokumentiert in einer 106-teiligen Serie alle Spiele seit 1934. Sie enthält die obligatorischen Daten und Fakten, eine kurze Übersicht zur jeweiligen Ausgangslage und den Spielbericht. Darüber hinaus finden sich in der Rubrik "Stimmen zum Spiel" Zitate, die das unmittelbar danach Gesagte oder Geschriebene festhalten und das Ereignis wieder aufleben lassen.

30. Juni 2014 in Porto Alegre - Achtelfinale: Deutschland - Algerien 2:1 n.V.

Vor dem Spiel:

Für das erste K.o.-Spiel mussten die Deutschen bis in den tiefsten Süden des Landes, es war die weiteste Reise während der Brasilien-WM. Bundestrainer Joachim Löw hatte ein Luxusproblem im Mittelfeld, wo mit Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira nun beide "Sechser" einsatzfähig waren. Da mit Kapitän Philipp Lahm ein weiterer Defensivspieler gesetzt war, musste ein Großer draußen bleiben. "Die Sechser-Frage wird zum Pulverfass", schrieb der Kicker etwas reißerisch. Vielleicht auch deshalb, weil Khedira, obwohl gegen die USA nicht eingesetzt, deutliche Worte der Kritik an der Spielweise fand. "Mit der Art und Weise können wir nicht zufrieden sein. Gegen Ghana waren wir nicht aggressiv genug, jetzt haben wir zu langsam gespielt. Wir müssen uns steigern. Um weit zu kommen, muss man schneller spielen." Folgen hatte das TV-Interview keine, auch nicht die, dass er in die Mannschaft rückte. Zwei Änderungen gab es trotzdem: Für den erkrankten Mats Hummels (Fieber) rückte Shkodran Mustafi in die Viererkette, ging aber auf rechts, während Jerome Boateng innen verteidigte. Mario Götze verdrängte Lukas Podolski wieder aus dem Sturm.

Bei den Algeriern, die nur Geheimfavorit Belgien unterlagen und sich vor Russland und Südkorea in Gruppe H durchsetzten, gab es ein altbekanntes Problem. Am Sonntag vor dem Spiel begann der muslimische Fastenmonat Ramadan und damit die Debatte, ob Leistungssportler bei einer WM eine Ausnahme machen dürften. Kapitän Madjid Bougherra sagte: "Ich werde das von meinem körperlichen Zustand abhängig machen." Die Bild-Zeitung ging prompt der Frage nach: "Macht Fasten die Algerier torhungriger?" und fand für jede denkbare Antwort einen Experten. Für Unruhe sorgte auch das Gerücht, Trainer Vahid Halihodzic sei nach der Niederlage gegen Belgien entmachtet worden, der Verbandschef habe die Aufstellung gemacht.

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Manu, der Libero

Spielbericht:

Das Thermometer zeigt nur 14 Grad, es ist ein ungemütlicher Abend in Porto Alegre bei 93% Luftfeuchtichket. Der Anpfiff ist um 17 Uhr, in Deutschland bricht schon die Nacht ein (22 Uhr). Dass es eine lange werden würde, ahnte und hoffte niemand. Die Bundesregierung wird an diesem Montag von Innenminister Thomas de Maiziere vertreten. Der Schiedsrichter ist kein Glücksbringer, leitete der Brasilianer Sandro Ricci das einzige nicht gewonnene Spiel dieser WM gegen Ghana (2:2). Deutschland darf wieder in Weiß spielen. In der Kabine hat Ersatztorwart Rene Weidenfeller die Ansprache im Kreis gehalten. Kernsatz: "Noch drei Spiele bis Rio!"

Für das ZDF kommentiert Bela Rethy das im Rückblick schwächste deutsche Spiel bei dieser WM. Die Bild-Zeitung leitet ihren Spielbericht am nächsten Tag so ein: "Dieser Text sollte die Höhepunkte des deutschen Spiels enthalten. Leider waren es fast nur Tiefpunkte in 90 Minuten – mit Ausnahme von Manuel Neuer, dem Giganten. Torwart und bester Abwehrspieler in einer Person." Die Löw-Elf hat in der Tat große Mühe mit den kampfstarken Afrikanern und mit der eigenen Taktik. Dafür macht Manuel Neuer ein spektakuläres Spiel, aber eher als "Libero". Man zählt 19 Ballkontakte außerhalb des Strafraums, vier Mal rettet er in höchster Not mit Kopf und Fuß. Erstmals in der neunten Minute, als er nahe der Eckfahne mit Linksaußen Islam Slimani um die Wette rennt und die Flanke vor sein verwaistes Tor noch zur Ecke blockt.

In der 28. Minute unterläuft Per Mertesacker ein Fehler, von dem Sofiane Feghouli profitiert. Denkt er jedenfalls, aber statt allein aufs Tor laufen zu können, wird er vom plötzlich heranpreschenden Neuer weit vor dem Strafraum gebremst – per Grätsche. Manchmal muss Neuer auch nicht eingreifen, gefährlich ist es trotzdem. Etwa als Faouzi Ghoulam aus spitzem Winkel übers Tor schießt oder als Boateng einen Mostefa-Schuss aus 23 Metern abfälscht. Als das geschieht in der ersten Halbzeit, wo absolut kein Klassenunterschied festzustellen ist. Die deutschen Chancen sollen nicht verschwiegen werden. Aber auch Algerien hat einen guten Torwart, Rais M’Bohli ist bei Schweinsteigers 14-Meter-Schuss ebenso auf der Hut wie bei dem Nachschuss von Mario Götze. Zur Halbzeit steht es 0:0, die deutschen Fans bekommen ein mulmiges Gefühl.

Joachim Löw bringt André Schürrle für den enttäuschenden Götze (nur ein Torschuss). Der Legionär von Chelsea London zeigt gleich mal, dass er da ist, knapp geht sein Schuss am Pfosten vorbei, Lahm scheitert mit einem Versuch aus der zweiten Reihe an M’Bohli. Dann gehen die Festspiele von Manuel, dem Libero, weiter. Als Slimani mit einem weiten Ball davonzuziehen scheint, kommt ihm Neuer tatsächlich entgegen gehechtet und klärt außerhalb des Strafraums per Kopf. Neuer sagt hinterher gelassen: "Das ist nun mal meine Spielweise." Torwarttrainer Andy Köpke witzelt hinterher, seit Franz Beckenbauer habe er "keinen besseren Libero mehr gesehen". Sein Torwarthandwerk versteht der Münchner auch, wie sich bei Slimanis 20-Meter-Schuss erweist. Verteidiger Mustafi, der nach der Pause fast ein Kopfballtor erzielt hätte, verletzt sich dann. Khedira kommt rein und Lahm wird auf den rechten Verteidigerposten zurückgezogen. Es ist ein Schlüsselmoment dieser WM, den in diesem Moment noch keiner begreift.

Die Schlussphase gehört den Deutschen, die eine Verlängerung vermeiden wollen. Schweinsteiger köpft daneben (80.), Müller die Flanke von Joker Sami Khedira auf M‘Bohli, Schürrles Nachschuss wird auf der Linie geklärt (80.). In der 88. Minute führen sie einen merkwürdigen Freistoßtrick aus, der unter der Rubrik Slapstick verbucht wird. Dabei gerät Müller beim Anlaufen ganz planmäßig ins Stolpern, man will den Gegner damit verwirren. Weil der Schlenzer von Kroos in der Mauer hängen bleibt statt zum wiederauferstandenen Müller zu fliegen, wird es eine Lachnummer ohne Mehrwert. Im Gegenzug sind wieder Neuers Libero-Qualitäten gefragt, mit langem Bein rettet er vor Feghouli. Als dann Schweinsteiger freistehend in M’Bolhis Arme köpft, kommt es wie es nicht kommen sollte: zur Verlängerung. Wer es nicht mit den Deutschen hält, hat bisher wenig zu meckern gehabt. Haben die vielen Unzulänglichkeiten doch ein chancenreiches Spiel ermöglicht.

Dann fallen endlich Tore. Über Höwedes gelangt der Ball auf links zu Müller, der ihn scharf und flach an den Fünfmeterraum spielt. Schürrle ist etwas zu schnell hineingesprintet, der Ball kommt in seinen Rücken, aber er erwischt ihn noch mit der Ferse. Den gefährlichen und kaum zu erahnenden Aufsetzer muss der Torwart passieren lassen – 1:0 für den Favoriten. Endlich! Das Zittern aber hat noch lange kein Ende. Noch in der 118. Minute muss Boateng in höchster Not gegen Slimani retten. Erst als Özil eine Konterchance im Nachschuss nutzt und den Ball zwischen zwei Verteidigern auf der Linie unter die Latte drischt, kann Deutschland feiern. Im Gegenzug gestatten sie den wackeren Algeriern noch ihr hoch verdientes Ehrentor, als auch Neuer (Laufleistung: 5,517 km) schon abgeschaltet hat und Joker Abdelmomene Djabou aus einem Meter eindrücken darf. Dann ist es vorbei, Deutschland steht im Viertelfinale.

Die Spieler freuen sich, die Reporter weniger. Und so kommt es in der Mixed Zone noch weit nach Mitternacht deutscher Zeit zu einem legendären Interview zwischen Per Mertesacker und ZDF-Reporter Boris Büchler. Kritische Fragen zur Leistung kontert der Abwehrrecke so: "Was wollen Sie jetzt von mir? Kann ich nicht verstehen. Glauben Sie unter den letzten 16 ist hier eine Karnevalstruppe, oder was? Die haben uns das richtig schwer gemacht... Was wolln se? Wollen Sie ne erfolgreiche WM, oder wollen Sie wieder ausscheiden und haben schön gespielt?" Er lege sich jetzt "drei Tage in die Eistonne, und dann sehen wir weiter. Wir sind weiter gekommen und super happy."

Das Interview wird Kult und ein Internet-Hit. Trotzdem stellen sich in Deutschland nach diesem Spiel grundsätzliche Fragen. Wohin mit Lahm, Schweinsteiger und Khedira? Geht es nicht auch mit allen dreien? Wer soll stürmen, Götze oder Klose, oder hat sich Schürrle in die Elf geschossen? Und kann das gut gehen mit Manuel, dem Libero? Sein Vorgänger im deutschen Oliver Kahn teilt die Euphorie um ihn nicht: "Das ist Harakiri. Ruck-zuck kann das schief gehen, du kommst eine Zehntelsekunde zu spät und kriegst eine Rote Karte." Die sieht auch Algeriens Trainer Vahid Halihodzic, der nach einem Zerwürfnis mit dem Verband gehen muss. Zur Pressekonferenz erscheint er nicht mehr.

Aufstellung: Neuer – Mustafi (70. Khedira), Mertesacker, Boateng, Höwedes – Schweinsteiger (109. Kramer), Lahm, Kroos – Götze (46. Schürrle), Müller, Özil.

Tore: 1:0 Schürrle (92.), 2:0 Özil (119.), 2:1 Djabou (120.+1).

Zuschauer: 43.063 in Porto Alegre.

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Löw: "Das war ein Sieg der Willenskraft"

Stimmen zum Spiel:

Joachim Löw: "Nach so einem Spiel muss man durchschnaufen. Das war am Ende ein Sieg der Willenskraft. In der ersten Halbzeit haben wir uns schwer getan und viele Bälle verloren, in der zweiten Halbzeit und der Verlängerung waren wir dann schon die bessere Mannschaft. Wir hatten viele Chancen, deren Torwart ist teilweise über sich hinausgewachsen. Aber Algerien hat oft unser Pressing umgangen und lange Bälle gespielt. Da waren wir sehr anfällig, und die haben das richtig gut gemacht. Da war es gut, dass Manuel die Bälle abfangen konnte, das ist sein Spiel. Solche Spiele gibt es bei einem Turnier, wo man sich durchkämpfen muss. Auch andere Mannschaften wie Brasilien haben sich schwer getan, das ist kein Spaziergang."

Oliver Bierhoff (Teammanager): "Natürlich wollen wir tollen Fußball spielen, aber letztendlich geht es hier nur um das Ergebnis und den Titel."

Manuel Neuer: "Ich habe in der einen oder anderen Situation Kopf und Kragen riskiert. Aber wenn ich Angst hätte, würde ich auf der Linie bleiben. Aber ich kann da nicht das Zögern anfangen. Das ist wirklich ein schmaler Grat."

André Schürrle: "Vor drei Wochen habe ich genau das gleiche Tor geschossen, ich kann das schon. Aber natürlich war auch das nötige Glück dabei. Ich habe versucht, den Ball so zu treffen, weil es keine andere Möglichkeit gab."

Rais M’Bolhi (Algerien): "Wir haben gegen eine sehr starke deutsche Mannschaft gespielt und schließlich zwei Treffer bekommen. Wir sind sehr enttäuscht, da wir das Gefühl hatten, dass wir eine Chance gehabt haben. Der körperliche Aspekt hat nicht den Unterschied gemacht. Wir sind Teil der algerischen Fußballgeschichte, sind die erste Mannschaft, die so weit gekommen ist. Wir werden darauf für die Zukunft aufbauen.“

Mahjid Bougerra (Algerien): "Wir haben es verdient, durch die ganz große Tür hinaus zu gehen."

"Danke, Schürrle! Aber so fliegen wir gegen Frankreich raus." (Bild)

"Die DFB-Elf hat sich diesen hart erkämpften Erfolg verdient, weil sie nie aufgab und mehr sowie bessere Chancen hatte." (Kicker)

"So nicht, meine Herren! Was die deutsche Mannschaft in der ersten Halbzeit gezeigt hat, ist mit schwach noch nett umschrieben." (Die Welt)

"Die Mannschaft war völlig von der Rolle. Kein Rad griff ins andere, obwohl sieben Bayern-Spieler in der Anfangsformation standen, die bestens eingespielt sein sollten." (FAZ)

"Torwart Manuel Neuer ist beim glücklichen 2:1-Sieg gegen Algerien der beste deutsche Abwehrspieler. Vor allem dem Welttorhüter ist es zu verdanken, dass die Reise für die deutschen Fußballer durch Brasilien noch nicht beendet ist." (Frankfurter Rundschau)

"Kein Team hat in Brasilien so viel Sympathien gesammelt wie die Grünen." (El Watan/Algerien)

"Blut, Schweiß und Tränen kostete es Löws Truppe, um enthusiastisch aufspielende Algerier zu besiegen." (El Mundo/Spanien)

"Deutschland am Rande der Katastrophe. Die Torhüter M'Bolhi und Neuer waren die Helden in einem emotionalen Match." (El Mundo Deportivo"/Spanien)

"Deutschland hat in 120 Minuten jeglichen Status eines großen Favoriten für den WM-Titel abgebaut." (O’Globo/Brasilien)

"Das war eines der schönsten Achtelfinals der WM, und Algerien verspürt angesichts des Ausscheidens eine ungeheure Enttäuschung." (Le Parisien/Frankreich)

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