100 Jahre Länderspiele: Sammer und das gesamtdeutsche Team

Bevor Matthias Sammer das erste seiner 51 Länderspiele für die DFB-Auswahl bestritt, lief er 23-mal für die Nationalmannschaft der DDR auf. Im Interview mit dem Sport-Informations-Dienst (sid) erinnert sich der DFB-Sportdirektor an jene bewegten Tage.

Frage: Herr Sammer, erinnern Sie sich noch an den 19. Dezember 1990? Das war der Tag, als Sie als erster ehemaliger DDR-Spieler für die gesamtdeutsche Nationalmannschaft aufliefen und 4:0 gegen die Schweiz gewannen.

Matthias Sammer: Ja, ich erinnere mich gut daran. Es war im Stadion meines damaligen Heimatvereins, des VfB Stuttgart. Das sind Erinnerungen, die sind noch relativ frisch.

Frage: Was ging in Ihnen damals vor? Waren Sie vor Ihrer ersten von insgesamt 51 Partien im DFB-Dress sehr aufgeregt?

Sammer: Was ich damals empfunden habe, ist schwer zu vermitteln. Zweieinhalb Monate zuvor habe ich noch das letzte Länderspiel mit der DDR-Auswahl bestritten. Überhaupt in einem anderen Land als der DDR Fußball spielen zu dürfen, war schon erstaunlich. Plötzlich ist das eine Kapitel total abgeschlossen gewesen, und ich stehe in der gesamtdeutschen Mannschaft. Das war unglaublich beeindruckend. Natürlich war ich vor dem Anpfiff angespannt und aufgeregt, aber auch voller Vorfreude. Es ist ja eine Auszeichnung gewesen, für diese DFB-Mannschaft spielen zu dürfen. Ich habe bereits als Kind davon geträumt, vielleicht bei einem EM- oder WM-Turnier dabei sein zu können, und ich weiß nicht, ob die DDR das geschafft hätte.

Frage: Wie wurden Sie aufgenommen im Kreise der DFB-Nationalspieler? Gab es anfangs Vorbehalte der "Wessis" gegen die "Ossis"?

Sammer: Überhaupt nicht. Gerade in der Nationalmannschaft sind immer absolute Vollprofis am Werk. Natürlich nahm der Konkurrenzkampf dadurch zu. Aber wir sind sehr offen empfangen worden. Der Deutsche Fußball-Bund hat immer stark darauf geachtet.

Frage: Konnten Sie die Nationalhymne beim ersten Mal schon mitsingen?

Sammer: Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Ich habe den Blick gesenkt und mir viele Dinge durch den Kopf gehen lassen. Ich habe mich mit der westdeutschen Nationalhymne genauso wenig auseinandergesetzt, wie ich es vorher mit der ostdeutschen getan hatte. Es war überhaupt kein Thema, die Nationalhymne aus reinem Herzen mitzusingen.

Frage: Sekunden nachdem Andreas Thom für Sie eingewechselt wurde, erzielte dieser den ersten Treffer eines DDR-Spielers in der gesamtdeutschen Nationalmannschaft. Hätten Sie lieber das Tor geschossen?

Sammer: Für Andi Thom hat es mich damals gefreut. Wir wussten ja alle, dass es für uns ostdeutsche Spieler nicht einfach werden würde. Doch Neid gab es nicht. Ganz tief drinnen habe ich aber gedacht: Mensch, ich hoffe, dass mir das auch bald gelingt.

Frage: Franz Beckenbauer hatte gesagt, dass nach dem WM-Titel 1990 und der Wiedervereinigung mit dem Hinzukommen der Spieler aus der DDR Deutschland auf Jahre unschlagbar wäre...

Sammer: ... das war für Berti Vogts, Beckenbauers Nachfolger als Bundestrainer, natürlich eine Bürde. Trotzdem hatte Franz nicht ganz unrecht. Die 0:2-Niederlage gegen Dänemark im Finale der EM 1992 in Schweden hätte uns niemals passieren dürfen. Da wären wir normalerweise Europameister geworden. Und auch 1994 hatten wir eine ebenso starke Mannschaft wie 1990. Franz Beckenbauers Aussage war theoretisch nicht schlecht, sie ist praktisch leider nicht mit Titeln belegt. Wir hatten aber eine sehr gute Mannschaft.

Frage: Mit welchem Gefühl sind Sie zum letzten Spiel der DDR-Auswahl am 12. September 1990 nach Belgien gefahren?

Sammer: Das war schon beeindruckend. Viele Spieler sind überhaupt nicht angereist. Ich glaube, wir hatten nur zwölf Feldspieler und einen Ersatztorwart dabei.

Frage: Trotzdem haben Sie 2:0 auswärts gewonnen und in Ihrem 23. und letzten Einsatz für die DDR auch noch beide Tore erzielt.

Sammer: Genau, aber damals ging alles so schnell. Man konnte die Dinge gar nicht in Ruhe reflektieren. Mit dem Abstand von heute erfüllen mich die beiden Tore mit großem Stolz. Noch immer sprechen mich speziell Menschen aus dem Osten Deutschlands darauf an.

Frage: Einige Spieler aus der ehemaligen DDR haben Auslandsreisen zur Flucht genutzt. Haben Sie als junger Mann ebenfalls daran gedacht?

Sammer: Realistisch gesehen nicht. Ich war ja sehr jung. Auf den Gedanken, zu flüchten und alles zurückzulassen, kam ich gar nicht. Alles so wegzuschmeißen, war in dieser Altersstufe überhaupt kein Thema. Aber der Wunsch in der Bundesliga zu spielen, war schon frühzeitig da. Die Wende kam dann für mich zu einem sportlich perfekten Zeitpunkt. Ich startete gerade bei Dynamo Dresden richtig durch.

Frage: Wie liefen eigentlich Länderspiele mit der DDR-Auswahl im westlichen Ausland ab?

Sammer: Wir konnten uns frei bewegen. Was allerdings im Hintergrund passiert ist, weiß ich nicht. Das habe ich nicht registriert und war mir auch wurscht. Aber natürlich hatten wir gewisse Nachteile - zum Beispiel kaum Geld zum Einkaufen. Es gab immer nur ein paar Mark Tagegeld.

Frage: Welche grundlegenden Unterschiede zwischen der DDR-Auswahl und der gesamtdeutschen Nationalmannschaft haben Sie festgestellt?

Sammer: Es gab ganz entscheidende Unterschiede. Ein gutes Beispiel: 1986 ist die U18-Auswahl der DDR Europameister geworden ist, und wir haben damals auch das DFB-Team von Trainer Berti Vogts geschlagen. Es gab ganz hervorragende Fußballer, und wir hatten auch ein sehr gutes Ausbildungssystem. Woran wir jedoch gescheitert sind, war unsere Mentalität. Uns fehlte in der DDR-Auswahl der Glauben, mit den großen Nationen mithalten zu können. Wir stellten uns immer vor, dass die Bundesliga-Profis außergewöhnlich gut sind. Dabei war auch unsere Qualität hoch - selbst wenn uns die Breite fehlte.

Frage: Waren die Spieler aus der ehemaligen DDR demnach sogar besser?

Sammer: Sie sind fast alle technisch besser ausgebildet gewesen und schossen meist beidfüßig. Das lag daran, dass wir natürlich von der Organisationsstruktur mit den Kinder- und Jugendsportschulen auch die Möglichkeiten hatten, mehr zu trainieren.

Frage: Helfen Ihnen die in der DDR-Zeit gesammelten Erfahrungen bei Ihrer heutigen Arbeit als DFB-Sportdirektor?

Sammer: Selbstverständlich. Wir haben jetzt eine Ausbildungskonzeption geschrieben, und wir haben die Leistungszentren eng verbunden mit der Schule. Die Eliteschulen des Fußballs geben den Schülern die Möglichkeit, auch vormittags zu trainieren. Sie sind im Prinzip ein Abbild vom System in der DDR.

Frage: Wer war ihr bester Nationaltrainer oder DDR-Auswahlcoach?

Sammer: Jeder Trainer hatte seine Qualitäten. Mit Berti Vogts habe ich alle Höhen und Tiefen erlebt. Anfangs gab es gewisse Schwierigkeiten, weil er unsere Mentalität nicht kannte. Wir waren ein Stück weit verschlossen, nicht so offen, wie er es sich gewünscht hätte. Dann gab es ein langes Gespräch in Amerika am Strand, wo ich ihm ein bisschen von unserer Geschichte erzählt habe. Das hat er verarbeitet und sein Anspruchsdenken sowie sein Verhalten uns gegenüber geändert. Das ist seine menschliche Qualität, wofür ich ihn sehr schätze.

Weitere Informationen zur Geschichte der Deutschen Nationalmannschaft finden Sie in unserem Sonderbereich.

[sid]

[bild1]

Bevor Matthias Sammer das erste seiner 51 Länderspiele für die DFB-Auswahl bestritt, lief er 23-mal für die Nationalmannschaft der DDR auf. Im Interview mit dem Sport-Informations-Dienst (sid) erinnert sich der DFB-Sportdirektor an jene bewegten Tage.

Frage: Herr Sammer, erinnern Sie sich noch an den 19. Dezember 1990? Das war der Tag, als Sie als erster ehemaliger DDR-Spieler für die gesamtdeutsche Nationalmannschaft aufliefen und 4:0 gegen die Schweiz gewannen.

Matthias Sammer: Ja, ich erinnere mich gut daran. Es war im Stadion meines damaligen Heimatvereins, des VfB Stuttgart. Das sind Erinnerungen, die sind noch relativ frisch.

Frage: Was ging in Ihnen damals vor? Waren Sie vor Ihrer ersten von insgesamt 51 Partien im DFB-Dress sehr aufgeregt?

Sammer: Was ich damals empfunden habe, ist schwer zu vermitteln. Zweieinhalb Monate zuvor habe ich noch das letzte Länderspiel mit der DDR-Auswahl bestritten. Überhaupt in einem anderen Land als der DDR Fußball spielen zu dürfen, war schon erstaunlich. Plötzlich ist das eine Kapitel total abgeschlossen gewesen, und ich stehe in der gesamtdeutschen Mannschaft. Das war unglaublich beeindruckend. Natürlich war ich vor dem Anpfiff angespannt und aufgeregt, aber auch voller Vorfreude. Es ist ja eine Auszeichnung gewesen, für diese DFB-Mannschaft spielen zu dürfen. Ich habe bereits als Kind davon geträumt, vielleicht bei einem EM- oder WM-Turnier dabei sein zu können, und ich weiß nicht, ob die DDR das geschafft hätte.

Frage: Wie wurden Sie aufgenommen im Kreise der DFB-Nationalspieler? Gab es anfangs Vorbehalte der "Wessis" gegen die "Ossis"?

Sammer: Überhaupt nicht. Gerade in der Nationalmannschaft sind immer absolute Vollprofis am Werk. Natürlich nahm der Konkurrenzkampf dadurch zu. Aber wir sind sehr offen empfangen worden. Der Deutsche Fußball-Bund hat immer stark darauf geachtet.

Frage: Konnten Sie die Nationalhymne beim ersten Mal schon mitsingen?

Sammer: Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Ich habe den Blick gesenkt und mir viele Dinge durch den Kopf gehen lassen. Ich habe mich mit der westdeutschen Nationalhymne genauso wenig auseinandergesetzt, wie ich es vorher mit der ostdeutschen getan hatte. Es war überhaupt kein Thema, die Nationalhymne aus reinem Herzen mitzusingen.

Frage: Sekunden nachdem Andreas Thom für Sie eingewechselt wurde, erzielte dieser den ersten Treffer eines DDR-Spielers in der gesamtdeutschen Nationalmannschaft. Hätten Sie lieber das Tor geschossen?

Sammer: Für Andi Thom hat es mich damals gefreut. Wir wussten ja alle, dass es für uns ostdeutsche Spieler nicht einfach werden würde. Doch Neid gab es nicht. Ganz tief drinnen habe ich aber gedacht: Mensch, ich hoffe, dass mir das auch bald gelingt.

Frage: Franz Beckenbauer hatte gesagt, dass nach dem WM-Titel 1990 und der Wiedervereinigung mit dem Hinzukommen der Spieler aus der DDR Deutschland auf Jahre unschlagbar wäre...

Sammer: ... das war für Berti Vogts, Beckenbauers Nachfolger als Bundestrainer, natürlich eine Bürde. Trotzdem hatte Franz nicht ganz unrecht. Die 0:2-Niederlage gegen Dänemark im Finale der EM 1992 in Schweden hätte uns niemals passieren dürfen. Da wären wir normalerweise Europameister geworden. Und auch 1994 hatten wir eine ebenso starke Mannschaft wie 1990. Franz Beckenbauers Aussage war theoretisch nicht schlecht, sie ist praktisch leider nicht mit Titeln belegt. Wir hatten aber eine sehr gute Mannschaft.

Frage: Mit welchem Gefühl sind Sie zum letzten Spiel der DDR-Auswahl am 12. September 1990 nach Belgien gefahren?

Sammer: Das war schon beeindruckend. Viele Spieler sind überhaupt nicht angereist. Ich glaube, wir hatten nur zwölf Feldspieler und einen Ersatztorwart dabei.

[bild2]

Frage: Trotzdem haben Sie 2:0 auswärts gewonnen und in Ihrem 23. und letzten Einsatz für die DDR auch noch beide Tore erzielt.

Sammer: Genau, aber damals ging alles so schnell. Man konnte die Dinge gar nicht in Ruhe reflektieren. Mit dem Abstand von heute erfüllen mich die beiden Tore mit großem Stolz. Noch immer sprechen mich speziell Menschen aus dem Osten Deutschlands darauf an.

Frage: Einige Spieler aus der ehemaligen DDR haben Auslandsreisen zur Flucht genutzt. Haben Sie als junger Mann ebenfalls daran gedacht?

Sammer: Realistisch gesehen nicht. Ich war ja sehr jung. Auf den Gedanken, zu flüchten und alles zurückzulassen, kam ich gar nicht. Alles so wegzuschmeißen, war in dieser Altersstufe überhaupt kein Thema. Aber der Wunsch in der Bundesliga zu spielen, war schon frühzeitig da. Die Wende kam dann für mich zu einem sportlich perfekten Zeitpunkt. Ich startete gerade bei Dynamo Dresden richtig durch.

Frage: Wie liefen eigentlich Länderspiele mit der DDR-Auswahl im westlichen Ausland ab?

Sammer: Wir konnten uns frei bewegen. Was allerdings im Hintergrund passiert ist, weiß ich nicht. Das habe ich nicht registriert und war mir auch wurscht. Aber natürlich hatten wir gewisse Nachteile - zum Beispiel kaum Geld zum Einkaufen. Es gab immer nur ein paar Mark Tagegeld.

Frage: Welche grundlegenden Unterschiede zwischen der DDR-Auswahl und der gesamtdeutschen Nationalmannschaft haben Sie festgestellt?

Sammer: Es gab ganz entscheidende Unterschiede. Ein gutes Beispiel: 1986 ist die U18-Auswahl der DDR Europameister geworden ist, und wir haben damals auch das DFB-Team von Trainer Berti Vogts geschlagen. Es gab ganz hervorragende Fußballer, und wir hatten auch ein sehr gutes Ausbildungssystem. Woran wir jedoch gescheitert sind, war unsere Mentalität. Uns fehlte in der DDR-Auswahl der Glauben, mit den großen Nationen mithalten zu können. Wir stellten uns immer vor, dass die Bundesliga-Profis außergewöhnlich gut sind. Dabei war auch unsere Qualität hoch - selbst wenn uns die Breite fehlte.

Frage: Waren die Spieler aus der ehemaligen DDR demnach sogar besser?

Sammer: Sie sind fast alle technisch besser ausgebildet gewesen und schossen meist beidfüßig. Das lag daran, dass wir natürlich von der Organisationsstruktur mit den Kinder- und Jugendsportschulen auch die Möglichkeiten hatten, mehr zu trainieren.

Frage: Helfen Ihnen die in der DDR-Zeit gesammelten Erfahrungen bei Ihrer heutigen Arbeit als DFB-Sportdirektor?

Sammer: Selbstverständlich. Wir haben jetzt eine Ausbildungskonzeption geschrieben, und wir haben die Leistungszentren eng verbunden mit der Schule. Die Eliteschulen des Fußballs geben den Schülern die Möglichkeit, auch vormittags zu trainieren. Sie sind im Prinzip ein Abbild vom System in der DDR.

Frage: Wer war ihr bester Nationaltrainer oder DDR-Auswahlcoach?

Sammer: Jeder Trainer hatte seine Qualitäten. Mit Berti Vogts habe ich alle Höhen und Tiefen erlebt. Anfangs gab es gewisse Schwierigkeiten, weil er unsere Mentalität nicht kannte. Wir waren ein Stück weit verschlossen, nicht so offen, wie er es sich gewünscht hätte. Dann gab es ein langes Gespräch in Amerika am Strand, wo ich ihm ein bisschen von unserer Geschichte erzählt habe. Das hat er verarbeitet und sein Anspruchsdenken sowie sein Verhalten uns gegenüber geändert. Das ist seine menschliche Qualität, wofür ich ihn sehr schätze.

Weitere Informationen zur Geschichte der Deutschen Nationalmannschaft finden Sie in unserem Sonderbereich.