Paderborner Blechtrommel

Auf Befehl Himmlers war das Lager im Hochsommer 1936 erbaut worden. Die Architektur des Lagers, angelegt als gleichschenkliges Dreieck, folgte dem Gedanken des Panoptikums, also der effizienten Überwachung und Kontrolle einer großen Anzahl Unterdrückter. Mehr als 200.000 Menschen waren hier inhaftiert. Häftlingen wurden im Zuge pervertierter medizinischer Experimente Wundinfektionen zugefügt, Kinder wurden mit Hepatitis B infiziert, um so Erkenntnisse über die Veränderungen an der Leber zu gewinnen.

Mohamad, der in Syrien aufwuchs, denkt heute über vieles anders. Israel, das habe er schon als Kind verstanden, galt in seiner Heimat als Feind. Heute sagt er "Juden sind auch Menschen. Alle müssen daran arbeiten, dass wir Konflikte friedlich und mit Worten lösen." Vor der Reise nach Oranienburg, habe er immer gedacht, die Juden hätten doch aus den Konzentrationslagern wegrennen können. "Ich habe erst jetzt verstanden, wie das da war." Mohamad sagt auch: "So viele Männer sind gefallen oder waren lange in Gefangenschaft. Ich habe verstanden, dass die Frauen Deutschland nach dem Krieg wieder aufgebaut haben."

Mit dem Musikvideo "Be Deutsch" proklamierte Jan Böhmermann im gewohnt aggressiven Ton, dass gerade die Erinnerungskultur helfe, einen irgendwie gearteten gesellschaftlichen Konsens in Deutschland zu wahren. Ähnlich wenn auch auf europäischer Ebene die Position in Robert Menasses Roman "Die Hauptstadt", der 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Schon Oskar Matzerath brachte die Naziparade mit seiner Blechtrommel aus dem Takt. Wie wir Meinungs- und Pressefreiheit, individuelle Freiheiten, die Gleichheit der Geschlechter und kulturelle Vielfalt gestaltet haben, das hat in Deutschland auch eine ganze Menge mit den Erfahrungen aus der Zeit der NS-Diktatur zu tun. Aber wie vermittelt man diese geschichtliche Lehre in einer zunehmend kulturell diversifizierten Gesellschaft? Auf diese komplizierte Frage haben Verani Kartum und sein Verein SC Aleviten Paderborn eine überzeugende Antwort gegeben. Dafür erhält der Klub am 18. November im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund des Julius Hirsch Preis 2018.

Auch das mit dem zweiten Platz ausgezeichnete Gemeinschaftsprojekt "Aus der eigenen Geschichte lernen!" verbindet die historische Arbeit mit der Vermittlung gesellschaftspolitischer Werte. Seit 2015 haben mehrere Projektgruppen mit Schülern, Historikern, Hertha-Fans und Sozialarbeitern in Gedenkstätten und Archiven die Biografien der jüdischen Hertha-Mitglieder Dr. Hermann Horwitz und Eljasz Kaszke recherchiert und medial und museal aufgearbeitet, u. a. in der Ausstellung "Hauptstadtfußball – 125 Jahre Hertha BSC und Lokalrivalen". Nachdem Hertha BSC bereits 2012 für ein früheres Projekt mit dem dritten Preis ausgezeichnet wurde, würdigt die Jury mit der erneuten Prämierung die bemerkenswerte Verstetigung und Vertiefung des Engagements seitdem.

Auch das Fanprojekt Bochum, Träger des dritten Preises, arbeitet bereits seit 2015 intensiv im historischen Vereinskontext. Nach dem Erstarken rechter Strömungen im Stadionumfeld initiierte das Fanprojekt im November 2015 die Gründung der "AG Erinnerungsort Bochum", um zusammen mit aktiven Fans und Stadionbesuchern eine lokale und authentische Erinnerungskultur zu begründen. Ein Ergebnis ist die in akribischer Arbeit am 13. April 2018 - einen Tag vor der Feier zum 80. Gründungstag des VfL Bochum – veröffentlichte Broschüre „1938 – nur damit es jeder weiß“. Sie erinnert daran, dass die Gründung des Traditionsvereins auf die Initiative des NSDAP-Oberbürgermeisters Otto Piclum zurückgeht, lokalisiert aber auch weitere Bochumer Erinnerungsorte für Opfer und Widerstandskämpfer gegen die deutschen Verbrechen im Namen der nationalsozialistischen Ideologie. 

Der argentinischen Historiker Leonardo Albajari erhält den Julius Hirsch Ehrenpreis 2018 für sein Projekt "No fue un juego" ("Es war kein Spiel"). Zum ersten Mal zeichnete die Jury damit einen internationalen Preisträger aus.

Ein Jahr lebte Tharig bei seinem Onkel, dann durften seine Eltern nachziehen. Ihm gefalle sein Leben in Deutschland sehr gut, das Fußballtraining, die Schule. "Es gibt keinen Krieg hier und jeder hat einen freien Willen", sagt Tharig. Und was wolle er? "Ich will später Polizist werden, denn Gerechtigkeit ist wichtig."

Der Julius Hirsch Preis

Mit der Stiftung des Julius Hirsch Preises erinnert der DFB seit 2005 an den deutsch-jüdischen Nationalspieler Julius Hirsch (1892-1943) und an alle, insbesondere die jüdischen Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsstaates. Der DFB gedenkt so seiner jüdischen Mitglieder, erinnert an ihre vielfältigen Verdienste im deutschen Fußball und leistet einen Beitrag zur Stärkung der Zivilgesellschaft, in der Demokratie, Menschenrechte sowie der Schutz von Minderheiten unveräußerliche Werte sind. Ausgezeichnet werden Personen, Initiativen und Vereine, die sich gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung engagieren.

[dfb]


Ein kleiner Fußballklub aus Ostwestfalen hat eine Antwort darauf gegeben, wie wir mit der Erinnerung an die Nazi-Diktatur zukünftig umgehen sollen.

"So hohe Schuhe aus Leder, wie heißt denn das auf Deutsch?"

"Stiefel."

"Genau. Die mussten Stiefel tragen und den ganzen Tag darin rumlaufen. Zehn, zwölf Stunden. Die haben denen noch schwere Sachen in den Rucksack gepackt. Da waren drei Ärzte dabei. Wer nicht mehr konnte, wurde erschossen."

Mohamad ist 16 Jahre alt, im Team der B-Junioren des SC Aleviten Paderborn spielt er in der Verteidigung. Als er 13 Jahre alt war, floh seine Familie aus dem nordsyrischen Qamischli. Mohamad war einer von 14 jungen Fußballern des SC Aleviten Paderborn, die im April das Konzentrationslager Sachsenhausen besuchten.

Kiarash kommt auf dem Iran und steht im Tor der Paderborner B-Junioren.

"Vor der Fahrt kannte ich die Geschichte gar nicht. Uns wurde gezeigt, wo man die Leute erschossen hat. Daran denke ich heute noch."

Tharig war erst 13 Jahre alt, als der SC Aleviten seine Jugendgruppe nach Oranienburg schickte. Doch Tharig ist älter, härter als es Kinder in seinem Alter sein sollten. Ohne seine Eltern, nur von seinem Cousin begleitet, floh er aus dem Irak nach Deutschland. Wir sitzen im Büro des Vereinsvorsitzenden Verani Kartum und Tharig erzählt. Er ist ein wacher, blitzgescheiter Junge.

"Ich erinnere mich an die Inschrift ´Arbeit macht frei` am Eingangstor. Die wurden aus ihren Wohnungen abgeführt und in Züge gesperrt. Im Lager hat man den Juden dann gesagt, dass jetzt erstmal alle duschen gehen müssen, danach kriegen alle ein Zimmer. Und dann kam das Gas aus den Duschköpfen."

Zweimal schon fuhren Jugendgruppen des Paderborner Vereins nach Oranienburg. "Wege der Erinnerung" heißt das Projekt, mit dem der Kreisligaklub den jungen Fußballern deutsche Geschichte vermitteln will. 600 Mitglieder hat der ostwestfälische Verein, der eine betont sozialpädagogische Ausrichtung pflegt. Neben den Sportmöglichkeiten macht man seinen Mitgliedern Angebote zu gesellschaftlichen, kulturellen oder religiösen Anlässen. Der SC Aleviten lädt Kinder geflüchteter Familien zum Fußballspielen ein und wurde in seinem Engagement durch die DFB-Stiftung Egidius Braun und die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung unterstützt. Drei Bullis ermöglichen es, Kinder aus den sozialschwachen Stadtteilen zum Training abzuholen. "Wir stehen ein für sozial benachteiligte Menschen", sagt der 49-jährige frühpensionierte Vollzugsbeamte Verani Kartum. "Wenn ich mal einen nicht mehr aufnehmen kann, höre ich auf. In unserem Verein ist das Boot nie zu voll."

Vor Beginn der Gedenkreisen besprach man mit den jungen Fußballern den historischen Kontext. Nationalsozialismus, Antisemitismus, Holocaust – nicht wenige der Jugendlichen erfuhren zum ersten Mal davon. In Oranienburg wohnte man im Haus Szypiorski zusammen mit einer polnischen Schulklasse aus Debica, gemeinsam besuchte man die Gedenkstätte. Man ließ sich Zeit, drei Tage hintereinander durchstreiften beide Jugendgruppen das Lager. Man erkundete gemeinsam die Biografien einiger Lagerinsassen. Martin Niemöller, Jurek Becker, Gerhard Löwenthal, Peter Suhrkamp und kurz auch Georg Elser etwa waren hier interniert. Man sprach miteinander und wieder daheim in Paderborn berichteten die Jugendlichen auf einer Veranstaltung den Eltern und anderen Vereinsmitgliedern davon, was sie gesehen hatten.

Mohamed erzählte damals von der Schuhprüfstrecke, über die die KZ-Insassen auf unterschiedlichen Bodenbelägen oft 40 Kilometer am Tag marschieren mussten, um so das Sohlenmaterial zu testen. Kiaresh erzählte von der Erschießung von 12.000 sowjetischen Kriegsgefangenen im Herbst 1941. Die SS-Mörder schickte man anschließend auf Urlaub nach Italien.

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Auf Befehl Himmlers war das Lager im Hochsommer 1936 erbaut worden. Die Architektur des Lagers, angelegt als gleichschenkliges Dreieck, folgte dem Gedanken des Panoptikums, also der effizienten Überwachung und Kontrolle einer großen Anzahl Unterdrückter. Mehr als 200.000 Menschen waren hier inhaftiert. Häftlingen wurden im Zuge pervertierter medizinischer Experimente Wundinfektionen zugefügt, Kinder wurden mit Hepatitis B infiziert, um so Erkenntnisse über die Veränderungen an der Leber zu gewinnen.

Mohamad, der in Syrien aufwuchs, denkt heute über vieles anders. Israel, das habe er schon als Kind verstanden, galt in seiner Heimat als Feind. Heute sagt er "Juden sind auch Menschen. Alle müssen daran arbeiten, dass wir Konflikte friedlich und mit Worten lösen." Vor der Reise nach Oranienburg, habe er immer gedacht, die Juden hätten doch aus den Konzentrationslagern wegrennen können. "Ich habe erst jetzt verstanden, wie das da war." Mohamad sagt auch: "So viele Männer sind gefallen oder waren lange in Gefangenschaft. Ich habe verstanden, dass die Frauen Deutschland nach dem Krieg wieder aufgebaut haben."

Mit dem Musikvideo "Be Deutsch" proklamierte Jan Böhmermann im gewohnt aggressiven Ton, dass gerade die Erinnerungskultur helfe, einen irgendwie gearteten gesellschaftlichen Konsens in Deutschland zu wahren. Ähnlich wenn auch auf europäischer Ebene die Position in Robert Menasses Roman "Die Hauptstadt", der 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Schon Oskar Matzerath brachte die Naziparade mit seiner Blechtrommel aus dem Takt. Wie wir Meinungs- und Pressefreiheit, individuelle Freiheiten, die Gleichheit der Geschlechter und kulturelle Vielfalt gestaltet haben, das hat in Deutschland auch eine ganze Menge mit den Erfahrungen aus der Zeit der NS-Diktatur zu tun. Aber wie vermittelt man diese geschichtliche Lehre in einer zunehmend kulturell diversifizierten Gesellschaft? Auf diese komplizierte Frage haben Verani Kartum und sein Verein SC Aleviten Paderborn eine überzeugende Antwort gegeben. Dafür erhält der Klub am 18. November im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund des Julius Hirsch Preis 2018.

Auch das mit dem zweiten Platz ausgezeichnete Gemeinschaftsprojekt "Aus der eigenen Geschichte lernen!" verbindet die historische Arbeit mit der Vermittlung gesellschaftspolitischer Werte. Seit 2015 haben mehrere Projektgruppen mit Schülern, Historikern, Hertha-Fans und Sozialarbeitern in Gedenkstätten und Archiven die Biografien der jüdischen Hertha-Mitglieder Dr. Hermann Horwitz und Eljasz Kaszke recherchiert und medial und museal aufgearbeitet, u. a. in der Ausstellung "Hauptstadtfußball – 125 Jahre Hertha BSC und Lokalrivalen". Nachdem Hertha BSC bereits 2012 für ein früheres Projekt mit dem dritten Preis ausgezeichnet wurde, würdigt die Jury mit der erneuten Prämierung die bemerkenswerte Verstetigung und Vertiefung des Engagements seitdem.

Auch das Fanprojekt Bochum, Träger des dritten Preises, arbeitet bereits seit 2015 intensiv im historischen Vereinskontext. Nach dem Erstarken rechter Strömungen im Stadionumfeld initiierte das Fanprojekt im November 2015 die Gründung der "AG Erinnerungsort Bochum", um zusammen mit aktiven Fans und Stadionbesuchern eine lokale und authentische Erinnerungskultur zu begründen. Ein Ergebnis ist die in akribischer Arbeit am 13. April 2018 - einen Tag vor der Feier zum 80. Gründungstag des VfL Bochum – veröffentlichte Broschüre „1938 – nur damit es jeder weiß“. Sie erinnert daran, dass die Gründung des Traditionsvereins auf die Initiative des NSDAP-Oberbürgermeisters Otto Piclum zurückgeht, lokalisiert aber auch weitere Bochumer Erinnerungsorte für Opfer und Widerstandskämpfer gegen die deutschen Verbrechen im Namen der nationalsozialistischen Ideologie. 

Der argentinischen Historiker Leonardo Albajari erhält den Julius Hirsch Ehrenpreis 2018 für sein Projekt "No fue un juego" ("Es war kein Spiel"). Zum ersten Mal zeichnete die Jury damit einen internationalen Preisträger aus.

Ein Jahr lebte Tharig bei seinem Onkel, dann durften seine Eltern nachziehen. Ihm gefalle sein Leben in Deutschland sehr gut, das Fußballtraining, die Schule. "Es gibt keinen Krieg hier und jeder hat einen freien Willen", sagt Tharig. Und was wolle er? "Ich will später Polizist werden, denn Gerechtigkeit ist wichtig."

Der Julius Hirsch Preis

Mit der Stiftung des Julius Hirsch Preises erinnert der DFB seit 2005 an den deutsch-jüdischen Nationalspieler Julius Hirsch (1892-1943) und an alle, insbesondere die jüdischen Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsstaates. Der DFB gedenkt so seiner jüdischen Mitglieder, erinnert an ihre vielfältigen Verdienste im deutschen Fußball und leistet einen Beitrag zur Stärkung der Zivilgesellschaft, in der Demokratie, Menschenrechte sowie der Schutz von Minderheiten unveräußerliche Werte sind. Ausgezeichnet werden Personen, Initiativen und Vereine, die sich gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung engagieren.

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