Niersbach und de Maizière überreichen Julius Hirsch Preis

Der Junge ist sportbegeistert, ganz besonders gerne spielt und verfolgt er den Fußball. Er ist 15 Jahre alt, da unterschreibt er seine Mitgliedschaft beim SC Göttingen 05. Seine Eltern betreiben ein Herrenkonfektionsgeschäft in der Groner Straße, der sportliche Sohn kegelt in zwei Vereinen, mit jüdischen Freunden schlägt er stundenlang die Bälle übers Tennisnetz. Doch besondere Begeisterung empfindet er eben für den Fußball. Er ist ein glühender Fan des SC Göttingen. Dann geht er nach Frankfurt, absolviert die Ausbildung zum Bankkaufmann, kehrt wieder nach Göttingen zurück.

Und dann ändert sich alles für Ludolf Katz.

Am 30. Januar 1933 ernennt Reichspräsident Paul von Hindenburg den NSDAP-Vorsitzenden Adolf Hitler zum Reichskanzler. Nicht lange und der Kicker druckt eine Erklärung des DFB ab, dass "Angehörige der jüdischen Rasse" in führenden Stellungen der Landesverbände und Vereine "nicht für tragbar" erachtet werden. In Göttingen in der Groner Straße und anderswo steht auf den Scheiben, mit Teer auf die Straße geschmiert "Jude verrecke". Als die SA durch die Straße marschiert, wird Ludolf Katz zusammengeschlagen. Die Zeitung berichtet am nächsten Tag, er habe den vorbeimarschierenden Nazis die Zunge rausgestreckt. Der Bankangestellte Ludolf Katz ist 31 Jahre alt, als ihn der SC Göttingen nach 16 Jahren Mitgliedschaft aus dem Verein ausschließt. Was Ludolf Katz widerfährt, müssen jüdische Fußballer im ganzen Land erleben und durchleiden. Und als der Krieg endet, wird ihre Geschichte verdrängt und totgeschwiegen.

Die Supporter Crew SC Göttingen 05 e.V. wurde am Sonntag in Leipzig mit dem Julius Hirsch Preis 2015 ausgezeichnet, weil der Fandachverband des Traditionsklubs engagiert die Erinnerung an verbannte jüdische Mitglieder wieder in die Öffentlichkeit trug. Die Göttinger Fans brachten Ludolf Katz‘ Lebensgeschichte wieder an die Oberfläche, in dem sie etwa Lesungen und ein Fußballspiel veranstalteten und in der Grohner Straße Stolpersteine verlegten.

Zehnjähriges Jubiläum

Die Supporter Crew reiht sich in eine Liste von engagierten und couragierten Personen und Organisationen, die sich im Fußball verdient gemacht haben, indem sie Erinnerungskultur gestalteten, und dafür den Julius Hirsch Preis erhalten haben. Erster Preisträger im Jahr 2005 war der FC Bayern München. Seit genau zehn Jahren verleiht der DFB den Preis und stärkt damit einzelnen Menschen, Fangruppen und Vereinen den Rücken, die sich gegen Rassismus und Diskriminierung stellen.

Das entschlossene Eintreten gegen Antisemitismus bleibe eine besondere Verantwortung, auch für den Fußball, sagte DFB-Präsident Wolfgang Niersbach in der Leipziger Eventhalle Da Capo, wo die Julius Hirsch-Preisverleihung am Nachmittag des Georgien-Länderspiels vor 350 Gästen stattfand. "Wir Fußballer müssen uns gegen jede Bewegung nach rechts einsetzen", sagte Niersbach.

Thomas de Maizière sprach in seiner Festrede über Erinnerung und Geschichte, über die besonderen Momente 1954, über Lehmanns Zettel 2006 und diese 18 Minuten gegen Brasilien im Sommer 2014. Dann sagte der Bundesinnenminister: "Viele Spieler erinnern sich aber auch bis heute an rassistische Rufe in Fußballstadien. Nicht nur in Italien. Auch bei uns." Erinnerungen seien wichtig, um sich der eigenen Geschichte zu vergewissern, sagte de Maizière, der auch für den Sport in Deutschland verantwortlich ist, und bedankte sich beim DFB von ganzem Herzen für die Ausrichtung und Vergabe dieses Preises. "Denn der Fußball hat eine Bedeutung über den Sport hinaus."

Einer seiner Amtsvorgänger war ebenfalls Gast der Verleihung. Otto Schily, Bundesinnenminister a.D., hatte seit 2005 der Jury des Julius Hirsch Preises angehört. In Leipzig nun legte er diese Aufgabe nieder und gab dem Preis zum Abschied mit auf dem Weg: "Demokratie ist immer in Gefahr. Die Vergangenheit vergeht nicht. Was junge Leute geschaffen haben, zur Verteidigung unserer Demokratie, auch angeregt durch den Julius Hirsch Preis, dafür kann man dankbar sein."

Hitzlsperger hielt die Laudatio

Vize-Europameister Thomas Hitzlsperger hielt die Laudatio auf den diesjährigen Preisträger. "Die Überzeugung, dass ein Fußballklub mehr ist und mehr kann als einmal in der Woche Fußball zu spielen, macht die Göttinger Supporters Crew aus", sagte der 52-malige Nationalspieler. Moderiert wurde die Matinee durch DFB-Mediendirektor Ralf Köttker, der gleich zu Beginn Leipzigs ganz besondere Bedeutung für den Fußballdachverband darstellte. Hier wurde der DFB 1900 gegründet, hier die Fuballwiedervereinigung besiegelt – vom Mariengarten bis zum Trabi-Handshake.

Den Beschluss, jährlich einen Preis im Namen des ermordeten Nationalspielers zu verleihen, fiel 2005, nach der Veröffentlichung der Studie "Fußball unterm Hakenkreuz – Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz" von Dr. Nils Havemann. 2001 hatte das DFB-Präsidium den freien Historiker mit der Aufarbeitung der Verbandsgeschichte im "Dritten Reich" beauftragt. Der DFB, seine Vereine und die meisten Funktionäre und Aktiven, so das Ergebnis der 473 Seiten umfassenden Studie, ließen sich ab 1933 größtenteils bereitwillig für die menschenverachtenden Ziele der Nazis instrumentalisieren. Nach Publikation von Havemanns Standardwerk war klar – es muss ein bleibender Ort, ein nachhaltiger Moment der Erinnerung geschaffen werden.

Prominente Gäste

Zu den Gästen der diesjährigen Verleihung zählten unter anderen auch Charlotte Knobloch, die langjährige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, und Dr. Reinhard Rauball, der Präsident des Ligaverbandes. IOC-Präsident Dr. Thomas Bach und Bayern Münchens Vorstandvorsitzender Karlheinz Rummenigge schickten per Videoeinspieler Grüße zu zehn Jahren Julius Hirsch Preis.

Zum Abschluss der Preisverleihung präsentierte Andreas Hirsch, der Enkel des Namensgebers, historisches Bildmaterial. Julius Hirsch und Gottfried Fuchs, in 108 Jahren deutsche Nationalmannschaft die einzigen beiden deutschen Nationalspieler jüdischen Glaubens, bei einem Ligaspiel aus der Saison 2010.

Ludolf Katz und seiner Frau Reneé gelingt 1938 die Flucht. Er wird 91 Jahre alt und stirbt 1994 in Sarasota, Florida. Seine Eltern überleben den Krieg und die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nicht. Leopold Katz verkauft das Geschäft zu einem Spottpreis. Verzweifelt versuchen sie aus dem Land zu kommen, doch als sie die Schiffstickets erreichen, herrscht Krieg und sie dürfen Deutschland nicht mehr verlassen. 1942 werden Mathilde und Leopold Katz ins Warschauer Ghetto deportiert. Dort verliert sich ihre Spur.

[th]

Der Junge ist sportbegeistert, ganz besonders gerne spielt und verfolgt er den Fußball. Er ist 15 Jahre alt, da unterschreibt er seine Mitgliedschaft beim SC Göttingen 05. Seine Eltern betreiben ein Herrenkonfektionsgeschäft in der Groner Straße, der sportliche Sohn kegelt in zwei Vereinen, mit jüdischen Freunden schlägt er stundenlang die Bälle übers Tennisnetz. Doch besondere Begeisterung empfindet er eben für den Fußball. Er ist ein glühender Fan des SC Göttingen. Dann geht er nach Frankfurt, absolviert die Ausbildung zum Bankkaufmann, kehrt wieder nach Göttingen zurück.

Und dann ändert sich alles für Ludolf Katz.

Am 30. Januar 1933 ernennt Reichspräsident Paul von Hindenburg den NSDAP-Vorsitzenden Adolf Hitler zum Reichskanzler. Nicht lange und der Kicker druckt eine Erklärung des DFB ab, dass "Angehörige der jüdischen Rasse" in führenden Stellungen der Landesverbände und Vereine "nicht für tragbar" erachtet werden. In Göttingen in der Groner Straße und anderswo steht auf den Scheiben, mit Teer auf die Straße geschmiert "Jude verrecke". Als die SA durch die Straße marschiert, wird Ludolf Katz zusammengeschlagen. Die Zeitung berichtet am nächsten Tag, er habe den vorbeimarschierenden Nazis die Zunge rausgestreckt. Der Bankangestellte Ludolf Katz ist 31 Jahre alt, als ihn der SC Göttingen nach 16 Jahren Mitgliedschaft aus dem Verein ausschließt. Was Ludolf Katz widerfährt, müssen jüdische Fußballer im ganzen Land erleben und durchleiden. Und als der Krieg endet, wird ihre Geschichte verdrängt und totgeschwiegen.

Die Supporter Crew SC Göttingen 05 e.V. wurde am Sonntag in Leipzig mit dem Julius Hirsch Preis 2015 ausgezeichnet, weil der Fandachverband des Traditionsklubs engagiert die Erinnerung an verbannte jüdische Mitglieder wieder in die Öffentlichkeit trug. Die Göttinger Fans brachten Ludolf Katz‘ Lebensgeschichte wieder an die Oberfläche, in dem sie etwa Lesungen und ein Fußballspiel veranstalteten und in der Grohner Straße Stolpersteine verlegten.

Zehnjähriges Jubiläum

Die Supporter Crew reiht sich in eine Liste von engagierten und couragierten Personen und Organisationen, die sich im Fußball verdient gemacht haben, indem sie Erinnerungskultur gestalteten, und dafür den Julius Hirsch Preis erhalten haben. Erster Preisträger im Jahr 2005 war der FC Bayern München. Seit genau zehn Jahren verleiht der DFB den Preis und stärkt damit einzelnen Menschen, Fangruppen und Vereinen den Rücken, die sich gegen Rassismus und Diskriminierung stellen.

Das entschlossene Eintreten gegen Antisemitismus bleibe eine besondere Verantwortung, auch für den Fußball, sagte DFB-Präsident Wolfgang Niersbach in der Leipziger Eventhalle Da Capo, wo die Julius Hirsch-Preisverleihung am Nachmittag des Georgien-Länderspiels vor 350 Gästen stattfand. "Wir Fußballer müssen uns gegen jede Bewegung nach rechts einsetzen", sagte Niersbach.

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Thomas de Maizière sprach in seiner Festrede über Erinnerung und Geschichte, über die besonderen Momente 1954, über Lehmanns Zettel 2006 und diese 18 Minuten gegen Brasilien im Sommer 2014. Dann sagte der Bundesinnenminister: "Viele Spieler erinnern sich aber auch bis heute an rassistische Rufe in Fußballstadien. Nicht nur in Italien. Auch bei uns." Erinnerungen seien wichtig, um sich der eigenen Geschichte zu vergewissern, sagte de Maizière, der auch für den Sport in Deutschland verantwortlich ist, und bedankte sich beim DFB von ganzem Herzen für die Ausrichtung und Vergabe dieses Preises. "Denn der Fußball hat eine Bedeutung über den Sport hinaus."

Einer seiner Amtsvorgänger war ebenfalls Gast der Verleihung. Otto Schily, Bundesinnenminister a.D., hatte seit 2005 der Jury des Julius Hirsch Preises angehört. In Leipzig nun legte er diese Aufgabe nieder und gab dem Preis zum Abschied mit auf dem Weg: "Demokratie ist immer in Gefahr. Die Vergangenheit vergeht nicht. Was junge Leute geschaffen haben, zur Verteidigung unserer Demokratie, auch angeregt durch den Julius Hirsch Preis, dafür kann man dankbar sein."

Hitzlsperger hielt die Laudatio

Vize-Europameister Thomas Hitzlsperger hielt die Laudatio auf den diesjährigen Preisträger. "Die Überzeugung, dass ein Fußballklub mehr ist und mehr kann als einmal in der Woche Fußball zu spielen, macht die Göttinger Supporters Crew aus", sagte der 52-malige Nationalspieler. Moderiert wurde die Matinee durch DFB-Mediendirektor Ralf Köttker, der gleich zu Beginn Leipzigs ganz besondere Bedeutung für den Fußballdachverband darstellte. Hier wurde der DFB 1900 gegründet, hier die Fuballwiedervereinigung besiegelt – vom Mariengarten bis zum Trabi-Handshake.

Den Beschluss, jährlich einen Preis im Namen des ermordeten Nationalspielers zu verleihen, fiel 2005, nach der Veröffentlichung der Studie "Fußball unterm Hakenkreuz – Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz" von Dr. Nils Havemann. 2001 hatte das DFB-Präsidium den freien Historiker mit der Aufarbeitung der Verbandsgeschichte im "Dritten Reich" beauftragt. Der DFB, seine Vereine und die meisten Funktionäre und Aktiven, so das Ergebnis der 473 Seiten umfassenden Studie, ließen sich ab 1933 größtenteils bereitwillig für die menschenverachtenden Ziele der Nazis instrumentalisieren. Nach Publikation von Havemanns Standardwerk war klar – es muss ein bleibender Ort, ein nachhaltiger Moment der Erinnerung geschaffen werden.

Prominente Gäste

Zu den Gästen der diesjährigen Verleihung zählten unter anderen auch Charlotte Knobloch, die langjährige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, und Dr. Reinhard Rauball, der Präsident des Ligaverbandes. IOC-Präsident Dr. Thomas Bach und Bayern Münchens Vorstandvorsitzender Karlheinz Rummenigge schickten per Videoeinspieler Grüße zu zehn Jahren Julius Hirsch Preis.

Zum Abschluss der Preisverleihung präsentierte Andreas Hirsch, der Enkel des Namensgebers, historisches Bildmaterial. Julius Hirsch und Gottfried Fuchs, in 108 Jahren deutsche Nationalmannschaft die einzigen beiden deutschen Nationalspieler jüdischen Glaubens, bei einem Ligaspiel aus der Saison 2010.

Ludolf Katz und seiner Frau Reneé gelingt 1938 die Flucht. Er wird 91 Jahre alt und stirbt 1994 in Sarasota, Florida. Seine Eltern überleben den Krieg und die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nicht. Leopold Katz verkauft das Geschäft zu einem Spottpreis. Verzweifelt versuchen sie aus dem Land zu kommen, doch als sie die Schiffstickets erreichen, herrscht Krieg und sie dürfen Deutschland nicht mehr verlassen. 1942 werden Mathilde und Leopold Katz ins Warschauer Ghetto deportiert. Dort verliert sich ihre Spur.