England mit nur einem Gegentor ins Finale

Doch die Worte von Sepp Herberger, der sich immer in der Nähe und zuweilen gar in der Kabine aufhielt, sollten noch Bedeutung erhalten: „Was, ihr wollt den Emmerich aufstellen? Wenn der ein Tor schießt, kriegt ihr ihn nicht mehr aus der Mannschaft.“ Dem war so und das war nicht gut, denn was Herberger meinte, trat ein: der junge Dortmunder war noch ein unfertiger Spieler mit technischen Schwächen und mangelndem Spielverständnis. Doch Schön schleppte Emmerich nun durch das Turnier, was er hinterher bereute.

Immerhin kam Haller zurück in die Elf, was sich nur zwei Tage später in Sheffield bezahlt machen sollte. Im Viertelfinale traf Deutschland auf Uruguay und nicht nur Hans Tilkowski wusste, was das bedeutete: „Ab sofort wissen wir, was wir bei der Abfahrt nicht vergessen dürfen: die Schienbeinschoner“, schreibt er in seinen Erinnerungen.

Siggi Held machte den Spruch des Tages: „Die Urus sollen schreckliches Heimweh haben. Davon werden wir sie heute erlösen.“ In der Tat. Vorher sahen sie noch einen Miss Marple-Film im Kino: „17.50 Uhr ab Paddington.“ Dem Krimi folgte ein Drama.

Wieder sah die WM ein brutales Spiel, das nach Hallers frühem 1:0 aus den Fugen geriet. Als Uruguays Kapitän Troche Lothar Emmerich in den Magen schlug, intervenierte der Linienrichter. Emmerich erzählte dem Kicker: „Ich stehe da und schaue dem Ball nach, da fährt mir der Schmerz wie ein Messer durch den Bauch. Es wird mir schwarz vor Augen und weg war ich. Er hat mir einen Haken genau auf die Leber geschlagen.“

Troche flog vom Platz und wollte retten, was zu retten war. Er ohrfeigte den unbeteiligten Uwe Seeler, um eine Revanche zu provozieren. Doch Seeler beherrschte sich.

Kurz darauf drehte der nächste Südamerikaner durch: Silva trat Haller um und wurde ebenfalls vom Feld geschickt. Da er sich weigerte, musste ihn schließlich die englische Polizei abführen. Gegen neun Gegner kam die deutsche Elf erst spät noch zu einem klaren 4:0-Sieg durch altbekannte Schützen: Haller, Beckenbauer und Seeler trafen wieder. Die Uruguayer, denen pro Kopf umgerechnet 25.000 D-Mark Weltmeister-Prämie entgangen waren, tobten noch in den Katakomben weiter und Cortes erhielt für seinen Tritt gegen den Schiedsrichter vom eigenen Verband eine lange Sperre.

Es war nicht das einzige Skandal-Spiel des Viertelfinales, nachdem die Europäer unter sich waren. Englands 1:0 gegen Argentinien wurde überschattet von der Affäre Kreitlein-Rattin.

In der 35. Minute stellte der deutsche Schiedsrichter Rudolf Kreitlein Argentiniens Kapitän Antonio Rattin vom Platz. Dieser war hinter ihm hergelaufen und hatte ihn angebrüllt. Kreitlein hatte dies, obwohl er kein Spanisch verstand, als Beleidigung aufgefasst. Er habe das „vom Gesichtsausdruck abgelesen“, sagte Kreitlein später. Rattin, der weder Deutsch noch Englisch sprach, hatte jedoch angeblich lediglich einen Dolmetscher gefordert und weigerte sich standhaft, das Spielfeld zu verlassen. Wieder mussten Polizisten die Entscheidung des Schiedsrichters exekutieren und Rattín vom Platz führen.

Aufgrund dieses neuerlichen Vorfalles wurden übrigens die Gelben und Roten Karten eingeführt, die jede Sprachhürde nehmen. Den Einfall hatte der englische Schiedsrichterbetreuer Ken Aston, 1962 selbst noch in Chile aktiv, am nächsten Morgen an einer Ampel. Auch deren Signalfarben sind ohne Worte allgemeinverständlich.

So wurden in England die Weichen gestellt für den Übergang zum modernen Fußball. Die WM 1966 war quasi die letzte der Antike, aber diese Endrunde stand schon an der Schwelle zur Moderne. Nicht nur bei der Kartenregelung. Gewiss, noch immer durfte nicht ausgewechselt werden, weshalb alle Teams einen Notplan brauchten, falls der Torwart mal ausfiele. Bei Deutschland waren Siggi Held, Horst Höttges oder gar Uwe Seeler vorgesehen, je nach Spielstand. Und noch immer galt der Losentscheid bei Gleichstand in K.-o.-Spielen. Aber erstmals gab es Doping-Kontrollen und endlich kamen alle Spiele live im Fernsehen – wenn auch nur in Schwarz-Weiß und ohne Zeitlupe. Das Finale war das erste, das weltweit live übertragen wurde und wurde von 400 Millionen Menschen gesehen.

Auf den Weg dorthin machten sich ab dem Halbfinale nur noch Europäer. Denn das koreanische Märchen endete mit einem Paukenschlag. Gegen die Portugiesen führte der Außenseiter zwar nach 27 Minuten sensationell mit 3:0, am Ende aber hieß es 3:5, weil WM-Torschützenkönig Eusebio allein vier Mal traf. Der Kicker stellte fest: „Die Asiaten sind bald keine Schüler mehr.“ Auch Russland erreichte mit einem 2:1 über Ungarn das Halbfinale und traf dort auf die Deutschen.

Der Goodison-Park von Liverpool, Heimat des FC Everton, war mit 40.000 Zuschauern nicht ausverkauft und wer kam, versäumte rein fußballerisch wenig. Aber es zählt nur der Sieg in einem WM-Halbfinale – und der glückte den Deutschen. Helmut Haller überwand den legendären Lew Jaschin kurz vor der Pause und provozierte damit eine unsportliche Reaktion. Mit Tschislenko, der Held foulte, flog schon der vierte Gegner in einem Spiel mit Deutschland vom Platz. Als Beckenbauer mit einem Schlenzer das 2:0 erzielte, war das Finale nahe. Der russische Ehrentreffer in der 88. Minute war nur Statistik, schlimmer schien die Schulterverletzung von Tilkowski. Noch im Stadion wurde er geröntgt, es war nur eine Prellung. Vier Tage wurde er von Masseur Erich Deuser behandelt, denn in Wembley wollte niemand fehlen.

Im Finale am 30. Juli warteten erwartungsgemäß die Engländer, die mit nur einem Gegentor durchs Turnier marschiert waren, das ihnen Eusebio in vorletzter Minute bescherte. Doch zuvor hatte Bobby Charlton für das Team von Sir Alf Ramsey zweimal getroffen und seine Extra-Klasse bewiesen. Der Überlebende der Flugzeugkatastrophe der Mannschaft von Manchester United in München 1958 bereitete Helmut Schön großes Kopfzerbrechen. Wie ihn ausschalten?

Dettmar Cramer überzeugte ihn, Franz Beckenbauer rein defensiv als Charltons Wachhund einzusetzen. Hinterher wurde das als mitentscheidender Fehler angesehen, aber hinterher ist man immer schlauer. Auch den Einsatz des zuvor verletzten Horst-Dieter Höttges, für den gegen die Russen Friedel Lutz verteidigt hatte, warf man Schön vor. Von Emmerichs Aufstellung ganz zu schweigen. Und doch absolvierte die Mannschaft am 30. Juli in Wembley vor 96.924 Zuschauern, darunter der Queen, ein auf ewig unvergessliches Spiel, das es nicht verdient hat, auf eine Szene reduziert zu werden. Eine Szene wiederum, an der kein Chronist vorbei kommt, weil sie Weltruhm erlangt hat. Das Wembley-Tor, das, wie der italienische Corriere della Sera prophezeite, „das meistdiskutierte der Fußball-Geschichte bleiben wird“.

Schon vor dem legendärsten Nicht-Tor des Fußballs war es ein Drama. Hallers frühe Führung glich Geoff Hurst postwendend zum Pausenstand von 1:1 aus und als Peters in der 78. Minute auf 2:1 erhöhte, begannen die englischen Fans mit den Siegesfeierlichkeiten. Der deutsche Radio-Reporter Herbert Zimmermann, obwohl beim Wunder von Bern durch alle Gefühlswechselbäder gegangen, resignierte bereits.

„Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass es unsere Stürmer noch mal packen werden“, sagte er in der 90. Minute. Dann musste eben ein Verteidiger aushelfen. Emmerichs Freistoß landete über zwei Abpraller beim Kölner Wolfgang Weber und der glich in letzter Sekunde aus. Der Schiedsrichter pfiff gar nicht mehr an – nur zur Verlängerung. Was dann kam, weiß jeder Fußball-Fan: Der Lattenschuss von Hurst in der 101. Minute und der wohl auf ewig unerforschte Abpraller, auf vor oder doch hinter die Linie. Schiedsrichter Gottfried Dienst gab bereits Ecke, weil Weber den Ball ins Toraus geköpft hatte.

Da meldete sich Linienrichter Tefik Bachramow aus der Sowjetunion gestenreich und bekannte auf Befragung, der Ball sei drin gewesen. Wissenschaftliche Computer-Simulationen von 1995, übrigens von britischen Forschern, legen nahe, dass er geirrt hat. Zumal Bachramow später zugab, er habe es selbst auch nicht gesehen, sondern aus dem Verhalten der Spieler – die einen jubelten, die anderen waren zumindest konsterniert – geschlossen, dass es ein Tor gewesen sein müsse.

So also werden Weltmeisterschaften entschieden. Immerhin war Bachramow nicht allein, auch FIFA-Präsident Stanley Rous und jeder Engländer, den man befragte, hatte den Ball drin gesehen. Und jedem, dem es politisch in den Kram passte wie etwa der DDR-Zeitung Junge Welt. Da stand zu lesen: „Der Ball sprang hinter die Torlinie und dann durch Effet-Wirkung wieder ins Feld.“

Dass auch Bundespräsident Heinrich Lübke im August anlässlich der Verleihung des Silbernen Lorbeerblattes davon sprach, er habe „den Ball im Netz zappeln“ sehen, trugen die Verlierer schon mit Humor, obgleich Helmut Schön tapfer widersprach. Ersatztorwart Sepp Maier verkleidete sich derweil in der Villa Hammerschmidt als Lampe und setzte sich den Schirm auf den Kopf. Sie konnten es sich leisten, sie waren wieder wer.

Weltpresse lobt die DFB-Auswahl

Die Weltpresse hatte den Deutschen ein denkbar gutes Zeugnis ausgestellt, auch und gerade weil sie die zumindest teilweise irregulären Tore – beim 4:2 von Hurst waren schon jubelnde Fans auf dem Platz – so sportlich hingenommen hatten. „Sie hat mit dieser Besonnenheit in diesem Moment für den deutschen Sport und für das deutsche Ansehen mehr getan, als sie mit dem Gewinn des Titels je hätte erreichen können“, fand auch die seriöse FAZ.

In Frankfurt wurde der Vize-Weltmeister jedenfalls wie ein Champion empfangen. Es galt einer im Grunde ungeschlagenen Mannschaft Trost und Anerkennung zu spenden. Die Stimmung jener Tage spiegelte der Titel der Bild-Zeitung wider: „Wir haben 2:2 verloren!“.

Ganz mit leeren Händen waren sie ohnehin nicht aus England zurückgekommen, denn schon zu Turnierbeginn beschloss die FIFA, die WM 1974 nach Deutschland zu vergeben. Dass das ein Grund zur Freude sein kann, bewies England 1966. Sportlich und wirtschaftlich (17 Millionen Schweizer Franken Gewinn) war die achte WM ein voller Erfolg.