Weber: Von Porz bis Wembley

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Mit seinem Tor im WM-Finale 1966 hätte Wolfgang Weber ein Held werden können. Doch anschließend wurde mehr über einen Ball vor, auf oder hinter einer Linie gesprochen. Webers 2:2, das die Deutschen in die Verlängerung rettete, geriet zur Nebensache. Mit 69 ist der Kölner lange darüber hinweg. Der Fußball ist immer noch sein Leben, von der Kreis- bis zur Bundesliga. Und natürlich freut er sich aufs WM-Qualifikationsspiel am Freitag (ab 20.45 Uhr, live in der ARD) gegen Irland - in seiner Stadt.

Ein Augenblick, ein Wimpernschlag. Und schon war alles wieder vorbei. Es war nicht einmal eine Sekunde, die alles verändert hat. Wolfgang Weber begleitet dieser Moment seit fast 50 Jahren. Damals war es eine Katastrophe. Heute kann er darüber schmunzeln. Damals wusste er sofort, dass der Ball nicht im Tor war. Heute ist er noch immer davon überzeugt. Er hat sich die Bilder oft angeschaut. Immer wieder. Langsam, schnell, in der Wiederholung, aus verschiedenen Blickwinkeln – sein erster Eindruck hat sich bestätigt: kein Tor.

Ohne Weber kein Wembley-Tor

Der 30. Juli 1966 war der Tag, der dem damaligen Abwehrspieler des 1. FC Köln einen Platz in der Historie des Weltfußballs gesichert hat. Dabei ist die Geschichte zunächst ganz schnell geschildert: WM-Endspiel, Wembley-Stadion, Deutschland gegen England, 1:2 nach 89 Minuten. Weber rennt ein letztes Mal nach vorne. Plötzlich liegt der Ball vor seinen Füßen. Weber schießt, Weber trifft, 2:2, Jubel, Abpfiff, Verlängerung. Und dann kommt die 101. Minute, die bis heute ein Mysterium ist. Wolfgang Weber war mittendrin: "England war im Angriff. Hurst dringt in den Strafraum ein. Er kommt aus spitzem Winkel zum Schuss. Der Ball springt an die Unterlatte. Von dort auf unsere Torlinie. Ich renne sofort hin und köpfe den Ball ins Aus."

Weber war der Erste, der den Ball nach dem Wembley-Tor berührt hat. Als der Schiedsrichter den Treffer gibt, bricht für ihn eine heile Welt zusammen. Er kann es nicht glauben. Er hat doch gerade mit eigenen Augen gesehen, dass sich der Unparteiische täuscht. Der Rest ist wieder schnell erzählt: Hurst trifft kurz vor Schluss erneut, diesmal regulär zum 4:2. Die Entscheidung. England ist Weltmeister. Trauer bei der DFB-Auswahl. Entsetzen bei Weber.

"Kein Mensch weiß, ob wir den Titel geholt hätten"

Inzwischen blickt der 69-Jährige ohne großen Groll zurück. Er hat seinen Frieden damit gefunden – auf seine ganz eigene, auf seine kölsche Art. "Kein Mensch weiß, ob wir den Titel geholt hätten, wenn der Schiedsrichter nicht die falsche Entscheidung getroffen hätte. Aber manchmal fühlt es sich für mich schon so an, als sei mir der größtmögliche Erfolg für einen Fußballer gestohlen worden." Weber nimmt einen Schluck seines Cappuccinos. Er sitzt am Geißbockheim.

Wenn er über die Schulter blickt, sieht er den Trainingsplatz des 1. FC Köln. Als er früher selbst täglich dort mit seinen Kollegen geübt hat, sah es noch ganz anders aus. Es gab noch keine feine Kunstrasenanlage, keinen Fanshop, keine modernen Fitnessräume. Hier hat sich fast alles verändert, Weber hat sich nicht verändert. Er versteht sich nicht als ehemaliger Fußballstar, auch wenn er dazu Anlass hätte. Er hat 356 Bundesligaspiele für den 1. FC Köln bestritten. Er war ein wichtiger Puzzlestein der erfolgreichsten Ära des Klubs. Weber ist mit dem FC Deutscher Meister geworden, er hat mit seinem Herzensklub den DFB-Pokal geholt. 1966 wurde er Vize-Weltmeister mit der DFB-Auswahl, 1970 in Mexiko WM-Dritter. 1978 beendete der Innenverteidiger seine Karriere wegen einer Herzmuskelentzündung.

Es hat ihm damals wehgetan, als es zu Ende ging. Fußball war sein Leben, Fußball ist sein Leben. Aber er musste sich nichts vorwerfen. Er hatte all das erreicht, was er sich als Kind vorgenommen hatte: Weber war zehn Jahre alt, als er im Klubhaus der Sportvereinigung Porz in der letzten Reihe auf einem Tisch stand, um dort das Endspiel der DFB-Auswahl bei der WM 1954 gegen Ungarn zu sehen. Er musste sich mächtig strecken, um zwischen den ganzen Köpfen einen Blick auf den Fernseher zu erhaschen. Es war einer der größten Tage seiner Kindheit, als die Deutschen nach dem 3:2 den Pokal in den Berner Nachthimmel streckten. "In dem Moment hatte ich den Traum, auch irgendwann mal das DFB-Trikot zu tragen", sagt Weber. Er hat es geschafft, er hat die Welt gesehen. Aber er hat seine Heimat dabei nie vergessen.

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"Köln ist meine Stadt"

"Köln ist meine Stadt. Hier bin ich zu Hause, hier fühle ich mich wohl", sagt Weber. Er würde niemals mehr auf die Idee kommen, für längere Zeit wegzugehen. Er braucht diese ganz spezielle Mentalität, er braucht den FC. Bei jedem Heimspiel ist er im Stadion, er kennt hier jede Ecke. Ohne Fußball geht es nicht. Er braucht die Emotionen, er braucht das Zusammengehörigkeitsgefühl. Weber lebt seit 64 Jahren im Kölner Stadtteil Porz. Das ist ganz im Süden, der Rhein ist nicht weit entfernt, das Geißbockheim 15 Minuten mit dem Auto.

Er will den Leuten etwas von dem zurückgeben, was sie ihm früher entgegengebracht haben. Für sein Engagement für Menschen mit geistiger Behinderung ist er 2011 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Seinem Heimatverein hilft er, wo er kann. Kürzlich hat er einen Physiotherapeuten besorgt. Es ging um den Aufstieg in die Bezirksliga, gereicht hat es nicht. Nun nehmen sie gemeinsam einen neuen Anlauf in der Kreisliga A, ein offizielles Amt braucht er dafür nicht. Um seinen geliebten Stadtteil schöner zu gestalten, hat er einen Bürgerverein mit gegründet. Im Frühjahr haben sie die Beete mit Blumen bepflanzt. Zudem hat Weber eine Patenschaft für einen Spielplatz übernommen. Mindestens einmal in der Woche räumt er dort Müll weg. Geld nimmt er dafür nicht, ihm reicht der dankbare Blick der jungen Eltern, die auf der Bank im Schatten sitzen.

Doppeltes Drama gegen Liverpool: Wadenbeinbruch und Münzwurfpech

In Porz erkennen ihn viele. Er braucht das nicht, aber so ist es eben. Denn die Geschichte damals in Wembley war ja nicht die einzige, die ihn berühmt gemacht hat. Weber war auch einer der Protagonisten des legendären Viertelfinales gegen den FC Liverpool im Landesmeister-Wettbewerb 1964/1965. Nach Hin- und Rückspiel stand es unentschieden. Ein Entscheidungsduell auf neutralem Boden musste her. Es ging nach Rotterdam. Weber war mittendrin – und stellte sich gnadenlos in den Dienst der Mannschaft.

Denn bereits in der Anfangsphase war er schwer verletzt worden. Hinterher erfuhr er, dass es ein Wadenbeinbruch war. "Ich hatte unglaubliche Schmerzen, aber man durfte noch nicht auswechseln", erinnert er sich. Er hielt also durch. Beinahe hätte er sogar ein Tor geschossen. Unentschieden nach 90 Minuten, Unentschieden nach 120 Minuten. Und dann? Elfmeterschießen gab es noch nicht.

Der Münzwurf musste entscheiden. Weber konnte schon längst nicht mehr stehen. Trotzdem bekam er mit, wie die Münze beim ersten Mal senkrecht im Gras stecken blieb. Noch immer kein Sieger, nach dem zweiten Versuch versanken die Kölner im Tal der Tränen. Liverpool hatte gewonnen. Und schon wieder war alles vorbei. Es war nur ein Augenblick. Ein Wimpernschlag. Wie so oft im Fußball. Und wie in Wembley.

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Mit seinem Tor im WM-Finale 1966 hätte Wolfgang Weber ein Held werden können. Doch anschließend wurde mehr über einen Ball vor, auf oder hinter einer Linie gesprochen. Webers 2:2, das die Deutschen in die Verlängerung rettete, geriet zur Nebensache. Mit 69 ist der Kölner lange darüber hinweg. Der Fußball ist immer noch sein Leben, von der Kreis- bis zur Bundesliga. Und natürlich freut er sich aufs WM-Qualifikationsspiel am Freitag (ab 20.45 Uhr, live in der ARD) gegen Irland - in seiner Stadt.

Ein Augenblick, ein Wimpernschlag. Und schon war alles wieder vorbei. Es war nicht einmal eine Sekunde, die alles verändert hat. Wolfgang Weber begleitet dieser Moment seit fast 50 Jahren. Damals war es eine Katastrophe. Heute kann er darüber schmunzeln. Damals wusste er sofort, dass der Ball nicht im Tor war. Heute ist er noch immer davon überzeugt. Er hat sich die Bilder oft angeschaut. Immer wieder. Langsam, schnell, in der Wiederholung, aus verschiedenen Blickwinkeln – sein erster Eindruck hat sich bestätigt: kein Tor.

Ohne Weber kein Wembley-Tor

Der 30. Juli 1966 war der Tag, der dem damaligen Abwehrspieler des 1. FC Köln einen Platz in der Historie des Weltfußballs gesichert hat. Dabei ist die Geschichte zunächst ganz schnell geschildert: WM-Endspiel, Wembley-Stadion, Deutschland gegen England, 1:2 nach 89 Minuten. Weber rennt ein letztes Mal nach vorne. Plötzlich liegt der Ball vor seinen Füßen. Weber schießt, Weber trifft, 2:2, Jubel, Abpfiff, Verlängerung. Und dann kommt die 101. Minute, die bis heute ein Mysterium ist. Wolfgang Weber war mittendrin: "England war im Angriff. Hurst dringt in den Strafraum ein. Er kommt aus spitzem Winkel zum Schuss. Der Ball springt an die Unterlatte. Von dort auf unsere Torlinie. Ich renne sofort hin und köpfe den Ball ins Aus."

Weber war der Erste, der den Ball nach dem Wembley-Tor berührt hat. Als der Schiedsrichter den Treffer gibt, bricht für ihn eine heile Welt zusammen. Er kann es nicht glauben. Er hat doch gerade mit eigenen Augen gesehen, dass sich der Unparteiische täuscht. Der Rest ist wieder schnell erzählt: Hurst trifft kurz vor Schluss erneut, diesmal regulär zum 4:2. Die Entscheidung. England ist Weltmeister. Trauer bei der DFB-Auswahl. Entsetzen bei Weber.

"Kein Mensch weiß, ob wir den Titel geholt hätten"

Inzwischen blickt der 69-Jährige ohne großen Groll zurück. Er hat seinen Frieden damit gefunden – auf seine ganz eigene, auf seine kölsche Art. "Kein Mensch weiß, ob wir den Titel geholt hätten, wenn der Schiedsrichter nicht die falsche Entscheidung getroffen hätte. Aber manchmal fühlt es sich für mich schon so an, als sei mir der größtmögliche Erfolg für einen Fußballer gestohlen worden." Weber nimmt einen Schluck seines Cappuccinos. Er sitzt am Geißbockheim.

Wenn er über die Schulter blickt, sieht er den Trainingsplatz des 1. FC Köln. Als er früher selbst täglich dort mit seinen Kollegen geübt hat, sah es noch ganz anders aus. Es gab noch keine feine Kunstrasenanlage, keinen Fanshop, keine modernen Fitnessräume. Hier hat sich fast alles verändert, Weber hat sich nicht verändert. Er versteht sich nicht als ehemaliger Fußballstar, auch wenn er dazu Anlass hätte. Er hat 356 Bundesligaspiele für den 1. FC Köln bestritten. Er war ein wichtiger Puzzlestein der erfolgreichsten Ära des Klubs. Weber ist mit dem FC Deutscher Meister geworden, er hat mit seinem Herzensklub den DFB-Pokal geholt. 1966 wurde er Vize-Weltmeister mit der DFB-Auswahl, 1970 in Mexiko WM-Dritter. 1978 beendete der Innenverteidiger seine Karriere wegen einer Herzmuskelentzündung.

Es hat ihm damals wehgetan, als es zu Ende ging. Fußball war sein Leben, Fußball ist sein Leben. Aber er musste sich nichts vorwerfen. Er hatte all das erreicht, was er sich als Kind vorgenommen hatte: Weber war zehn Jahre alt, als er im Klubhaus der Sportvereinigung Porz in der letzten Reihe auf einem Tisch stand, um dort das Endspiel der DFB-Auswahl bei der WM 1954 gegen Ungarn zu sehen. Er musste sich mächtig strecken, um zwischen den ganzen Köpfen einen Blick auf den Fernseher zu erhaschen. Es war einer der größten Tage seiner Kindheit, als die Deutschen nach dem 3:2 den Pokal in den Berner Nachthimmel streckten. "In dem Moment hatte ich den Traum, auch irgendwann mal das DFB-Trikot zu tragen", sagt Weber. Er hat es geschafft, er hat die Welt gesehen. Aber er hat seine Heimat dabei nie vergessen.

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"Köln ist meine Stadt"

"Köln ist meine Stadt. Hier bin ich zu Hause, hier fühle ich mich wohl", sagt Weber. Er würde niemals mehr auf die Idee kommen, für längere Zeit wegzugehen. Er braucht diese ganz spezielle Mentalität, er braucht den FC. Bei jedem Heimspiel ist er im Stadion, er kennt hier jede Ecke. Ohne Fußball geht es nicht. Er braucht die Emotionen, er braucht das Zusammengehörigkeitsgefühl. Weber lebt seit 64 Jahren im Kölner Stadtteil Porz. Das ist ganz im Süden, der Rhein ist nicht weit entfernt, das Geißbockheim 15 Minuten mit dem Auto.

Er will den Leuten etwas von dem zurückgeben, was sie ihm früher entgegengebracht haben. Für sein Engagement für Menschen mit geistiger Behinderung ist er 2011 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Seinem Heimatverein hilft er, wo er kann. Kürzlich hat er einen Physiotherapeuten besorgt. Es ging um den Aufstieg in die Bezirksliga, gereicht hat es nicht. Nun nehmen sie gemeinsam einen neuen Anlauf in der Kreisliga A, ein offizielles Amt braucht er dafür nicht. Um seinen geliebten Stadtteil schöner zu gestalten, hat er einen Bürgerverein mit gegründet. Im Frühjahr haben sie die Beete mit Blumen bepflanzt. Zudem hat Weber eine Patenschaft für einen Spielplatz übernommen. Mindestens einmal in der Woche räumt er dort Müll weg. Geld nimmt er dafür nicht, ihm reicht der dankbare Blick der jungen Eltern, die auf der Bank im Schatten sitzen.

Doppeltes Drama gegen Liverpool: Wadenbeinbruch und Münzwurfpech

In Porz erkennen ihn viele. Er braucht das nicht, aber so ist es eben. Denn die Geschichte damals in Wembley war ja nicht die einzige, die ihn berühmt gemacht hat. Weber war auch einer der Protagonisten des legendären Viertelfinales gegen den FC Liverpool im Landesmeister-Wettbewerb 1964/1965. Nach Hin- und Rückspiel stand es unentschieden. Ein Entscheidungsduell auf neutralem Boden musste her. Es ging nach Rotterdam. Weber war mittendrin – und stellte sich gnadenlos in den Dienst der Mannschaft.

Denn bereits in der Anfangsphase war er schwer verletzt worden. Hinterher erfuhr er, dass es ein Wadenbeinbruch war. "Ich hatte unglaubliche Schmerzen, aber man durfte noch nicht auswechseln", erinnert er sich. Er hielt also durch. Beinahe hätte er sogar ein Tor geschossen. Unentschieden nach 90 Minuten, Unentschieden nach 120 Minuten. Und dann? Elfmeterschießen gab es noch nicht.

Der Münzwurf musste entscheiden. Weber konnte schon längst nicht mehr stehen. Trotzdem bekam er mit, wie die Münze beim ersten Mal senkrecht im Gras stecken blieb. Noch immer kein Sieger, nach dem zweiten Versuch versanken die Kölner im Tal der Tränen. Liverpool hatte gewonnen. Und schon wieder war alles vorbei. Es war nur ein Augenblick. Ein Wimpernschlag. Wie so oft im Fußball. Und wie in Wembley.