Von Bern bis Yokohama: Die deutschen WM-Endspiele

Schon siebenmal stand Deutschland in einem WM-Finale – das ist Rekord. Drei Titel stehen vier zweiten Plätze gegenüber. Für DFB.de erzählt der Autor und Historiker Udo Muras die deutsche WM-Finalgeschichte nach.

Bern, 4. Juli 1954: Deutschland - Ungarn 3:2

Es leben immer weniger Menschen, die dieses Spiel gesehen haben. Auch von den Aktiven damals im Wankdorf-Stadion sind nur noch zwei übrig, die berichten können, wie es zum "Wunder von Bern" kam. Und doch kann in Deutschland jedes Kind etwas mit diesem Begriff anfangen. Um kein Spiel der deutschen Länderspiel-Historie ranken sich mehr Mythen. Es war eben ein wunderbarer Tag, damals im Regen von Bern.

Das erste Wunder war die Final-Teilnahme an sich, niemand hatte das der Herberger-Elf zugetraut – neun Jahre nach dem verlorenen Krieg. Noch immer waren nicht alle Trümmer beseitigt, das Land war besetzt und die Deutschen übten den gebückten Gang. Die WM 1954 in der Schweiz war ein Beitrag zur Rückkehr Deutschlands in die Völkergemeinschaft, 1950 war man noch ausgeschlossen gewesen, Kriegsverursacher durften nicht der Fifa angehören. All das lehrte die Deutschen Demut und als sie mit dem Zug losfuhren, schrieb der kicker "Hoffen wir auf ein Wunder".

Es wurden dann – wie erwähnt – zwei. Das zweite war, dass sie die seit vier Jahren ungeschlagenen Ungarn tatsächlich bezwangen an diesem Tag. Nach einem 0:2-Rückstand, der schon nach neun Minuten von der Anzeigetafel prangte. Puskas (6.) und Czibor (9.) waren verhältnismäßig leicht zu ihren Toren gekommen und die Deutschen fürchteten schon, es käme noch schlimmer als beim 3:8 in der Vorrunde gegen denselben Gegner. Aber schon im Gegenzug verkürzte der Nürnberger Max Morlock "im Spagatschritt" auf 1:2. Als dann nach 18 Minuten der Essener Helmut Rahn nach einer Ecke von Kapitän Fritz Walter ausglich, ahnten alle dass etwas möglich war an diesem Tag gegen die Fußball-Weltmacht Ungarn, die mit dieser Formation 1952 bei Olympia Gold geholt und 1953 als erste Kontinental-Elf das Wembley-Stadion gestürmt hatte (6:3 gegen England).

Über eine Stunde tobte der Kampf bei Dauerregen hin und her, Torwart Toni Turek avancierte in der legendären Reportage von Herbert Zimmermann zum "Fußball-Gott", Werner Kohlmeyer rettete mehrmals auf der Linie. Und dann verlor Boszik, "immer wieder Boszik, der rechte Läufer der Ungarn" den Ball an den Kölner Hans Schäfer. "Schäfer nach innen geflankt, abgewehrt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tor, Tor, Tor, Tor." Diese Passage aus Zimmermanns Reportage in der 84. Minute ist in Deutschland häufiger zitiert worden als irgendein Satz von Goethe und Schiller, denn sie machte ein ganzes Land glücklich. Noch heute.

Die Elf von Bern hat den Deutschen damals Mut gegeben, das "Wir sind wieder wer"-Gefühl kam aber erst in zweiter Reihe. Wichtiger war die Botschaft, dass es sich stets zu kämpfen lohnt. Aufstehen, auch wenn alles in Trümmern liegt. Später sprachen Historiker von der "eigentlichen Gründung der Bundesrepublik Deutschland". Das mag überhöht sein. Das Finale brachte uns keine Demokratie und keinen Wohlstand, nur unheimlich viel Freude und Stolz. Der Elf von Bern wurde im Jahr 2003 ein filmisches Denkmal gesetzt, Regisseur Sönke Wortmann rührte mit dem Streifen viele Menschen zu Tränen. Die Tageszeitung Die Welt schrieb nach dem Finale: "Es ist anzunehmen, dass das Ausland nun dem deutschen Wirtschaftswunder das deutsche Fußballwunder hinzufügen wird. Vom Wunder sprechen immer nur die anderen, wir selber nicht. Wir tun unser Bestes, in der Arbeit wie im Spiel." Eine sachliche Feststellung, die sich jedoch nicht durchsetzte. Wer erlebt nicht gerne ein Wunder?

Wembley (London), 30. Juli 1966: Deutschland - England 2:4 n.V.

Auch das zweite WM-Finale mit deutscher Beteiligung gehört zu den berühmtesten Spielen der Fußball-Historie. Berühmt gemacht hat es eine Fehlentscheidung, wie wir Deutschen fest glauben, die das Spiel entschied. "Das hatte dieses Finale nicht verdient", titelte der kicker am Montag nach dem 2:4 gegen Gastgeber England. Das ominöse dritte englische Tor, das erste, das nach einem Stadion benannt wurde und bis heute Synonym für eine Fehlentscheidung ist, wirkt bis in unsere Tage nach. Aber die 120 Minuten im ersten verlängerten Finale verdienen es nicht, auf das "Wembley-Tor" reduziert zu werden.

Schon vor dem legendärsten Nicht-Tor des Fußballs war es ein Drama. Hallers frühe Führung (12.) glich Geoff Hurst (18.) zum Pausenstand von 1:1 aus und als Peters in der 78. Minute auf 2:1 erhöhte, begannen die englischen Fans mit den Siegesfeierlichkeiten. Der deutsche Radio-Reporter Herbert Zimmermann, obwohl beim Wunder von Bern durch alle Gefühlswechselbäder gegangen, resignierte bereits. "Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass es unsere Stürmer noch mal packen werden", sagte er in der 90. Minute. Dann musste eben ein Verteidiger aushelfen. Emmerichs Freistoß landete über zwei Abpraller beim Kölner Wolfgang Weber und der glich in letzter Sekunde aus. Der Schiedsrichter pfiff gar nicht mehr an – nur zur Verlängerung.

Was dann kam, weiß jeder Fußball-Fan: Der Lattenschuss von Hurst in der 101. Minute und der wohl auf ewig unerforschte Abpraller, auf vor oder doch hinter die Linie. Schiedsrichter Gottfried Dienst gab bereits Ecke, weil Weber den Ball ins Toraus geköpft hatte. Da meldete sich Linienrichter Tefik Bachramow aus der Sowjetunion gestenreich und bekannte auf Befragung, der Ball sei drin gewesen. Wissenschaftliche Computer-Simulationen von 1995, übrigens von britischen Forschern, legen nahe, dass er geirrt hat. Zumal Bachramow später zugab, er habe es selbst auch nicht gesehen, sondern aus dem Verhalten der Spieler – die einen jubelten, die anderen waren zumindest konsterniert – geschlossen, dass es ein Tor gewesen sein müsse. So also werden Weltmeisterschaften entschieden. Dass auch Bundespräsident Heinrich Lübke im August anlässlich der Verleihung des Silbernen Lorbeerblattes davon sprach, er habe "den Ball im Netz zappeln" sehen, trugen die Verlierer schon mit Humor, obgleich Bundestrainer Helmut Schön tapfer widersprach.

Die Weltpresse hatte den Deutschen ein denkbar gutes Zeugnis ausgestellt, auch und gerade weil sie die zumindest teilweise irregulären Tore – beim 4:2 von Hurst waren schon jubelnde Fans auf dem Platz – so sportlich hingenommen hatten. "Sie hat mit dieser Besonnenheit in diesem Moment für den deutschen Sport und für das deutsche Ansehen mehr getan, als sie mit dem Gewinn des Titels je hätte erreichen können", fand die seriöse FAZ. In Frankfurt wurde der Vize-Weltmeister jedenfalls wie ein Champion empfangen. Es galt einer im Grunde ungeschlagenen Mannschaft Trost und Anerkennung zu spenden. Die Stimmung jener Tage spiegelte der Titel der Bild-Zeitung wider: "Wir haben 2:2 verloren!".

München, 7. Juli 1974: Deutschland - Niederlande 2:1

Obwohl die WM im eigenen Land stattfand und das DFB-Team amtierender Europameister war, ging sie gegen die Niederlande als Außenseiter ins Finale. Denn keiner hatte überzeugender aufgespielt als die Mannschaft von Rinus Michels um ihren Fixstern Johann Cruyff. Die Holländer strotzten folglich vor Selbstbewusstsein. Alte Rechnungen aus dem Krieg sollten an diesem Tag beglichen werden, was ebenso unangebracht wie unmöglich war. "Wir holen uns die Fahrräder zurück", hieß das Motto von Oranje und Michels erinnerte in der Teamsitzung auch an den Krieg, der nun schon 30 Jahre zurücklag.

Es war kein normales Spiel, gewiss nicht. Für die elf Deutschen war es das Spiel ihres Lebens. Trotzdem fragte Bundestrainer Helmut Schön im Bus sicherheitshalber: "Habt ihr alle eure Schuhe mit?" Dann gab er Ratschläge in puncto Psychologie: "Jungs, wenn ihr ihnen gegenübersteht, dann schaut euren Gegenspielern in die Augen, ganz tief. Demonstriert Selbstvertrauen und Stärke." Linksaußen Bernd Hölzenbein, hielt sich daran und will Wim Suurbier "ganz, ganz böse und tief" in die Augen geschaut haben.

Als es mit zweiminütiger Verzögerung, die Eckfahnen waren im Rahmen der Abschlussfeier abtransportiert worden und mussten geholt werden, endlich losging, war nichts von eingeschüchterten Niederländern zu bemerken. Sie ließen den Ball mit 13 Kontakten zirkulieren und schossen das erste Tor, noch ehe ihn ein Deutscher berührte. Uli Hoeneß, in der Nacht noch von heftigem Fieber befallen, wovon er Schön nichts verriet, bremste Cruyff erst im Strafraum regelwidrig. Sein eigentlicher Bewacher war Berti Vogts, der im Training vor dem Finale gegen Günter Netzer ran musste, der Cruyff doubeln sollte. Doch was auf dem Platz passiert, lässt sich nie voraussehen. Den fälligen Elfmeter verwandelte Johan Neeskens mit einem überaus optimistischen Schuss in die Tormitte. Nach 63 Sekunden führten die Niederländer, es war das schnellste Tor eines WM-Finales und das erste durch Elfmeter.

"Dann haben die Holländer versucht, uns vorzuführen, haben Jojo gespielt. Und nicht damit gerechnet, dass etwas schiefgehen kann", behauptete Hölzenbein, der persönlich dafür sorgte, dass etwas schiefging für Holland. In der 23. Minute drang er in den Strafraum ein und kam nach einer Attacke von Wim Jansen zu Fall. Foul oder nicht? Diese Frage ist bis heute noch schwerer zu klären als die nach dem Wembley-Tor und doch genauso wichtig. Bernd Hölzenbein muss mit dem Vorwurf, eine Schwalbe produziert zu haben, leben und beteuert bis heute: "Ganz klar, es war einer. Zeigt diese Szene im Urwald oder Schiedsrichtern, die sie nie gesehen haben. Ich sage: alle pfeifen Elfmeter, es geht gar nicht anders."

ARD-Reporter Rudi Michel hielt sich übrigens vornehm zurück und sagte auch nach der Zeitlupe rein gar nichts. Vielleicht raubte ihm die Anspannung die Worte. So wie sie den etablierten Schützen den Mut nahm. Weder Hoeneß noch Müller rissen sich um den Ball und als sich auch Overath abdrehte, schnappte ihn sich Paul Breitner mit seinen 22 Jahren. Eiskalt schob er ihn links unten ins Tor zum Ausgleich und erst als er am nächsten Tag die Wiederholung sah, wurde er noch nachträglich nervös. Da hatte er erst realisiert, welche Verantwortung er auf sich geladen hatte. So werden Helden geboren.

Nun kippte das minütlich an Niveau gewinnende Spiel zu Gunsten der Deutschen und um 16.43 Uhr wurde Geschichte geschrieben. Rainer Bonhof war mit Grabowskis Pass auf rechts davon gezogen und flankte flach und scharf nach innen auf Gerd Müller. Zwei Mann waren bei ihm, aber weil dem der Ball mit links versprang und somit wieder ein mal das Unvorhersehbare passiert war, auf das nur er eingestellt zu sein schien, kamen sie alle zu spät, als er schon mit rechts zum Nachschuss ansetzte. Flach und unspektakulär zischte der Ball ins Eck, Torwart Jan Jongbloed warf sich gar nicht erst. Es war ja doch nichts zu machen, 2:1. Es sollte das Tor zur Weltmeisterschaft werden. Aber das wussten sie noch nicht, es standen 45 dramatische Minuten bevor.

Auf dem Weg in die Kabinen handelte sich Cruyff eine Verwarnung ein, weil er den Schiedsrichter kritisiert hatte. In der zweiten Hälfte rettete Sepp Maier den deutschen Sieg mit etlichen Glanzparaden, aber Müller schoss auch noch ein Tor, das zu Unrecht aberkannt wurde. Dann pfiff Schiedsrichter Tylor – wie 1954 Ling ein Engländer – ab. Wieder hatte die Mannschaft verloren, die im Finale in Führung gegangen war – schon zum siebten Mal trat dieser kuriose Fall ein.

20 Jahre nach dem Wunder von Bern hieß der Weltmeister wieder Deutschland und nicht jeder analysierte den Triumph von München so tiefgreifend wie Tribünengast Henry Kissinger, Amerikas deutschstämmiger Außenminister: "Deutschland spielte nach dem Schlieffen-Plan, nach einem komplizierten System mit verzwickt angelegten Spielzügen, nahezu unwiderstehlich, wenn alles wie geplant klappte." In Holland hat die Niederlage tiefe Spuren hinterlassen, es herrscht bis heute das Gefühl, die Elftal habe den Titel verschenkt. Schon am Tag nach dem Spiel schrieb De Telegraaf: "Sie haben keine Tore mehr geschossen, aber eine tolle Show gezeigt. Die bessere Mannschaft wurde nicht belohnt." Auch darüber herrscht bis heute naturgemäß keine Einigkeit. Der Beweis dafür, dass ein WM-Finale im Grunde nie ganz zu Ende ist...

Madrid, 8. Juli 1982: Deutschland - Italien 1:3

Nach einem dramatischen Halbfinale gegen Frankreich war die deutsche Mannschaft erst am frühen Morgen ins Bett gekommen, Gegner Italien hatte einen halben Tag mehr Zeit zur Vorbereitung. Dies mag die schwächste Leistung einer deutschen Mannschaft in einem WM-Finale zu einem guten Teil erklären. Schon vor der Pause hatte sie Glück, als Cabrini einen von Hans-Peter Briegel verursachten Elfmeter neben das Tor schoss, vielleicht auch irritiert von einer Rakete aus dem deutschen Fan-Block.

Es war nur ein Tod auf Raten, denn gegen Italiens Abwehr vor dem 40 Jahre alten Torwart Dino Zoff biss sich der deutsche Sturm die Zähne aus. Die Folge: keine Chancen und zu wenig Entlastung für die eigene Abwehr. Das lag vor allem an Karl-Heinz Rummenigge, der sich für fit erklärte und es doch nicht war. Seinetwegen musste Felix Magath auf die Bank. "Willst du dich nicht endlich auswechseln lassen?", herrschte ihn Uli Stielike noch in der Halbzeit an, "das sieht doch jeder, dass du nicht fit bist." Der Kapitän konterte bayerisch-derb: "Schmarrn!".

Erst nach Rossis 1:0, dessen sechsten Tor in Serie, reagierte Derwall. Aber nicht Rummenigge, sondern Dremmler musste Horst Hrubesch weichen. Der Madrilene Stielike drehte fast durch vor Wut, er wollte unbedingt im eigenen Stadion Weltmeister werden. Erst nach 70 Minuten, Tardelli hatte soeben auf 2:0 erhöht, ging Kapitän Rummenigge, der mit fünf Treffern immerhin zweitbester Torjäger in Spanien war, von Bord. Es war seine persönliche Tragik, dass er nicht im Vollbesitz seiner Kräfte war, als es um den WM-Titel ging. Die sich nun an sich selbst berauschenden Italiener entschieden ein am Ende einseitiges Finale ohne Mythen und Dramen durch Joker Altobelli zum 3:0 und gönnten Breitner noch das Ehrentor zum 1:3. Damit war er der dritte Fußballer nach Vava und Pele, der in zwei WM-Finals getroffen hatte.

1974 half es zum Sieg, diesmal zum zweiten Platz. Dass dazwischen Welten liegen können, spürte gerade Breitner besonders. Als Derwall in der Kabine begann, tröstend das Abschneiden zu loben, fiel ihm Breitner ins Wort: "Schon gut, Trainer. Sie brauchen nichts mehr zu sagen." Aber auch der WM-Zweite wurde am Frankfurter Römer empfangen und bejubelt.

Mexiko City, 29. Juni 1986: Deutschland - Argentinien 2:3

Die deutsche Final-Trilogie mit Argentinien nahm an diesem Tag Ihren Anfang. Argentinien um Superstar Diego Maradona, der Viertel- und Halbfinale mit vier Toren alleine entschieden hatte, war klarer Favorit gegen die Elf von Teamchef Franz Beckenbauer. Der ging der Glanz ab, die den Spieler Beckenbauer einst ausgezeichnet hatte, aber ihre Tugenden waren in der Hitze von Mexiko Gold wert gewesen. Kampf und Moral stimmten und im Halbfinale gegen Frankreich blitzte auch spielerisches Können auf, so dass nach der besten Turnierleistung gedämpfter Optimismus herrschte.

117.000 Zuschauer waren gekommen, um den neuen Weltmeister zu sehen. Nie in Endspielen mit Deutschland war eine Kulisse größer. Die Mehrheit war für Argentinien, dessen Fans den weit kürzeren Anreiseweg hatten. Das Duell begann um zwölf Uhr Ortszeit, "high noon" im Azteken-Stadion. Franz Beckenbauer hatte mit Lothar Matthäus seinen "besten Mann" auf Maradona angesetzt, ganz so wie einst Helmut Schön ihn 1966 auf Bobby Charlton. Damals war es ein Fehler. Und diesmal? Nun, es lag weniger an Maradona, der weitgehend ausgeschaltet wurde, dass Argentinien zum zweiten Mal Weltmeister wurde. Es gab andere Protagonisten. Einer war Toni Schumacher, der einen schlechten Tag erwischte.

In der 19. Minute nahm das Unheil seinen Lauf, als der Kölner an einem Freistoß vorbeifaustete und Brown zum 1:0 einköpfte. "Es war doch mein Finale, ich wollte endlich mal an den Ball", hat der Torwart später zugegeben, Opfer seines Ehrgeizes geworden zu sein. Dabei blieb es bis zur Pause eines Finales, das einige Wünsche offen ließ. Nach 56 Minuten schien es entschieden, als Jorge Valdano frei vor Schumacher auf 2:0 erhöhte.

"Was kann eigentlich der Torwart? Ich würd’s gern mal sehen", kleidete ZDF-Reporter Rolf Kramer die Kritik am deutschen Sturm in eine höfliche Frage. Dann kam die 74. Minute und Rolf Kramer bestellte nur "ein Tor". Mehr sagte er nicht, als Andy Brehme die Ecke trat. Der Ball landete über Thomas Berthold bei Rummenigge, der den Auftrag erfüllte und endlich sein erstes Tor in Mexiko schoss. Nun kippte das Spiel, das Stadion brodelte und die Deutschen wiederholten ihr Erfolgsrezept: Wieder eine Brehme-Ecke, Norbert Eder köpfte in die Mitte zum eingewechselten Rudi Völler – 2:2.

Die Stadion-Uhr zeigte 36:29 Minuten an in der zweiten Halbzeit. Noch siebeneinhalb Minuten Zeit bis zur Verlängerung – wie leicht hätten die Deutschen sie erreichen können? Aber sie wollten die Entscheidung, sofort. Weit rückten sie auf, nur einer nicht: Hans-Peter Briegel. Da zerschmetterte ein Geistesblitz von Diego Maradona alle Hoffnungen. Der Kapitän schickte Burruchaga auf die Reise, Briegel hob das Abseits auf und kam doch nicht mehr hinterher. Zwei Argentinier rannten auf Schumacher zu. "Toni, halt den Ball" rief Kramer noch flehentlich, aber es war nicht Schumachers Tag. Er kam zu spät heraus und ließ sich dann von Burruchaga tunneln – 3:2.

Aus! "Zu lange gejubelt haben wir, in der Euphorie des Ausgleichs keinen kühlen Kopf bewahrt. Wir fühlten uns dem 3:2 näher als die Argentinier, das war der verhängnisvolle Fehler", klagte Rummenigge. Aber niemand bezweifelte, dass Argentinien verdienter Weltmeister geworden war und wieder wurde auch der Vize-Weltmeister freundlich empfangen.

Rom, 8. Juli 1990: Deutschland - Argentinien 1:0

Dieser Tag sollte das einseitigste Finale der WM-Geschichte sehen. Argentinien war in einem Zustand, der eines WM-Finales eigentlich nicht würdig war. Eine durch Sperren und Verletzungen dezimierte Mannschaft, die ihr Selbstbewusstsein nur noch aus Maradonas Anwesenheit bezog, die regulär nur zwei Spiele gewonnen und nie überzeugt hatte. Die Vorzeichen ähnelten denen von 1986, nur umgekehrt. Damals war Deutschland glanzlos ins Finale eingedrungen und Argentinien hatte begeistert.

Beckenbauers Elf also war Favorit im Kampf von Rom. Egal dass die, die er aufs Feld schickte, noch nie so zusammengespielt hatte. Er entschied sich im Mittelfeld für das Kölner "Zwergen-Duo" Littbarski/Häßler. Häßler erfuhr Dankbarkeit für sein Tor im entscheidenden Qualifikationsspiel gegen Wales, wie Beckenbauer später zugab. Es war kein Fehler. Alle spielten sie gut an diesem Tag gegen einen Gegner, der von Anfang an nur ins Elfmeterschießen wollte. Bodo Illgner musste nur einen gefährlichen Ball halten, es war eine hohe Rückgabe von Andreas Brehme. Beckenbauer sagte später zu Recht: "Wir haben Argentinien an die Wand gespielt, die hatten in 90 Minuten keine Torchance."

Die Deutschen umso mehr. Selbst die Verteidiger stürmten, Berthold köpfte knapp drüber, Libero Klaus Augenthaler wurde im Strafraum gelegt, der Elfmeterpfiff blieb aber aus. Guido Buchwald schaltete Maradona aus und fand ebenfalls noch Zeit zum Stürmen. Nach 85 langen Minuten aber kam er doch und bis heute bestehen Zweifel an seiner Berechtigung. Die Argentinier, zu diesem Zeitpunkt schon zu zehnt und am Ende gar zu neunt – nach Platzverweisen für Monzon und Dezotti – brachten Völler im Strafraum zu Fall. Beckenbauer sagte süffisant: "Da hat der Rudi ein wenig nachgeholfen" und der ARD-Reporter Gerd Rubenbauer fand das Foul an Augenthaler weit schlimmer.

Aber sie haben das Geschenk von Schiedsrichter Mendez aus Mexiko gerne angenommen. Lothar Matthäus allerdings verweigerte den Dienst vom Kreidepunkt, er spielte mit neuen Schuhen und fühlte sich unsicher. In der Pause waren ein Stollen und die Sohle des rechten Schuhs gebrochen. Der Schuh war übrigens zuvor vorübergehend in Diensten seines Freundes Diego Maradona gewesen, der nun auf der anderen Seite stand. Matthäus hatte dem Argentinier 1988 in Berlin sein Paar geliehen. Der wählte eine losere Schnürung, die Matthäus nie zu ändern wagte. Nun, mit neuem Schuh, fühlte sich alles anders an und er übergab die Aufgabe einem sicheren Kollegen.

Andy Brehme übernahm die Aufgabe, Deutschland zum dritten WM-Titel zu schießen. Er wurde nervös, weil der Ball erst nach zwei Minuten parat lag, aber das merkte dem Inter-Legionär aus Hamburg keiner an. Zentimeter neben dem Pfosten landete der Flachschuss im argentinischen Tor. Ein Schuss für die Ewigkeit. Noch heute, wenn er irgendwo auftaucht, wird ihm zugerufen: "Andy, unten links!"

Die letzten Minuten überstand die Mannschaft wie im Rausch, auf den Rängen wurde schon gefeiert. Dann, um 21.50 Uhr, pfiff Senor Mendez ab. Um 22.03 Uhr erhielt Lothar Matthäus, der überragende Spieler dieser WM, den Weltpokal aus den Händen des italienischen Staatspräsidenten Cossiga. Bundeskanzler Helmut Kohl, der in Mexiko noch tröstende Worte finden musste, durfte nun in der Kabine Glückwünsche aussprechen und erntete übermütige Reaktionen: "Helmut, senk den Steuersatz!", sangen die Helden der Nation. Nur einer war in der Lage, sich still zu freuen. Das Bild vom einsam entrückten Franz Beckenbauer, der mit der Goldmedaille um den Hals über den Platz spazierte, über ihm ein strahlender Vollmond und ein aufsteigendes Flugzeug, ging um die Welt. Lichtgestalt hat man ihn irgendwann später genannt, wie passend zu diesem Moment der Besinnung im Mondlicht.

Yokohama, 30. Juni 2002: Deutschland - Brasilien 0:2

Erstmals überhaupt trafen die WM-Dauerbrenner Deutschland und Brasilien bei einer Weltmeisterschaft aufeinander. Die hohe Politik schwebte ein: Der Bundeskanzler, der Bundespräsident und auch Kanzlerkandidat Edmund Stoiber drückten vor Ort die Daumen. Plötzlich war die deutsche Mannschaft ihren Anhängern, von denen bis dahin nur 2000 nach Asien gekommen waren, etwas wert. Auf dem Schwarzmarkt wurden bis zu 750 Euro für ein Final-Ticket gezahlt und mancher buchte noch einen Drei-Tages-Trip für 2000 Euro im Reisebüro.

Das Finale zog die Welt in ihren Bann. "Die Weltmeisterschaft der Überraschungen bekommt doch nach ein logisches Endspiel", schrieb eine holländische Zeitung. Im DFB-Quartier ging es am Vortag in Yokohama zu wie im Bienenstock. 47 Kamerateams, 60 Radioreporter und 300 Printjournalisten aus aller Welt belagerten das Foyer im "Sheraton Bay and Tower"-Hotel vor der Pressekonferenz. Trainer Rudi Völler forderte schlicht von allen Akteuren in seiner Elf "das Spiel des Lebens" zu machen.

Mit 14:1 Toren war diese Mannschaft ins Finale gekommen, mit drei guten und drei schwachen Spielen und mit ihren Tugenden, die die ganze Welt fürchtete. Wieso eigentlich sollte sie chancenloser Außenseiter sein? Als das ZDF an jenem Sonntag seine Finalsendung begann, tippten oder besser wünschten sich 82% der Teilnehmer an einer Umfrage den WM-Titel. Aber Michael Ballack fehlte gesperrt, Bayerns Jens Jeremies ersetzte ihn.

Die ersten 20 Minuten gehörten der deutschen Elf, die couragiert nach vorne spielte. Dennoch musste sie froh sein, mit einem 0:0 in die Kabinen zu gehen, weil Kleberson die Latte und Ronaldo Oliver Kahn traf – beides in der 45. Minute. Vorboten brasilianischer Torgefahr, während die deutsche Mannschaft keine Chance herausgespielt hatte. Miroslav Klose war seit der Vorrunde leer ausgegangen und nahm sich sein Tief leider zum schlechtesten Zeitpunkt.

Als es wieder losging, kamen auch die Chancen. Oliver Neuville wagte einen Freistoß aus rund 30 Metern, aber der Ball prallte an den Pfosten (49.) und mit ihm auch das Glück von den Deutschen ab. Dann kam auch noch Pech dazu. Der Fußballgott hatte sich die denkbar tragischste Konstellation, diese Finale zu entscheiden, bis zur 67. Minute aufbewahrt. Da passierte es: einen Schuss von Rivaldo konnte Oliver Kahn, schon vor dem Finale zum besten WM-Torwart gewählt, nicht festhalten. Der Unfehlbare beging nur diesen einen Fehler in Asien und wurde so hart bestraft. Ronaldo holte sich den Abpraller und schoss das 1:0.

Nun bekamen die Zauberer vom Zuckerhut Oberwasser und nutzten gleich ihre nächste Chance: Wieder traf Ronaldo (79.), diesmal unhaltbar, von der Strafraumgrenze. Es war der Schlussakt eines sehenswerten Finales, das einen würdigen Sieger bekam. Dass sich die deutsche Mannschaft nicht wirklich als Verlierer fühlen sollte nach einer solchen Turnierleistung, mag zwar stimmen, doch für Oliver Kahn war es kein Trost. Minutenlang stand, lehnte und kauerte er apathisch am Torpfosten. Der "Titan" war wieder ein Mensch. Einer, dem die Sympathien zuflogen wie nie zuvor in seinem von Verbissenheit und Ehrgeiz geprägten Leben. Eine japanische Studentin schrieb in ihr Internet-Tagebuch: "Kahn hatte damals verloren. Aber er verharrte im Tor, standfest und tapfer – das war pure japanische Samurai-Ästhetik."

Selbst die Entschuldigung, dass er ab der 52.Minuten nach einem Tritt Ronaldos mit Bänderriss im Finger spielte, wollte er nicht gelten lassen. "So extrem schlimm ist es nicht", sagte er. "Wir haben ein WM-Finale verloren, und ich habe den einzigen Fehler des Turniers gemacht. Da gibt es keinen Trost."

Aber der Empfang am nächsten Tag am Frankfurter Römer hätte auch nicht anders ausfallen können mit dem Pokal. "Was wäre eigentlich hier los gewesen, wenn wir Weltmeister geworden wären?", fragte ein gerührter Rudi Völler. Es war das aus deutscher Sicht unerwartet schöne Ende einer WM, die in vielerlei Hinsicht einmalig war.

Und doch können wir uns am Sonntag noch Schöneres vorstellen.

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Schon siebenmal stand Deutschland in einem WM-Finale – das ist Rekord. Drei Titel stehen vier zweiten Plätze gegenüber. Für DFB.de erzählt der Autor und Historiker Udo Muras die deutsche WM-Finalgeschichte nach.

Bern, 4. Juli 1954: Deutschland - Ungarn 3:2

Es leben immer weniger Menschen, die dieses Spiel gesehen haben. Auch von den Aktiven damals im Wankdorf-Stadion sind nur noch zwei übrig, die berichten können, wie es zum "Wunder von Bern" kam. Und doch kann in Deutschland jedes Kind etwas mit diesem Begriff anfangen. Um kein Spiel der deutschen Länderspiel-Historie ranken sich mehr Mythen. Es war eben ein wunderbarer Tag, damals im Regen von Bern.

Das erste Wunder war die Final-Teilnahme an sich, niemand hatte das der Herberger-Elf zugetraut – neun Jahre nach dem verlorenen Krieg. Noch immer waren nicht alle Trümmer beseitigt, das Land war besetzt und die Deutschen übten den gebückten Gang. Die WM 1954 in der Schweiz war ein Beitrag zur Rückkehr Deutschlands in die Völkergemeinschaft, 1950 war man noch ausgeschlossen gewesen, Kriegsverursacher durften nicht der Fifa angehören. All das lehrte die Deutschen Demut und als sie mit dem Zug losfuhren, schrieb der kicker "Hoffen wir auf ein Wunder".

Es wurden dann – wie erwähnt – zwei. Das zweite war, dass sie die seit vier Jahren ungeschlagenen Ungarn tatsächlich bezwangen an diesem Tag. Nach einem 0:2-Rückstand, der schon nach neun Minuten von der Anzeigetafel prangte. Puskas (6.) und Czibor (9.) waren verhältnismäßig leicht zu ihren Toren gekommen und die Deutschen fürchteten schon, es käme noch schlimmer als beim 3:8 in der Vorrunde gegen denselben Gegner. Aber schon im Gegenzug verkürzte der Nürnberger Max Morlock "im Spagatschritt" auf 1:2. Als dann nach 18 Minuten der Essener Helmut Rahn nach einer Ecke von Kapitän Fritz Walter ausglich, ahnten alle dass etwas möglich war an diesem Tag gegen die Fußball-Weltmacht Ungarn, die mit dieser Formation 1952 bei Olympia Gold geholt und 1953 als erste Kontinental-Elf das Wembley-Stadion gestürmt hatte (6:3 gegen England).

Über eine Stunde tobte der Kampf bei Dauerregen hin und her, Torwart Toni Turek avancierte in der legendären Reportage von Herbert Zimmermann zum "Fußball-Gott", Werner Kohlmeyer rettete mehrmals auf der Linie. Und dann verlor Boszik, "immer wieder Boszik, der rechte Läufer der Ungarn" den Ball an den Kölner Hans Schäfer. "Schäfer nach innen geflankt, abgewehrt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tor, Tor, Tor, Tor." Diese Passage aus Zimmermanns Reportage in der 84. Minute ist in Deutschland häufiger zitiert worden als irgendein Satz von Goethe und Schiller, denn sie machte ein ganzes Land glücklich. Noch heute.

Die Elf von Bern hat den Deutschen damals Mut gegeben, das "Wir sind wieder wer"-Gefühl kam aber erst in zweiter Reihe. Wichtiger war die Botschaft, dass es sich stets zu kämpfen lohnt. Aufstehen, auch wenn alles in Trümmern liegt. Später sprachen Historiker von der "eigentlichen Gründung der Bundesrepublik Deutschland". Das mag überhöht sein. Das Finale brachte uns keine Demokratie und keinen Wohlstand, nur unheimlich viel Freude und Stolz. Der Elf von Bern wurde im Jahr 2003 ein filmisches Denkmal gesetzt, Regisseur Sönke Wortmann rührte mit dem Streifen viele Menschen zu Tränen. Die Tageszeitung Die Welt schrieb nach dem Finale: "Es ist anzunehmen, dass das Ausland nun dem deutschen Wirtschaftswunder das deutsche Fußballwunder hinzufügen wird. Vom Wunder sprechen immer nur die anderen, wir selber nicht. Wir tun unser Bestes, in der Arbeit wie im Spiel." Eine sachliche Feststellung, die sich jedoch nicht durchsetzte. Wer erlebt nicht gerne ein Wunder?

Wembley (London), 30. Juli 1966: Deutschland - England 2:4 n.V.

Auch das zweite WM-Finale mit deutscher Beteiligung gehört zu den berühmtesten Spielen der Fußball-Historie. Berühmt gemacht hat es eine Fehlentscheidung, wie wir Deutschen fest glauben, die das Spiel entschied. "Das hatte dieses Finale nicht verdient", titelte der kicker am Montag nach dem 2:4 gegen Gastgeber England. Das ominöse dritte englische Tor, das erste, das nach einem Stadion benannt wurde und bis heute Synonym für eine Fehlentscheidung ist, wirkt bis in unsere Tage nach. Aber die 120 Minuten im ersten verlängerten Finale verdienen es nicht, auf das "Wembley-Tor" reduziert zu werden.

Schon vor dem legendärsten Nicht-Tor des Fußballs war es ein Drama. Hallers frühe Führung (12.) glich Geoff Hurst (18.) zum Pausenstand von 1:1 aus und als Peters in der 78. Minute auf 2:1 erhöhte, begannen die englischen Fans mit den Siegesfeierlichkeiten. Der deutsche Radio-Reporter Herbert Zimmermann, obwohl beim Wunder von Bern durch alle Gefühlswechselbäder gegangen, resignierte bereits. "Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass es unsere Stürmer noch mal packen werden", sagte er in der 90. Minute. Dann musste eben ein Verteidiger aushelfen. Emmerichs Freistoß landete über zwei Abpraller beim Kölner Wolfgang Weber und der glich in letzter Sekunde aus. Der Schiedsrichter pfiff gar nicht mehr an – nur zur Verlängerung.

Was dann kam, weiß jeder Fußball-Fan: Der Lattenschuss von Hurst in der 101. Minute und der wohl auf ewig unerforschte Abpraller, auf vor oder doch hinter die Linie. Schiedsrichter Gottfried Dienst gab bereits Ecke, weil Weber den Ball ins Toraus geköpft hatte. Da meldete sich Linienrichter Tefik Bachramow aus der Sowjetunion gestenreich und bekannte auf Befragung, der Ball sei drin gewesen. Wissenschaftliche Computer-Simulationen von 1995, übrigens von britischen Forschern, legen nahe, dass er geirrt hat. Zumal Bachramow später zugab, er habe es selbst auch nicht gesehen, sondern aus dem Verhalten der Spieler – die einen jubelten, die anderen waren zumindest konsterniert – geschlossen, dass es ein Tor gewesen sein müsse. So also werden Weltmeisterschaften entschieden. Dass auch Bundespräsident Heinrich Lübke im August anlässlich der Verleihung des Silbernen Lorbeerblattes davon sprach, er habe "den Ball im Netz zappeln" sehen, trugen die Verlierer schon mit Humor, obgleich Bundestrainer Helmut Schön tapfer widersprach.

Die Weltpresse hatte den Deutschen ein denkbar gutes Zeugnis ausgestellt, auch und gerade weil sie die zumindest teilweise irregulären Tore – beim 4:2 von Hurst waren schon jubelnde Fans auf dem Platz – so sportlich hingenommen hatten. "Sie hat mit dieser Besonnenheit in diesem Moment für den deutschen Sport und für das deutsche Ansehen mehr getan, als sie mit dem Gewinn des Titels je hätte erreichen können", fand die seriöse FAZ. In Frankfurt wurde der Vize-Weltmeister jedenfalls wie ein Champion empfangen. Es galt einer im Grunde ungeschlagenen Mannschaft Trost und Anerkennung zu spenden. Die Stimmung jener Tage spiegelte der Titel der Bild-Zeitung wider: "Wir haben 2:2 verloren!".

München, 7. Juli 1974: Deutschland - Niederlande 2:1

Obwohl die WM im eigenen Land stattfand und das DFB-Team amtierender Europameister war, ging sie gegen die Niederlande als Außenseiter ins Finale. Denn keiner hatte überzeugender aufgespielt als die Mannschaft von Rinus Michels um ihren Fixstern Johann Cruyff. Die Holländer strotzten folglich vor Selbstbewusstsein. Alte Rechnungen aus dem Krieg sollten an diesem Tag beglichen werden, was ebenso unangebracht wie unmöglich war. "Wir holen uns die Fahrräder zurück", hieß das Motto von Oranje und Michels erinnerte in der Teamsitzung auch an den Krieg, der nun schon 30 Jahre zurücklag.

Es war kein normales Spiel, gewiss nicht. Für die elf Deutschen war es das Spiel ihres Lebens. Trotzdem fragte Bundestrainer Helmut Schön im Bus sicherheitshalber: "Habt ihr alle eure Schuhe mit?" Dann gab er Ratschläge in puncto Psychologie: "Jungs, wenn ihr ihnen gegenübersteht, dann schaut euren Gegenspielern in die Augen, ganz tief. Demonstriert Selbstvertrauen und Stärke." Linksaußen Bernd Hölzenbein, hielt sich daran und will Wim Suurbier "ganz, ganz böse und tief" in die Augen geschaut haben.

Als es mit zweiminütiger Verzögerung, die Eckfahnen waren im Rahmen der Abschlussfeier abtransportiert worden und mussten geholt werden, endlich losging, war nichts von eingeschüchterten Niederländern zu bemerken. Sie ließen den Ball mit 13 Kontakten zirkulieren und schossen das erste Tor, noch ehe ihn ein Deutscher berührte. Uli Hoeneß, in der Nacht noch von heftigem Fieber befallen, wovon er Schön nichts verriet, bremste Cruyff erst im Strafraum regelwidrig. Sein eigentlicher Bewacher war Berti Vogts, der im Training vor dem Finale gegen Günter Netzer ran musste, der Cruyff doubeln sollte. Doch was auf dem Platz passiert, lässt sich nie voraussehen. Den fälligen Elfmeter verwandelte Johan Neeskens mit einem überaus optimistischen Schuss in die Tormitte. Nach 63 Sekunden führten die Niederländer, es war das schnellste Tor eines WM-Finales und das erste durch Elfmeter.

"Dann haben die Holländer versucht, uns vorzuführen, haben Jojo gespielt. Und nicht damit gerechnet, dass etwas schiefgehen kann", behauptete Hölzenbein, der persönlich dafür sorgte, dass etwas schiefging für Holland. In der 23. Minute drang er in den Strafraum ein und kam nach einer Attacke von Wim Jansen zu Fall. Foul oder nicht? Diese Frage ist bis heute noch schwerer zu klären als die nach dem Wembley-Tor und doch genauso wichtig. Bernd Hölzenbein muss mit dem Vorwurf, eine Schwalbe produziert zu haben, leben und beteuert bis heute: "Ganz klar, es war einer. Zeigt diese Szene im Urwald oder Schiedsrichtern, die sie nie gesehen haben. Ich sage: alle pfeifen Elfmeter, es geht gar nicht anders."

ARD-Reporter Rudi Michel hielt sich übrigens vornehm zurück und sagte auch nach der Zeitlupe rein gar nichts. Vielleicht raubte ihm die Anspannung die Worte. So wie sie den etablierten Schützen den Mut nahm. Weder Hoeneß noch Müller rissen sich um den Ball und als sich auch Overath abdrehte, schnappte ihn sich Paul Breitner mit seinen 22 Jahren. Eiskalt schob er ihn links unten ins Tor zum Ausgleich und erst als er am nächsten Tag die Wiederholung sah, wurde er noch nachträglich nervös. Da hatte er erst realisiert, welche Verantwortung er auf sich geladen hatte. So werden Helden geboren.

Nun kippte das minütlich an Niveau gewinnende Spiel zu Gunsten der Deutschen und um 16.43 Uhr wurde Geschichte geschrieben. Rainer Bonhof war mit Grabowskis Pass auf rechts davon gezogen und flankte flach und scharf nach innen auf Gerd Müller. Zwei Mann waren bei ihm, aber weil dem der Ball mit links versprang und somit wieder ein mal das Unvorhersehbare passiert war, auf das nur er eingestellt zu sein schien, kamen sie alle zu spät, als er schon mit rechts zum Nachschuss ansetzte. Flach und unspektakulär zischte der Ball ins Eck, Torwart Jan Jongbloed warf sich gar nicht erst. Es war ja doch nichts zu machen, 2:1. Es sollte das Tor zur Weltmeisterschaft werden. Aber das wussten sie noch nicht, es standen 45 dramatische Minuten bevor.

Auf dem Weg in die Kabinen handelte sich Cruyff eine Verwarnung ein, weil er den Schiedsrichter kritisiert hatte. In der zweiten Hälfte rettete Sepp Maier den deutschen Sieg mit etlichen Glanzparaden, aber Müller schoss auch noch ein Tor, das zu Unrecht aberkannt wurde. Dann pfiff Schiedsrichter Tylor – wie 1954 Ling ein Engländer – ab. Wieder hatte die Mannschaft verloren, die im Finale in Führung gegangen war – schon zum siebten Mal trat dieser kuriose Fall ein.

20 Jahre nach dem Wunder von Bern hieß der Weltmeister wieder Deutschland und nicht jeder analysierte den Triumph von München so tiefgreifend wie Tribünengast Henry Kissinger, Amerikas deutschstämmiger Außenminister: "Deutschland spielte nach dem Schlieffen-Plan, nach einem komplizierten System mit verzwickt angelegten Spielzügen, nahezu unwiderstehlich, wenn alles wie geplant klappte." In Holland hat die Niederlage tiefe Spuren hinterlassen, es herrscht bis heute das Gefühl, die Elftal habe den Titel verschenkt. Schon am Tag nach dem Spiel schrieb De Telegraaf: "Sie haben keine Tore mehr geschossen, aber eine tolle Show gezeigt. Die bessere Mannschaft wurde nicht belohnt." Auch darüber herrscht bis heute naturgemäß keine Einigkeit. Der Beweis dafür, dass ein WM-Finale im Grunde nie ganz zu Ende ist...

Madrid, 8. Juli 1982: Deutschland - Italien 1:3

Nach einem dramatischen Halbfinale gegen Frankreich war die deutsche Mannschaft erst am frühen Morgen ins Bett gekommen, Gegner Italien hatte einen halben Tag mehr Zeit zur Vorbereitung. Dies mag die schwächste Leistung einer deutschen Mannschaft in einem WM-Finale zu einem guten Teil erklären. Schon vor der Pause hatte sie Glück, als Cabrini einen von Hans-Peter Briegel verursachten Elfmeter neben das Tor schoss, vielleicht auch irritiert von einer Rakete aus dem deutschen Fan-Block.

Es war nur ein Tod auf Raten, denn gegen Italiens Abwehr vor dem 40 Jahre alten Torwart Dino Zoff biss sich der deutsche Sturm die Zähne aus. Die Folge: keine Chancen und zu wenig Entlastung für die eigene Abwehr. Das lag vor allem an Karl-Heinz Rummenigge, der sich für fit erklärte und es doch nicht war. Seinetwegen musste Felix Magath auf die Bank. "Willst du dich nicht endlich auswechseln lassen?", herrschte ihn Uli Stielike noch in der Halbzeit an, "das sieht doch jeder, dass du nicht fit bist." Der Kapitän konterte bayerisch-derb: "Schmarrn!".

Erst nach Rossis 1:0, dessen sechsten Tor in Serie, reagierte Derwall. Aber nicht Rummenigge, sondern Dremmler musste Horst Hrubesch weichen. Der Madrilene Stielike drehte fast durch vor Wut, er wollte unbedingt im eigenen Stadion Weltmeister werden. Erst nach 70 Minuten, Tardelli hatte soeben auf 2:0 erhöht, ging Kapitän Rummenigge, der mit fünf Treffern immerhin zweitbester Torjäger in Spanien war, von Bord. Es war seine persönliche Tragik, dass er nicht im Vollbesitz seiner Kräfte war, als es um den WM-Titel ging. Die sich nun an sich selbst berauschenden Italiener entschieden ein am Ende einseitiges Finale ohne Mythen und Dramen durch Joker Altobelli zum 3:0 und gönnten Breitner noch das Ehrentor zum 1:3. Damit war er der dritte Fußballer nach Vava und Pele, der in zwei WM-Finals getroffen hatte.

1974 half es zum Sieg, diesmal zum zweiten Platz. Dass dazwischen Welten liegen können, spürte gerade Breitner besonders. Als Derwall in der Kabine begann, tröstend das Abschneiden zu loben, fiel ihm Breitner ins Wort: "Schon gut, Trainer. Sie brauchen nichts mehr zu sagen." Aber auch der WM-Zweite wurde am Frankfurter Römer empfangen und bejubelt.

Mexiko City, 29. Juni 1986: Deutschland - Argentinien 2:3

Die deutsche Final-Trilogie mit Argentinien nahm an diesem Tag Ihren Anfang. Argentinien um Superstar Diego Maradona, der Viertel- und Halbfinale mit vier Toren alleine entschieden hatte, war klarer Favorit gegen die Elf von Teamchef Franz Beckenbauer. Der ging der Glanz ab, die den Spieler Beckenbauer einst ausgezeichnet hatte, aber ihre Tugenden waren in der Hitze von Mexiko Gold wert gewesen. Kampf und Moral stimmten und im Halbfinale gegen Frankreich blitzte auch spielerisches Können auf, so dass nach der besten Turnierleistung gedämpfter Optimismus herrschte.

117.000 Zuschauer waren gekommen, um den neuen Weltmeister zu sehen. Nie in Endspielen mit Deutschland war eine Kulisse größer. Die Mehrheit war für Argentinien, dessen Fans den weit kürzeren Anreiseweg hatten. Das Duell begann um zwölf Uhr Ortszeit, "high noon" im Azteken-Stadion. Franz Beckenbauer hatte mit Lothar Matthäus seinen "besten Mann" auf Maradona angesetzt, ganz so wie einst Helmut Schön ihn 1966 auf Bobby Charlton. Damals war es ein Fehler. Und diesmal? Nun, es lag weniger an Maradona, der weitgehend ausgeschaltet wurde, dass Argentinien zum zweiten Mal Weltmeister wurde. Es gab andere Protagonisten. Einer war Toni Schumacher, der einen schlechten Tag erwischte.

In der 19. Minute nahm das Unheil seinen Lauf, als der Kölner an einem Freistoß vorbeifaustete und Brown zum 1:0 einköpfte. "Es war doch mein Finale, ich wollte endlich mal an den Ball", hat der Torwart später zugegeben, Opfer seines Ehrgeizes geworden zu sein. Dabei blieb es bis zur Pause eines Finales, das einige Wünsche offen ließ. Nach 56 Minuten schien es entschieden, als Jorge Valdano frei vor Schumacher auf 2:0 erhöhte.

"Was kann eigentlich der Torwart? Ich würd’s gern mal sehen", kleidete ZDF-Reporter Rolf Kramer die Kritik am deutschen Sturm in eine höfliche Frage. Dann kam die 74. Minute und Rolf Kramer bestellte nur "ein Tor". Mehr sagte er nicht, als Andy Brehme die Ecke trat. Der Ball landete über Thomas Berthold bei Rummenigge, der den Auftrag erfüllte und endlich sein erstes Tor in Mexiko schoss. Nun kippte das Spiel, das Stadion brodelte und die Deutschen wiederholten ihr Erfolgsrezept: Wieder eine Brehme-Ecke, Norbert Eder köpfte in die Mitte zum eingewechselten Rudi Völler – 2:2.

Die Stadion-Uhr zeigte 36:29 Minuten an in der zweiten Halbzeit. Noch siebeneinhalb Minuten Zeit bis zur Verlängerung – wie leicht hätten die Deutschen sie erreichen können? Aber sie wollten die Entscheidung, sofort. Weit rückten sie auf, nur einer nicht: Hans-Peter Briegel. Da zerschmetterte ein Geistesblitz von Diego Maradona alle Hoffnungen. Der Kapitän schickte Burruchaga auf die Reise, Briegel hob das Abseits auf und kam doch nicht mehr hinterher. Zwei Argentinier rannten auf Schumacher zu. "Toni, halt den Ball" rief Kramer noch flehentlich, aber es war nicht Schumachers Tag. Er kam zu spät heraus und ließ sich dann von Burruchaga tunneln – 3:2.

Aus! "Zu lange gejubelt haben wir, in der Euphorie des Ausgleichs keinen kühlen Kopf bewahrt. Wir fühlten uns dem 3:2 näher als die Argentinier, das war der verhängnisvolle Fehler", klagte Rummenigge. Aber niemand bezweifelte, dass Argentinien verdienter Weltmeister geworden war und wieder wurde auch der Vize-Weltmeister freundlich empfangen.

Rom, 8. Juli 1990: Deutschland - Argentinien 1:0

Dieser Tag sollte das einseitigste Finale der WM-Geschichte sehen. Argentinien war in einem Zustand, der eines WM-Finales eigentlich nicht würdig war. Eine durch Sperren und Verletzungen dezimierte Mannschaft, die ihr Selbstbewusstsein nur noch aus Maradonas Anwesenheit bezog, die regulär nur zwei Spiele gewonnen und nie überzeugt hatte. Die Vorzeichen ähnelten denen von 1986, nur umgekehrt. Damals war Deutschland glanzlos ins Finale eingedrungen und Argentinien hatte begeistert.

Beckenbauers Elf also war Favorit im Kampf von Rom. Egal dass die, die er aufs Feld schickte, noch nie so zusammengespielt hatte. Er entschied sich im Mittelfeld für das Kölner "Zwergen-Duo" Littbarski/Häßler. Häßler erfuhr Dankbarkeit für sein Tor im entscheidenden Qualifikationsspiel gegen Wales, wie Beckenbauer später zugab. Es war kein Fehler. Alle spielten sie gut an diesem Tag gegen einen Gegner, der von Anfang an nur ins Elfmeterschießen wollte. Bodo Illgner musste nur einen gefährlichen Ball halten, es war eine hohe Rückgabe von Andreas Brehme. Beckenbauer sagte später zu Recht: "Wir haben Argentinien an die Wand gespielt, die hatten in 90 Minuten keine Torchance."

Die Deutschen umso mehr. Selbst die Verteidiger stürmten, Berthold köpfte knapp drüber, Libero Klaus Augenthaler wurde im Strafraum gelegt, der Elfmeterpfiff blieb aber aus. Guido Buchwald schaltete Maradona aus und fand ebenfalls noch Zeit zum Stürmen. Nach 85 langen Minuten aber kam er doch und bis heute bestehen Zweifel an seiner Berechtigung. Die Argentinier, zu diesem Zeitpunkt schon zu zehnt und am Ende gar zu neunt – nach Platzverweisen für Monzon und Dezotti – brachten Völler im Strafraum zu Fall. Beckenbauer sagte süffisant: "Da hat der Rudi ein wenig nachgeholfen" und der ARD-Reporter Gerd Rubenbauer fand das Foul an Augenthaler weit schlimmer.

Aber sie haben das Geschenk von Schiedsrichter Mendez aus Mexiko gerne angenommen. Lothar Matthäus allerdings verweigerte den Dienst vom Kreidepunkt, er spielte mit neuen Schuhen und fühlte sich unsicher. In der Pause waren ein Stollen und die Sohle des rechten Schuhs gebrochen. Der Schuh war übrigens zuvor vorübergehend in Diensten seines Freundes Diego Maradona gewesen, der nun auf der anderen Seite stand. Matthäus hatte dem Argentinier 1988 in Berlin sein Paar geliehen. Der wählte eine losere Schnürung, die Matthäus nie zu ändern wagte. Nun, mit neuem Schuh, fühlte sich alles anders an und er übergab die Aufgabe einem sicheren Kollegen.

Andy Brehme übernahm die Aufgabe, Deutschland zum dritten WM-Titel zu schießen. Er wurde nervös, weil der Ball erst nach zwei Minuten parat lag, aber das merkte dem Inter-Legionär aus Hamburg keiner an. Zentimeter neben dem Pfosten landete der Flachschuss im argentinischen Tor. Ein Schuss für die Ewigkeit. Noch heute, wenn er irgendwo auftaucht, wird ihm zugerufen: "Andy, unten links!"

Die letzten Minuten überstand die Mannschaft wie im Rausch, auf den Rängen wurde schon gefeiert. Dann, um 21.50 Uhr, pfiff Senor Mendez ab. Um 22.03 Uhr erhielt Lothar Matthäus, der überragende Spieler dieser WM, den Weltpokal aus den Händen des italienischen Staatspräsidenten Cossiga. Bundeskanzler Helmut Kohl, der in Mexiko noch tröstende Worte finden musste, durfte nun in der Kabine Glückwünsche aussprechen und erntete übermütige Reaktionen: "Helmut, senk den Steuersatz!", sangen die Helden der Nation. Nur einer war in der Lage, sich still zu freuen. Das Bild vom einsam entrückten Franz Beckenbauer, der mit der Goldmedaille um den Hals über den Platz spazierte, über ihm ein strahlender Vollmond und ein aufsteigendes Flugzeug, ging um die Welt. Lichtgestalt hat man ihn irgendwann später genannt, wie passend zu diesem Moment der Besinnung im Mondlicht.

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Yokohama, 30. Juni 2002: Deutschland - Brasilien 0:2

Erstmals überhaupt trafen die WM-Dauerbrenner Deutschland und Brasilien bei einer Weltmeisterschaft aufeinander. Die hohe Politik schwebte ein: Der Bundeskanzler, der Bundespräsident und auch Kanzlerkandidat Edmund Stoiber drückten vor Ort die Daumen. Plötzlich war die deutsche Mannschaft ihren Anhängern, von denen bis dahin nur 2000 nach Asien gekommen waren, etwas wert. Auf dem Schwarzmarkt wurden bis zu 750 Euro für ein Final-Ticket gezahlt und mancher buchte noch einen Drei-Tages-Trip für 2000 Euro im Reisebüro.

Das Finale zog die Welt in ihren Bann. "Die Weltmeisterschaft der Überraschungen bekommt doch nach ein logisches Endspiel", schrieb eine holländische Zeitung. Im DFB-Quartier ging es am Vortag in Yokohama zu wie im Bienenstock. 47 Kamerateams, 60 Radioreporter und 300 Printjournalisten aus aller Welt belagerten das Foyer im "Sheraton Bay and Tower"-Hotel vor der Pressekonferenz. Trainer Rudi Völler forderte schlicht von allen Akteuren in seiner Elf "das Spiel des Lebens" zu machen.

Mit 14:1 Toren war diese Mannschaft ins Finale gekommen, mit drei guten und drei schwachen Spielen und mit ihren Tugenden, die die ganze Welt fürchtete. Wieso eigentlich sollte sie chancenloser Außenseiter sein? Als das ZDF an jenem Sonntag seine Finalsendung begann, tippten oder besser wünschten sich 82% der Teilnehmer an einer Umfrage den WM-Titel. Aber Michael Ballack fehlte gesperrt, Bayerns Jens Jeremies ersetzte ihn.

Die ersten 20 Minuten gehörten der deutschen Elf, die couragiert nach vorne spielte. Dennoch musste sie froh sein, mit einem 0:0 in die Kabinen zu gehen, weil Kleberson die Latte und Ronaldo Oliver Kahn traf – beides in der 45. Minute. Vorboten brasilianischer Torgefahr, während die deutsche Mannschaft keine Chance herausgespielt hatte. Miroslav Klose war seit der Vorrunde leer ausgegangen und nahm sich sein Tief leider zum schlechtesten Zeitpunkt.

Als es wieder losging, kamen auch die Chancen. Oliver Neuville wagte einen Freistoß aus rund 30 Metern, aber der Ball prallte an den Pfosten (49.) und mit ihm auch das Glück von den Deutschen ab. Dann kam auch noch Pech dazu. Der Fußballgott hatte sich die denkbar tragischste Konstellation, diese Finale zu entscheiden, bis zur 67. Minute aufbewahrt. Da passierte es: einen Schuss von Rivaldo konnte Oliver Kahn, schon vor dem Finale zum besten WM-Torwart gewählt, nicht festhalten. Der Unfehlbare beging nur diesen einen Fehler in Asien und wurde so hart bestraft. Ronaldo holte sich den Abpraller und schoss das 1:0.

Nun bekamen die Zauberer vom Zuckerhut Oberwasser und nutzten gleich ihre nächste Chance: Wieder traf Ronaldo (79.), diesmal unhaltbar, von der Strafraumgrenze. Es war der Schlussakt eines sehenswerten Finales, das einen würdigen Sieger bekam. Dass sich die deutsche Mannschaft nicht wirklich als Verlierer fühlen sollte nach einer solchen Turnierleistung, mag zwar stimmen, doch für Oliver Kahn war es kein Trost. Minutenlang stand, lehnte und kauerte er apathisch am Torpfosten. Der "Titan" war wieder ein Mensch. Einer, dem die Sympathien zuflogen wie nie zuvor in seinem von Verbissenheit und Ehrgeiz geprägten Leben. Eine japanische Studentin schrieb in ihr Internet-Tagebuch: "Kahn hatte damals verloren. Aber er verharrte im Tor, standfest und tapfer – das war pure japanische Samurai-Ästhetik."

Selbst die Entschuldigung, dass er ab der 52.Minuten nach einem Tritt Ronaldos mit Bänderriss im Finger spielte, wollte er nicht gelten lassen. "So extrem schlimm ist es nicht", sagte er. "Wir haben ein WM-Finale verloren, und ich habe den einzigen Fehler des Turniers gemacht. Da gibt es keinen Trost."

Aber der Empfang am nächsten Tag am Frankfurter Römer hätte auch nicht anders ausfallen können mit dem Pokal. "Was wäre eigentlich hier los gewesen, wenn wir Weltmeister geworden wären?", fragte ein gerührter Rudi Völler. Es war das aus deutscher Sicht unerwartet schöne Ende einer WM, die in vielerlei Hinsicht einmalig war.

Und doch können wir uns am Sonntag noch Schöneres vorstellen.