Köpke: "Kahn und Lehmann sind Beispiel und Maßstab"

Köpke: Generell wird heute bei Abschlägen und Abwürfen eine viel höhere Qualität von einem erstklassigen Torwart erwartet. Diese Abschläge wie zu meiner Zeit, 40 Meter hoch und dann fast senkrecht runter gefallen, die sind völlig out, nicht mehr modern. Gefragt sind die scharfen seitlichen Abschläge, wie sie die Südamerikaner praktizieren, und flache Abschläge, mit denen die Stürmer etwas anfangen können. Oder eben weite, absolut punktgenaue Abwürfe über die Mittellinie hinaus. Die Toptorhüter von heute machen das Spiel damit wesentlich schneller bei hoher Präzision.

Frage: Das Spiel ist schneller, die Aufgabe des Torwart als letzter Feldspieler noch verantwortungsvoller, mit der Rückpassregel noch schwieriger und zudem der Ball noch unberechenbarer geworden. Geht die Weiterentwicklung des Fußballs vor allem zu Lasten des Torwarts?

Köpke: Sicherlich müssen sich die Torhüter immer wieder an Neuentwicklungen der diversen Ballproduzenten gewöhnen. Doch wenn man damit erst einmal gezielt trainiert hat, ist das kein Problem. Weitaus problematischer sind die Entwicklung im Medienbereich und die Erwartungen, die von dort gestellt werden. Immer präsent zu sein, immer Rede und Antwort zu stehen, und das bei fast nur noch englischen Wochen – das stellt hohe Anforderungen an jeden einzelnen, wie er den Kopf frei bekommt. Eine Antwort darauf ist der Psychologe bei der Mannschaft, der beim Umgang mit Druck behilflich ist und diesen Druck in positive Energie umleitet.

Frage: Druck entsteht auf die Torhüter auch deshalb, weil sie mittlerweile weitaus eher zur Disposition stehen und ausgetauscht werden. Sie bewegen sich in der Rolle als letzter Mitspieler immer am Rande der Roten Karte, wenn sie sich beim Rauslaufen um den Bruchteil einer Sekunde verschätzen. Ist die psychologische Ausgangssituation für den Torhüter prekärer geworden?

Köpke: Ich glaube schon. Weil zum einen das Anforderungsprofil an den Torhüter viel komplexer geworden ist. Aber auch weil der Druck größer geworden ist, dem diese Jungs ausgesetzt sind – durch die Medien, aber auch durch das viel risikoreicher gewordene Torwartspiel. Wenn er einmal zu spät kommt bei einem Rettungsversuch 20 bis 30 Meter vor seinem Tor, ist die Rote Karte programmiert. Das sind Dinge, die in den psychologischen Bereich fallen. Doch die muss ich, ebenso wie die latente Verletzungsgefahr, ausblenden. Wenn ich an diese Dinge schon vorher denke, dann passieren sie oft auch. Stattdessen muss man mit Selbstbewusstsein ins Spiel gehen und sich trotz allem auf seine Aufgabe freuen.

Frage: Wie lassen sich 100-prozentige Konzentration über 90 Minuten und das entscheidende Timing beim Herauslaufen trainieren – gerade für einen Torwart der deutschen Nationalmannschaft, der ja in der Regel nicht permanent unter Dauerbeschuss steht?

Köpke: Das Timing beim Rauslaufen ist Erfahrungssache, das geht irgendwann in Fleisch und Blut über. Diese 100-prozentige Konzentration zu trainieren, ist dagegen unheimlich schwer. Sie kann eigentlich nur über eine generell konzentrierte Verhaltensweise erarbeitet werden. Jens Lehmann und Oliver Kahn sind hierfür beste Beispiele. Wie sie in der Nationalmannschaft bei jedem Training mit wirklich 100-prozentiger Konzentration immer bei der Sache waren, das hat auch ihr Torwartspiel während der 90 Minuten positiv beeinflusst. Das sind jedoch Dinge, die nicht jeder Torwart hinbekommt. Und deswegen gibt es diese Unterschiede, nicht nur was die punktuelle Klasse betrifft, sondern vor allem auch bei der Konstanz, über einen langen Zeitraum auf Topniveau zu bleiben. Weil wir in der deutschen Nationalmannschaft immer diese Torhüter besaßen, die auch bei jedem Training hoch konzentriert ihre Aufgaben erfüllt haben, hatten wir nie Torwartprobleme. Nervenstärke und Konzentrationsfähigkeit, das ist es, was deutsche Nationaltorhüter schon immer ausgezeichnet hat.

Frage: Wird von einem Torwarttrainer und speziell von Ihnen mehr psychologisches Geschick im Umgang mit seinen Individualisten gefordert als früher?



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Mit den Rücktritten von Oliver Kahn nach der WM 2006 und Jens Lehmann im Anschluss an die EURO 2008 ging auf der Position der Torhüter in der deutschen Nationalmannschaft eine große Ära zu Ende. Sie hat auch die bislang vierjährige Amtszeit von Andreas Köpke als Bundestorwarttrainer geprägt.

Mit dem Start in sein fünftes Dienstjahr im DFB-Trainerstab, das am Mittwoch (ab 21 Uhr, live im ZDF) mit dem Benefiz-Länderspiel gegen Belgien in seiner Wahlheimat Nürnberg beginnt, stellt sich für den 48-Jährigen die Aufgabe, ein neues Torhüterteam um eine neue Nummer eins im Hinblick auf die WM 2010 in Südafrika aufzubauen.

Im "DFB.de-Gespräch der Woche" mit DFB-Redakteur Wolfgang Tobien beschreibt der 59-malige Nationaltorhüter Köpke das spezielle Anforderungsprofil auf dem Weg zur WM 2010 und verweist auf die großen allgemeinen Veränderungen des modernen Torwartspiels mit ihren psychologischen Auswirkungen. Zudem äußert sich der Europameister von 1996 im Rückblick zur Zusammenarbeit mit Oliver Kahn und Jens Lehmann, mit denen er 1998 noch als Torhüter im deutschen WM-Team gestanden hatte und die er jetzt ihren Nachfolgern als Maßstab und Beispiel für professionelle Zusammenarbeit empfiehlt.

Frage: Mit dem Länderspiel in Ihrem Wohnort Nürnberg beginnt Ihr fünftes Dienstjahr als Bundestorwarttrainer. Es beinhaltet vor allem die Anlaufstrecke zur WM 2010. Gibt es dabei besondere neue Schwerpunkte für das Training der Nationaltorhüter?

Andreas Köpke: Im Moment weniger im Trainingsbereich als vielmehr bei der Aufgabe, den neuen Torwart aufzubauen, der dann bei der WM-Endrunde in Südafrika die Nummer eins sein wird. Nach dem Rücktritt von Jens Lehmann gilt es, mit den jungen Torhütern den Schnitt so durchzuführen, dass wir uns, wie bei den vergangenen Turnieren, im Torwartbereich wieder mit einem festen, gut funktionierenden Team präsentieren.

Frage: Wie stellt sich der Kreis der Torhüter dar, aus dem sich die zukünftige Nummer eins herauskristallisieren soll?

Köpke: Für das Spiel gegen Belgien hatten wir logischerweise Robert Enke und Rene Adler nominiert, da beide schon unserem EM-Aufgebot angehörten. Enke wird am Mittwoch spielen. Aufgrund Adlers Verletzung haben wir entschieden, dass wir Tim Wiese bei diesem Länderspiel in Nürnberg eine Bewährungschance geben. Er hat in den vergangenen Jahren in der Bundesliga und Champions League gute Leistungen gezeigt und sich diese Berufung verdient. So geht es jetzt erst einmal los.

Frage: Welche Aufgabenstellung erwartet die neue Generation der Nationaltorhüter auf dem Weg zur WM 2010?

Köpke: Das Profil in unserem Torwartbereich beinhaltet ganz deutlich das moderne Torwartspiel. Dazu gehören ein großes Stück Verständnis als Libero, das schnelle Umschalten auf Angriff, fußballerische Qualitäten, sichere Strafraumbeherrschung. Dieses – im Rahmen der von Joachim Löw und vorher von Jürgen Klinsmann entworfenen Spielphilosophie – entwickelte offensive Torwartspiel gilt es nun, mit den Nachfolgern von Oliver Kahn und Jens Lehmann fortzuführen und zu verfeinern.

Frage: Die WM 2010 wird Ihr drittes Turnier als Torwarttrainer. Was war im Rückblick auf die vergangenen beiden Turnieren gut, was würden Sie im Nachhinein anders, was genauso machen?

Köpke: Ich würde den Confederations Cup 2005 noch in diese Bilanz einbeziehen, wo der Zweikampf zwischen Lehmann und Kahn voll im Gang war und wo ich in einer schwierigen Situation ein bisschen zwischen den Stühlen gesessen habe. Was wir dabei hinbekommen haben in dieser Konkurrenzsituation, war ein Torwartteam, dessen Miteinander bei all den hohen Ansprüchen, die jeder an sich selbst hatte, von großem Respekt voreinander geprägt war. Vorbildlich zum Ausdruck gebracht hat dieses Miteinander Oliver Kahn bei der WM 2006 – egal, wie es dabei in ihm ausgesehen hat. Er hat sich wirklich in den Dienst der Mannschaft gestellt. Dieser respektvolle Konkurrenzkampf auf absolut hohem professionellen Niveau muss Maßstab und Beispiel sein für unsere Torhüter jetzt auf dem Weg zur WM 2010. Diese Gemeinschaft im Training, wo die Jungs, die nicht spielen, Druck von hinten machen und trotzdem die Nummer eins unterstützen.

Frage: Wie hat sich das Torwarttraining bei der Nationalmannschaft im Vergleich zu Ihrer aktiven Zeit als Nationaltorhüter verändert?

Köpke: Neben den Veränderungen in unserem Torwartspiel, die natürlich die Trainingsinhalte beeinflussen, wird viel intensiver im Fitnessbereich gearbeitet. Hier sind die Torhüter wesentlich mehr in die Mannschaftsarbeit eingebunden als zu meiner Zeit. Das gilt auch für die Übungen, die den Torhütern zur Vorbeugung vor Verletzungen, zu stärkerer Stabilisierung und allgemein für noch größere Fitness mit nach Hause gegeben werden. Darüber hinaus ist das Torwarttraining wesentlich komplexer geworden. Mit viel mehr fußballspezifischen Elementen und intensiverer taktischer Schulung mit der Mannschaft.

Frage: Muss der Torwart inzwischen also weitaus stärker ein Teamplayer sein als zu Ihrer Zeit?

Köpke: Auf jeden Fall. Das Training der Torhüter und das der Feldspieler greifen viel mehr ineinander. Der Torwart ist weitaus stärker in das gesamte Defensivverhalten der Mannschaft eingebunden, wozu ja auch die Spieleröffnung nach Ballgewinn gehört.

Frage:. Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang die Handball-Praxis für einen Fußball-Torwart?

Köpke: Generell wird heute bei Abschlägen und Abwürfen eine viel höhere Qualität von einem erstklassigen Torwart erwartet. Diese Abschläge wie zu meiner Zeit, 40 Meter hoch und dann fast senkrecht runter gefallen, die sind völlig out, nicht mehr modern. Gefragt sind die scharfen seitlichen Abschläge, wie sie die Südamerikaner praktizieren, und flache Abschläge, mit denen die Stürmer etwas anfangen können. Oder eben weite, absolut punktgenaue Abwürfe über die Mittellinie hinaus. Die Toptorhüter von heute machen das Spiel damit wesentlich schneller bei hoher Präzision.

Frage: Das Spiel ist schneller, die Aufgabe des Torwart als letzter Feldspieler noch verantwortungsvoller, mit der Rückpassregel noch schwieriger und zudem der Ball noch unberechenbarer geworden. Geht die Weiterentwicklung des Fußballs vor allem zu Lasten des Torwarts?

Köpke: Sicherlich müssen sich die Torhüter immer wieder an Neuentwicklungen der diversen Ballproduzenten gewöhnen. Doch wenn man damit erst einmal gezielt trainiert hat, ist das kein Problem. Weitaus problematischer sind die Entwicklung im Medienbereich und die Erwartungen, die von dort gestellt werden. Immer präsent zu sein, immer Rede und Antwort zu stehen, und das bei fast nur noch englischen Wochen – das stellt hohe Anforderungen an jeden einzelnen, wie er den Kopf frei bekommt. Eine Antwort darauf ist der Psychologe bei der Mannschaft, der beim Umgang mit Druck behilflich ist und diesen Druck in positive Energie umleitet.

Frage: Druck entsteht auf die Torhüter auch deshalb, weil sie mittlerweile weitaus eher zur Disposition stehen und ausgetauscht werden. Sie bewegen sich in der Rolle als letzter Mitspieler immer am Rande der Roten Karte, wenn sie sich beim Rauslaufen um den Bruchteil einer Sekunde verschätzen. Ist die psychologische Ausgangssituation für den Torhüter prekärer geworden?

Köpke: Ich glaube schon. Weil zum einen das Anforderungsprofil an den Torhüter viel komplexer geworden ist. Aber auch weil der Druck größer geworden ist, dem diese Jungs ausgesetzt sind – durch die Medien, aber auch durch das viel risikoreicher gewordene Torwartspiel. Wenn er einmal zu spät kommt bei einem Rettungsversuch 20 bis 30 Meter vor seinem Tor, ist die Rote Karte programmiert. Das sind Dinge, die in den psychologischen Bereich fallen. Doch die muss ich, ebenso wie die latente Verletzungsgefahr, ausblenden. Wenn ich an diese Dinge schon vorher denke, dann passieren sie oft auch. Stattdessen muss man mit Selbstbewusstsein ins Spiel gehen und sich trotz allem auf seine Aufgabe freuen.

Frage: Wie lassen sich 100-prozentige Konzentration über 90 Minuten und das entscheidende Timing beim Herauslaufen trainieren – gerade für einen Torwart der deutschen Nationalmannschaft, der ja in der Regel nicht permanent unter Dauerbeschuss steht?

Köpke: Das Timing beim Rauslaufen ist Erfahrungssache, das geht irgendwann in Fleisch und Blut über. Diese 100-prozentige Konzentration zu trainieren, ist dagegen unheimlich schwer. Sie kann eigentlich nur über eine generell konzentrierte Verhaltensweise erarbeitet werden. Jens Lehmann und Oliver Kahn sind hierfür beste Beispiele. Wie sie in der Nationalmannschaft bei jedem Training mit wirklich 100-prozentiger Konzentration immer bei der Sache waren, das hat auch ihr Torwartspiel während der 90 Minuten positiv beeinflusst. Das sind jedoch Dinge, die nicht jeder Torwart hinbekommt. Und deswegen gibt es diese Unterschiede, nicht nur was die punktuelle Klasse betrifft, sondern vor allem auch bei der Konstanz, über einen langen Zeitraum auf Topniveau zu bleiben. Weil wir in der deutschen Nationalmannschaft immer diese Torhüter besaßen, die auch bei jedem Training hoch konzentriert ihre Aufgaben erfüllt haben, hatten wir nie Torwartprobleme. Nervenstärke und Konzentrationsfähigkeit, das ist es, was deutsche Nationaltorhüter schon immer ausgezeichnet hat.

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Frage: Wird von einem Torwarttrainer und speziell von Ihnen mehr psychologisches Geschick im Umgang mit seinen Individualisten gefordert als früher?

Köpke: Sicher war meine Situation anfangs nicht so einfach. Bei der WM 1998 waren Kahn, Lehmann und Köpke die drei Torhüter im deutschen Aufgebot. Sechs Jahre später stand ich den beiden dann als Torwarttrainer gegenüber. Da war es wichtig, in Gesprächen die Situation glaubhaft darzustellen und einen professionellen Umgang miteinander zu vermitteln. Es ist schon ein gewisses psychologisches Fingerspitzengefühl notwendig, um die Torhüter so zusammenzuführen, dass bei aller Individualität ein Miteinander entsteht.

Frage: Suchen Ihre Torhüter häufiger das Gespräch mit dem Mannschaftspsychologen?

Köpke: Das weiß ich gar nicht. Und eigentlich ist das auch gut so. Das sind doch Gespräche, die oft im ganz persönlichen Bereich liegen und auf einem sehr besonderen Vertrauensverhältnis zwischen dem Spieler und Psychologen basieren. Das funktioniert ja auch nicht so, dass heute diesem und morgen jenem Spieler ein Termin bei Psychologen vom Trainerstab verordnet wird. Wenn einer das nicht will, dann macht er es nicht, und dann bringt es auch nichts. So etwas muss sich aufbauen und entwickeln. Und es wäre falsch, wenn wir Trainer alles wissen würden, was in den Gesprächen der Spieler mit unserem Psychologen Hans-Dieter Hermann gesagt wird. Generell wissen wir nicht, wer wann wie und wo Kontakt zu unserem Psychologen hat. So muss es sein.

Frage: Eine allgemeine Frage zum Torwarttraining. Benötigt der Fußball nicht auf breiter Front eine systematische Torwartausbildung – geleitet von lizenzierten Torwarttrainern?

Köpke: Ich halte es seit vielen Jahren für wichtig, dass es einen Torwarttrainerschein geben sollte. Wir hatten hierfür schon einige Sitzungen, bei denen dies thematisiert und über Inhalte diskutiert wurde. Ob ein Grundkurs angeboten wird, auf den man dann noch eine Lizenz draufsetzt oder nur ein allgemeiner Schein nach einer Ausbildung – umgesetzt wurde bisher aber leider nichts. Man tritt noch etwas auf der Stelle. Veränderungen sind aber angedacht, die jetzt vorangetrieben werden müssen. Jeder von uns muss sich fortbilden und weiter entwickeln. Auch ich. Daher war ich, um nur ein Beispiel zu nennen, mit Assistenztrainer Hansi Flick in London bei Arsenal und habe mir dort genau das Torwarttraining angeschaut. Auch, um mal ein paar andere Übungen vermittelt zu bekommen.

Frage: Eine ganz persönliche Frage zum Abschluss. Können Sie sich vorstellen, wie Ihr Vorgänger Sepp Maier 17 Jahre lang Bundestorwarttrainer zu sein?

Köpke: 17 Jahre, das ist schon Wahnsinn. Im Moment kann ich mir das wirklich nicht vorstellen, und ich bin ohnehin keiner, der über ewig lange Zeiträume plant. Die WM 2010 – das ist das große Ziel. Bis dahin läuft zunächst einmal mein Vertrag.