Klaus Eder: "Den Fokus für keine Sekunde verloren"

Eder: Man kann das gar nicht mehr vergleichen. Wir reden hier über fast drei Jahrzehnte, in dieser Zeit hat sich die Physiotherapie enorm entwickelt. Genauso auch die Beanspruchung der Spieler, auf die wir Physiotherapeuten mit unseren Behandlungstechniken natürlich reagieren mussten. Es hängt also alles zusammen. Ein Beispiel: 1990 sind die Mittelstürmer während der 90 Minuten maximal zwei Kilometer gelaufen, Miro Klose legt aktuell an seinen besten Tagen bis zu 15 Kilometer zurück. Mit im Durchschnitt alle sechs Sekunden einem Richtungswechsel. Auch das gab es früher nicht im Ansatz in dieser Häufigkeit. 1990 war das Wahlmittel die pflegerische Massage, heute ist die Behandlung viel komplexer.

DFB.de: Etwas genauer, bitte. Was machen Sie heute mehr und anders als früher?

Eder: Ich spreche da für alle Sportphysiotherapeuten in Deutschland, die über eine Lizenz des DOSB verfügen und damit die Berechtigung haben, eine Nationalmannschaft zu betreuen. Ganz wesentlich ist der Einzug der manuellen Medizin und der Sportosteopathie. Allein der Fuß besteht aus 26 Knochen, die miteinander verbunden sind, die Wirbelsäule hat mehr als 100 Gelenke, die mit Muskeln, mit Sehnen, mit Bändern, mit Nerven verbunden sind und über die Blutgefäße versorgt werden müssen. Es gibt einen wichtigen Transfer auch zu den inneren Organen. Als Physiotherapeuten müssen wir nicht mehr nur das muskulo-skelettale System im Blick haben, wir müssen gegebenenfalls auch organische Funktionsstörungen erkennen und so mobilisieren, dass die Bewegung im Idealfall nicht mehr beeinträchtigt ist.

DFB.de: Wie hat sich die Welt um die Nationalmannschaft und innerhalb der medizinischen Abteilung in 27 Jahren verändert?

Eder: 1990 waren wir zehn Betreuer, heute hat sich der Stab verdreifacht oder vervierfacht. Es sind Bereiche hinzugekommen, die es früher nicht gab. Auf allen Feldern ist alles professioneller geworden. Natürlich insbesondere im Bereich der Medien, aber auch in der medizinischen Abteilung. Damals gab es drei Physiotherapeuten, einen Orthopäden, einen Internisten, heute sind wir vier Physiotherapeuten, zwei Orthopäden, ein Internist, ein Sportpsychologe. Es ist einfach alles gewachsen.

DFB.de: Sie sind Sprecher der Sportphysiotherapeuten im DOSB. Mit welcher Zielsetzung haben Sie diese Aufgabe übernommen?

Eder: In erster Linie geht es mir um die Fort- und Weiterbildung der Kolleginnen und Kollegen. Aus meiner langen Erfahrung will ich dafür sorgen, dass sie tatsächlich auf die Aufgaben vorbereitet sind, die sie später in der Betreuung von deutschen Nationalmannschaften erwarten. In den verschiedenen Sportarten, im Curling genauso wie im Volleyball oder im Fußball. Dazu gehört die manuelle Medizin, also das perfekte Behandeln von Gelenken, Muskeln und Bändern. Sehr am Herzen lag und liegt mir, die Sportosteopathie in die Sportphysiotherapie zu integrieren. Wie gesagt: Dabei geht es darum, organische Funktionsstörungen – keine organische Erkrankungen –, die sich direkt negativ auf den Bewegungsapparat auswirken können, zu erkennen und zu beheben. Die Zusammenhänge sind insgesamt sehr komplex - wenn man eine Nationalmannschaft betreut, muss das Zusammenspiel der verschiedenen medizinischen Disziplinen reibungslos funktionieren.

DFB.de: Ist das bei der Nationalmannschaft der Fußballer aus Ihrer Sicht der Fall?



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Klaus Eder hat schon viel erlebt. Seit 27 Jahren ist er als Physiotherapeut für die Nationalmannschaft im Einsatz. Mit dem Team hat er Triumphe gefeiert und Niederlagen verkraftet. Er kennt die Situation kurz vor dem Finale, er weiß, wie Mannschaften funktionieren, die Titel gewinnen. Im DFB.de-Interview mit Redakteur Steffen Lüdeke spricht Eder über die Arbeit der Physiotherapeuten, das Halbfinale gegen Brasilien und die Stimmung vor dem großen Finale.

DFB.de: Herr Eder, wir wollten eigentlich ausschließlich über Sportphysiotherapie mit Ihnen reden. Aber eines vorweg: Sie sind so lange wie kaum ein anderer als Mitglied des Betreuerstabs der Nationalmannschaft tätig. Haben Sie in all den Jahren schon mal etwas erlebt, das mit dem 7:1 von Belo Horizonte vergleichbar wäre?

Klaus Eder: Nein, so etwas hat es noch nie gegeben. Vier Tore binnen sechs Minuten gegen eine Top-Mannschaft wie Brasilien, das wird für ewig einmalig bleiben. Für uns auf der Bank war die Stimmung ganz merkwürdig. Auch nach dem 4:0 waren wir noch nicht komplett ruhig. Wir haben ja im Spiel gegen Schweden erlebt, was nach einem 4:0 noch passieren kann. Solche Erinnerungen hat man im Kopf, und in solchen Situationen werden sie wieder lebendig. Aber die Jungs haben es einfach auf unglaublich großartige Weise gespielt. Für alle, die dabei waren, wird dieses Spiel unvergesslich bleiben.

DFB.de: Als Physio sind Sie ganz nah an den Spielern dran. Haben Sie im Vorfeld des Halbfinals gespürt, dass etwas Großes kommen könnte?

Eder: Ein 7:1 gegen Brasilien kann man nicht spüren. Aber es war zu merken, wie sehr die Spieler bereit sind, wie positiv sie sind, wie sehr sie wollen. Das haben aber nicht nur wir als Physiotherapeuten gemerkt. Alle, die hier dabei sind, haben das beobachten können. Nach dem Einzug ins Achtelfinale gab es keine große Feier, nach dem Spiel gegen Algerien nicht, auch nach Frankreich nicht - und selbst nach Brasilien haben die Spieler ihren Fokus für keine Sekunde verloren. Vom ersten Tag an waren alle auf den Titelgewinn ausgerichtet, das ist in jeder Sekunde erlebbar, und wie gesagt: So war es auch vor dem Halbfinale gegen Brasilien.

DFB.de: Sie waren beim Titelgewinn 1990 dabei. Sie haben damals die Stimmung und die Tage vor dem WM-Finale erlebt. Erkennen Sie Parallelen?

Eder: Dieser absolute Fokus auf ein Ziel ist sehr ähnlich. Franz Beckenbauer hat damals nichts anderes zugelassen. Auch aus der Erfahrung der EM 1988. Damals hatten wir im letzten Gruppenspiel mit 2:0 gegen Spanien gewonnen, einige haben danach geglaubt, dass der Rest von alleine gehen würde. Die Strafe folgte auf dem Fuße: Wir haben das Halbfinale gegen die Niederlande verloren. Franz hat zwei Jahre später dafür gesorgt, dass niemand vor dem Titelgewinn nachlässt und sich mit dem Erreichten zufrieden gibt. Hier ist es jetzt wieder so, allerdings kommt dieser Fokus aus der Mannschaft selbst, Jogi Löw muss gar nicht korrigierend eingreifen. Die Spieler sind erwachsen, die Spieler sind erfahren, sie wissen, worauf es ankommt.

DFB.de: Wenn Sie Ihren ersten Arbeitstag bei der Nationalmannschaft mit heute vergleichen. Wie viel hat sich für Sie verändert?

Eder: Man kann das gar nicht mehr vergleichen. Wir reden hier über fast drei Jahrzehnte, in dieser Zeit hat sich die Physiotherapie enorm entwickelt. Genauso auch die Beanspruchung der Spieler, auf die wir Physiotherapeuten mit unseren Behandlungstechniken natürlich reagieren mussten. Es hängt also alles zusammen. Ein Beispiel: 1990 sind die Mittelstürmer während der 90 Minuten maximal zwei Kilometer gelaufen, Miro Klose legt aktuell an seinen besten Tagen bis zu 15 Kilometer zurück. Mit im Durchschnitt alle sechs Sekunden einem Richtungswechsel. Auch das gab es früher nicht im Ansatz in dieser Häufigkeit. 1990 war das Wahlmittel die pflegerische Massage, heute ist die Behandlung viel komplexer.

DFB.de: Etwas genauer, bitte. Was machen Sie heute mehr und anders als früher?

Eder: Ich spreche da für alle Sportphysiotherapeuten in Deutschland, die über eine Lizenz des DOSB verfügen und damit die Berechtigung haben, eine Nationalmannschaft zu betreuen. Ganz wesentlich ist der Einzug der manuellen Medizin und der Sportosteopathie. Allein der Fuß besteht aus 26 Knochen, die miteinander verbunden sind, die Wirbelsäule hat mehr als 100 Gelenke, die mit Muskeln, mit Sehnen, mit Bändern, mit Nerven verbunden sind und über die Blutgefäße versorgt werden müssen. Es gibt einen wichtigen Transfer auch zu den inneren Organen. Als Physiotherapeuten müssen wir nicht mehr nur das muskulo-skelettale System im Blick haben, wir müssen gegebenenfalls auch organische Funktionsstörungen erkennen und so mobilisieren, dass die Bewegung im Idealfall nicht mehr beeinträchtigt ist.

DFB.de: Wie hat sich die Welt um die Nationalmannschaft und innerhalb der medizinischen Abteilung in 27 Jahren verändert?

Eder: 1990 waren wir zehn Betreuer, heute hat sich der Stab verdreifacht oder vervierfacht. Es sind Bereiche hinzugekommen, die es früher nicht gab. Auf allen Feldern ist alles professioneller geworden. Natürlich insbesondere im Bereich der Medien, aber auch in der medizinischen Abteilung. Damals gab es drei Physiotherapeuten, einen Orthopäden, einen Internisten, heute sind wir vier Physiotherapeuten, zwei Orthopäden, ein Internist, ein Sportpsychologe. Es ist einfach alles gewachsen.

DFB.de: Sie sind Sprecher der Sportphysiotherapeuten im DOSB. Mit welcher Zielsetzung haben Sie diese Aufgabe übernommen?

Eder: In erster Linie geht es mir um die Fort- und Weiterbildung der Kolleginnen und Kollegen. Aus meiner langen Erfahrung will ich dafür sorgen, dass sie tatsächlich auf die Aufgaben vorbereitet sind, die sie später in der Betreuung von deutschen Nationalmannschaften erwarten. In den verschiedenen Sportarten, im Curling genauso wie im Volleyball oder im Fußball. Dazu gehört die manuelle Medizin, also das perfekte Behandeln von Gelenken, Muskeln und Bändern. Sehr am Herzen lag und liegt mir, die Sportosteopathie in die Sportphysiotherapie zu integrieren. Wie gesagt: Dabei geht es darum, organische Funktionsstörungen – keine organische Erkrankungen –, die sich direkt negativ auf den Bewegungsapparat auswirken können, zu erkennen und zu beheben. Die Zusammenhänge sind insgesamt sehr komplex - wenn man eine Nationalmannschaft betreut, muss das Zusammenspiel der verschiedenen medizinischen Disziplinen reibungslos funktionieren.

DFB.de: Ist das bei der Nationalmannschaft der Fußballer aus Ihrer Sicht der Fall?

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Eder: Absolut. Beim DFB ist es seit Jahren so, dass mich ganz besonders das Binnenklima begeistert. Meine Kollegen Wolfgang Bunz, Christian Müller und Christian Huhn sind alles große Kapazitäten, die Zusammenarbeit mit den Ärzten Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, Sepp Schmitt und Tim Meyer könnte nicht besser sein. Das gilt genauso für das Verhältnis mit unserem Sportpsychologen Hans-Dieter Hermann. Infolgedessen empfinde ich trotz der vielen Arbeit bei der Nationalmannschaft - wenn überhaupt - positiven Stress. Mit Jogi Löw ist es einfach unglaublich. Genauso mit Hansi Flick, Andreas Köpke und Oliver Bierhoff. Man kann ohne Hektik mit den Trainern sprechen, sie lassen sich in Ruhe erklären, warum wir welche Maßnahme für sinnvoll halten. Es gibt überhaupt keine Eitelkeiten, jeder schätzt die Qualitäten des anderen. So muss es sein, so ist es - und so macht es Spaß.

DFB.de: Sie sprechen den Stress an. Welches der Turniere war für Sie am arbeitsintensivsten?

Eder: Wie gesagt, den Stress empfinde ich als positiv. Aber das Turnier hier in Brasilien ist schon fordernd. Aufgrund der klimatischen Gegebenheiten ist die körperliche Beanspruchung der Spieler extrem, es ist doch klar, dass sich dies auch auf die Arbeit der Physiotherapeuten auswirkt. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir bei einem anderen Turnier so viel, so häufig und so lange beansprucht wurden. Das soll um Himmels willen aber keine Klage sein. Jeder von uns macht seine Arbeit extrem gerne, niemand schaut auf die Uhr. Eine WM ist eine Ausnahmesituation, die Arbeitsbelastung gehört dazu.

DFB.de: Sie wissen, wie Titelfeiern nach WM-Triumphen bei der Nationalmannschaft ablaufen. Geben Sie uns mal einen kleinen Einblick – was würde im Fall des Titelgewinns am Sonntag in Rio passieren?

Eder: Von allen würde enormer Druck abfallen. Von den Spielern genauso wie von den Betreuern. Deutschland wäre dann wieder Weltmeister, für alle wäre dies der Höhepunkt der Karriere. Aber ich will nicht zu viel darüber reden, was im Fall der Fälle passiert. Wir müssen dieses eine Spiel noch gewinnen, alles andere kommt danach. Und danach können Sie mich auch gerne fragen, wie es gewesen ist.