Joachim Löw und die sieben Tore von Belo Horizonte

Sieben Spiele zum Glück. Es begann in Salvador mit einem Traum, es endete in Rio mit dem Weltmeistertitel. DFB.de lässt die sieben deutschen Spiele der WM noch einmal Revue passieren und erzählt ihre Geschichten. Auf dem Platz und daneben. Heute: Bundestrainer Joachim Löw und die sieben Tore von Belo Horizonte.

Zahlen und Fußball? Klar: 90 Minuten, zwei Mal 45. 11 Meter, 16-Meter-Raum, 5-Meter-Raum, 3 Punkte, 1 Remis. Alle möglichen Zahlen haben unmittelbare Verknüpfungen mit dem Fußball, diese nicht: Sieben. Assoziationen mit dieser Zahl? Die glorreichen Sieben, sieben auf einen Streich, der siebte Sinn. Rudi Carrell hat die verflixte 7 präsentiert, es gibt die sieben Todsünden und einen gleichnamigen Film mit Morgan Freeman. Dem Fußball lässt sich über die sieben nur schwer nähern, über Umwege gelingt dies bei wissenschaftlicher Betrachtung: Die Sieben ist die niedrigste Generatorzahl in der Menge der natürlichen Zahlen, ein Tor ist also dabei, immerhin.

Das alles galt bis zum 8. Juli 2014. Seither ist die Zahl Sieben untrennbar mit Belo Horizonte, mit der deutschen Nationalmannschaft und der WM in Brasilien verknüpft. Die Sieben benennt die Anzahl der Stiche, die der Seleção versetzt wurden, oder positiv und aus Sicht der deutschen Nationalmannschaft: die glorreichen Sieben sind künftig auch die sieben Tore, mit denen das DFB-Team im WM-Halbfinale Geschichte geschrieben hat.

Es waren epochale 90 Minuten in Belo Horizonte, ein Spiel, das mindestens für den Fußball in Brasilien eine Zäsur bilden wird. Das Unfassbare zu fassen vermochte niemand. Nach der Partie wurde viel geschrieben, viel geredet und viel analysiert. Eine Zeitung in Deutschland formulierte wunderbar und treffend, dass der deutsche Fußball nun seine Mondlandungsfrage habe: Wo warst Du, als Deutschland im WM Halbfinale gegen Brasilien mit 7:1 gewonnen hat? Bei einem Deutschen können 80 Millionen Deutsche diese Frage mit Gewissheit beantworten. Wo soll Joachim Löw schon gewesen sein - in Belo Horizonte, im Stadion, auf, neben und vor der Trainerbank.

Die sieben Tore aus Sicht des Bundestrainers:

11. Minute, Ecke Deutschland. Toni Kroos läuft zur Ausführung. Joachim Löw erhebt sich von seinem Platz. In Belo Horizonte sind die Auswechselbänke in die Erde eingelassen, Löw verlässt also die Maulwurfsperspektive, als er die drei Stufen erklimmt, um bei der Ausführung der Ecke auf Augenhöhe mit seinen Spielern zu sein. Kroos tritt den Ball, Löws Augen sind weit aufgerissen, seine Lippen zusammengepresst, die Hände in den Hosentaschen verstaut. Während der Ball unterwegs ist, macht der Trainer zwei kleine Schritte. Thomas Müller löst sich von zwei Gegenspielern, macht zwei kleine Schritte nach hinten. Der Ball saust ins Netz, Löws linker Arm saust nach oben. Begleitet von einem Urschrei. Und einer Ahnung? Löws linker Arm saust nach vorne, ein Mal, zwei Mal, sieben Mal. Wir haben nachgezählt. Wenig später ballt Löw die linke Hand zu Faust, nur der Daumen bleibt stehen. Gefällt mir. Das 1:0 wird aus Sicht von Löw mit einem Ritual beschlossen, das sich später wiederholen wird: Ein Schluck Wasser aus der Trinkflasche.

Brasilien vs. Deutschland

23. Minute, Miroslav Klose trifft zum 2:0. Es ist ein schönes Tor, ein wichtiges Tor und ein historisches Tor. Klose erzielt seinen 16. Treffer bei einer WM-Endrunde, er ist nun der Fußballer in der Welt, der die meisten WM-Tore erzielt hat. Er ist auch der Fußballer in der Welt, dessen Trainer das Tor nicht gesehen hat. Und das kommt so: Bei der Entstehung des Treffers ist Löw zunächst in einen Monolog mit Hansi Flick vertieft. Der Trainer redet und redet, dann hält er inne. Beim Pass in die Gasse von Kroos auf Müller steht Löw bereits in der Coaching-Zone, bereit zum Jubel. Jetzt lässt Müller für Klose liegen. Klose zieht ab… und Löw wendet sich ab, als Brasiliens Torhüter Julio Cesar den Schuss pariert. So sieht Löw nicht, dass der Ball zurück zu Klose springt und der Stürmer im zweiten Versuch erfolgreich ist. Hansi Flick ist aufmerksamer, er bleibt bei der Aktion, sieht, wie der Ball ins Tor geht. Flick rennt im Jubel in seinen Chef hinein, die Kollision ist weder heftig noch schmerzhaft. Jetzt wird Löw klar, was geschehen ist. Seine Freude ist diesmal dennoch verhaltener, vielleicht weil er das Tor nicht gesehen hat. Die Gesten sind zurückgenommen, Löw macht "low five" mit Nationalmannschaftsarzt Tim Meyer, dann klatscht er sich mit Roman Weidenfeller und Lukas Podolski ab. Dann geht er zurück zu seinem Platz, nimmt einen Schluck aus der Trinkfasche und setzt sich wieder hin.

Das 3:0 nimmt Löw wieder mit eigenen Augen wahr. Belo Horizonte, nur zwei Minuten später. Philipp Lahm gibt den Ball nach innen. In der Mitte steht Thomas Müller frei. Löw erhebt sich. Müllert es schon wieder? Nein, Müller ist so frei und senst neben den Ball. Löws Mundwinkel zucken kurz, diesmal aber bleibt er der Szene und der Zukunft zugewandt. So sieht er, wie das Spielgerät in den Lauf von Kroos rollt. Kroos hält mit links voll drauf, Cesar berührt den Ball noch, den Einschlag verhindern kann er nicht. Auf der deutschen Bank ähneln sich die Bilder mit denen der jüngeren Vergangenheit. Der Trainer jubelt, diesmal mit beiden Armen, es folgen erneut das Abklatschen mit Weidenfeller und Podolski und der Schluck aus der Trinkflasche. Routine?

Beim 4:0 jubelt Löw schon nicht mehr. Als Toni Kroos in der 26. Minute im Mittelfeld den Ball erobert und nach einem Doppelpass mit Sami Khedira aus kurzer Distanz einschiebt, tigert Löw unschlüssig in seiner Coaching-Zone umher. Um ihn herum explodiert die Euphorie, der Coach wird rechts und links von Spielern der weltbesten Bank überholt, die sich mit den Aktiven auf dem Platz zu einem Knäuel vereinen. Löw freut sich, aber nicht äußerlich. Sogar den Schluck aus der Trinkflasche vergisst diesmal. Vier Tore gegen Brasilien – keine Routine. Das Coaching vergisst er nicht. "Bastian", ruft er, Schweinsteiger folgt und kommt zum Dialog mit dem Trainer an den Spielfeldrand. Löw richtet ein paar Worte an seinen emotionalen Leader. Seine Gesten sagen, was auch sein Mund formuliert: Ruhig bleiben, nicht überdrehen, nicht nachlässig werden. Dann geht Löw wieder zu seinem Platz, 4:0, Flick hat richtig mitgezählt und schlägt ihm vier Mal auf die Schulter.

29. Minute, wieder ein Doppelpass, aber andere Protagonisten. Diesmal bedient Özil Khedira, das Resultat ist dasselbe: Tor für Deutschland. 5:0. Willkommen im Wahnsinn. Und auf der Bank? Zeigt Löw eine neue Variante des zurückgenommenen Jubels. Diesmal in der Ausführung mit beiden Armen, die parallel und ruckartig nach oben gefahren werden. Gefolgt vom wiederholten Ballen der linken Hand zur Faust. Löw ist jetzt wieder in der Spur, auch das Ritual mit dem Schluck aus der Trinkflasche wird wieder aufgenommen. Ein Schluck, dann nimmt Löw wieder Platz. Bereit zum nächsten Jubel.

Halbzeit.

Halbzeit zwei. Brasilien rennt noch einmal verzweifelt an, kommt zu Chancen und scheitert am weltbesten Manuel Neuer, der auch der weltbeste Torwart ist. Es dauert bis zur 69. Minute, ehe der Blick auf Löw wieder lohnt. Auf dem Spielfeld bedient Philipp Lahm den eingewechselten André Schürrle, 6:0 Deutschland, das halbe Dutzend ist voll. Jetzt huscht zum ersten Mal ein Lachen über das Gesicht des Bundestrainers. Löw nimmt zum sechsten Mal vor, während oder nach einem Tor die drei Stufen zum Spielfeldrand, dann eine halbe Drehung, dann ein langezogenes "Jaaaaaaa", dann das Abklatschen mit Flick. Löw wirkt nun ein wenig abwesend, die Umarmung von Andi Köpke lässt er widerstandslos über sich ergehen. Vieles an ihm sagt, dass auch er Mühe hat, zu verarbeiten, was seine Augen sehen.

79. Minute, längst hat sich das Stadion erhoben, längst feiern auch die Brasilianer mit dem deutschen Spiel den schönen Fußball. Die Seleção ist zerlegt, das DFB-Team zelebriert das schöne Spiel. Der Ball kommt über Müller zu Schürrle. Das Spielgerät ist schwer zu verarbeiten, halbhoch. Schürrle nimmt es in vollen Lauf mit in den Strafraum und zieht aus spitzem Winkel ab. Der Ball saust über den Kopf von Cesar hinweg und in der kurzen Ecke ins Tor. Des Trainers Reaktion? Diesmal erhebt Löw sich nicht, dafür gibt es für seine Mundwinkel kein Halten mehr. Tatsächlich, der Bundestrainer lacht, gelöst, befreit, aber auch und immer noch: ungläubig. Schließlich folgt Löw seinen Mundwinkeln. Der Trainer steht auf. Andi Köpke steht jetzt bei ihm und ihm in leichter Stunde bei. Löw flüstert seinem Torwarttrainer etwas ins Ohr. Köpke zeigt mit dem Finger in Richtung der Anzeigetafel. Da steht es, es ist wahr, alles es ist real. Deutschland 7, Brasilien 0. Kein kleiner Schritt für eine Mannschaft, ein großer Schritt für ein großes Team. Trainerperspektive – Ende.

In Belo Horizonte hatte die deutsche Nationalmannschaft den Himmel gesehen. Selten waren alle Superlative so berechtigt, wie nach diesem Spiel. Wenn Bundestrainer Joachim Löw seine schönsten Erinnerungen an die WM in Brasilien nennen soll, spricht er noch heute über die Rückreise nach dem Halbfinale. Wie die Brasilianer noch nachts am Straßenrand standen und den Deutschen zujubelten, wie er den Respekt in ihren Augen erkannte, wie die Achtung vor der Leistung des Gegners noch größer war als die Enttäuschung über das Spiel der Seleção. So war es ja schon im Stadion gewesen. Vier Tore binnen sechs Minuten, am Ende ein epochales 7:1. Und eine gelbe Wand, die sich erhob, Fußballfans, die nicht die eigene Mannschaft sondern den schönen Fußball feierten. Niemand, der dabei sein durfte, wird diese Bilder vergessen, Löw war dabei, und er wird diese Bilder nicht vergessen.

Ebenso wenig wie die der Rückfahrt auf dem Weg von Porto Seguro ins Campo Bahia. "Ein Höhepunkt in meiner Laufbahn war nach dem Brasilien-Spiel", nennt Löw diese Minuten. "Es standen tausende Brasilianer auf der Straße und haben der Mannschaft Beifall geklatscht. Das war etwas Faszinierendes." Deutschland hatte das Herz Brasiliens gebrochen und sich zugleich endgültig ins Herz der Brasilianer gespielt.

[sl]

Sieben Spiele zum Glück. Es begann in Salvador mit einem Traum, es endete in Rio mit dem Weltmeistertitel. DFB.de lässt die sieben deutschen Spiele der WM noch einmal Revue passieren und erzählt ihre Geschichten. Auf dem Platz und daneben. Heute: Bundestrainer Joachim Löw und die sieben Tore von Belo Horizonte.

Zahlen und Fußball? Klar: 90 Minuten, zwei Mal 45. 11 Meter, 16-Meter-Raum, 5-Meter-Raum, 3 Punkte, 1 Remis. Alle möglichen Zahlen haben unmittelbare Verknüpfungen mit dem Fußball, diese nicht: Sieben. Assoziationen mit dieser Zahl? Die glorreichen Sieben, sieben auf einen Streich, der siebte Sinn. Rudi Carrell hat die verflixte 7 präsentiert, es gibt die sieben Todsünden und einen gleichnamigen Film mit Morgan Freeman. Dem Fußball lässt sich über die sieben nur schwer nähern, über Umwege gelingt dies bei wissenschaftlicher Betrachtung: Die Sieben ist die niedrigste Generatorzahl in der Menge der natürlichen Zahlen, ein Tor ist also dabei, immerhin.

Das alles galt bis zum 8. Juli 2014. Seither ist die Zahl Sieben untrennbar mit Belo Horizonte, mit der deutschen Nationalmannschaft und der WM in Brasilien verknüpft. Die Sieben benennt die Anzahl der Stiche, die der Seleção versetzt wurden, oder positiv und aus Sicht der deutschen Nationalmannschaft: die glorreichen Sieben sind künftig auch die sieben Tore, mit denen das DFB-Team im WM-Halbfinale Geschichte geschrieben hat.

Es waren epochale 90 Minuten in Belo Horizonte, ein Spiel, das mindestens für den Fußball in Brasilien eine Zäsur bilden wird. Das Unfassbare zu fassen vermochte niemand. Nach der Partie wurde viel geschrieben, viel geredet und viel analysiert. Eine Zeitung in Deutschland formulierte wunderbar und treffend, dass der deutsche Fußball nun seine Mondlandungsfrage habe: Wo warst Du, als Deutschland im WM Halbfinale gegen Brasilien mit 7:1 gewonnen hat? Bei einem Deutschen können 80 Millionen Deutsche diese Frage mit Gewissheit beantworten. Wo soll Joachim Löw schon gewesen sein - in Belo Horizonte, im Stadion, auf, neben und vor der Trainerbank.

Die sieben Tore aus Sicht des Bundestrainers:

11. Minute, Ecke Deutschland. Toni Kroos läuft zur Ausführung. Joachim Löw erhebt sich von seinem Platz. In Belo Horizonte sind die Auswechselbänke in die Erde eingelassen, Löw verlässt also die Maulwurfsperspektive, als er die drei Stufen erklimmt, um bei der Ausführung der Ecke auf Augenhöhe mit seinen Spielern zu sein. Kroos tritt den Ball, Löws Augen sind weit aufgerissen, seine Lippen zusammengepresst, die Hände in den Hosentaschen verstaut. Während der Ball unterwegs ist, macht der Trainer zwei kleine Schritte. Thomas Müller löst sich von zwei Gegenspielern, macht zwei kleine Schritte nach hinten. Der Ball saust ins Netz, Löws linker Arm saust nach oben. Begleitet von einem Urschrei. Und einer Ahnung? Löws linker Arm saust nach vorne, ein Mal, zwei Mal, sieben Mal. Wir haben nachgezählt. Wenig später ballt Löw die linke Hand zu Faust, nur der Daumen bleibt stehen. Gefällt mir. Das 1:0 wird aus Sicht von Löw mit einem Ritual beschlossen, das sich später wiederholen wird: Ein Schluck Wasser aus der Trinkflasche.

Brasilien vs. Deutschland

23. Minute, Miroslav Klose trifft zum 2:0. Es ist ein schönes Tor, ein wichtiges Tor und ein historisches Tor. Klose erzielt seinen 16. Treffer bei einer WM-Endrunde, er ist nun der Fußballer in der Welt, der die meisten WM-Tore erzielt hat. Er ist auch der Fußballer in der Welt, dessen Trainer das Tor nicht gesehen hat. Und das kommt so: Bei der Entstehung des Treffers ist Löw zunächst in einen Monolog mit Hansi Flick vertieft. Der Trainer redet und redet, dann hält er inne. Beim Pass in die Gasse von Kroos auf Müller steht Löw bereits in der Coaching-Zone, bereit zum Jubel. Jetzt lässt Müller für Klose liegen. Klose zieht ab… und Löw wendet sich ab, als Brasiliens Torhüter Julio Cesar den Schuss pariert. So sieht Löw nicht, dass der Ball zurück zu Klose springt und der Stürmer im zweiten Versuch erfolgreich ist. Hansi Flick ist aufmerksamer, er bleibt bei der Aktion, sieht, wie der Ball ins Tor geht. Flick rennt im Jubel in seinen Chef hinein, die Kollision ist weder heftig noch schmerzhaft. Jetzt wird Löw klar, was geschehen ist. Seine Freude ist diesmal dennoch verhaltener, vielleicht weil er das Tor nicht gesehen hat. Die Gesten sind zurückgenommen, Löw macht "low five" mit Nationalmannschaftsarzt Tim Meyer, dann klatscht er sich mit Roman Weidenfeller und Lukas Podolski ab. Dann geht er zurück zu seinem Platz, nimmt einen Schluck aus der Trinkfasche und setzt sich wieder hin.

Das 3:0 nimmt Löw wieder mit eigenen Augen wahr. Belo Horizonte, nur zwei Minuten später. Philipp Lahm gibt den Ball nach innen. In der Mitte steht Thomas Müller frei. Löw erhebt sich. Müllert es schon wieder? Nein, Müller ist so frei und senst neben den Ball. Löws Mundwinkel zucken kurz, diesmal aber bleibt er der Szene und der Zukunft zugewandt. So sieht er, wie das Spielgerät in den Lauf von Kroos rollt. Kroos hält mit links voll drauf, Cesar berührt den Ball noch, den Einschlag verhindern kann er nicht. Auf der deutschen Bank ähneln sich die Bilder mit denen der jüngeren Vergangenheit. Der Trainer jubelt, diesmal mit beiden Armen, es folgen erneut das Abklatschen mit Weidenfeller und Podolski und der Schluck aus der Trinkflasche. Routine?

Beim 4:0 jubelt Löw schon nicht mehr. Als Toni Kroos in der 26. Minute im Mittelfeld den Ball erobert und nach einem Doppelpass mit Sami Khedira aus kurzer Distanz einschiebt, tigert Löw unschlüssig in seiner Coaching-Zone umher. Um ihn herum explodiert die Euphorie, der Coach wird rechts und links von Spielern der weltbesten Bank überholt, die sich mit den Aktiven auf dem Platz zu einem Knäuel vereinen. Löw freut sich, aber nicht äußerlich. Sogar den Schluck aus der Trinkflasche vergisst diesmal. Vier Tore gegen Brasilien – keine Routine. Das Coaching vergisst er nicht. "Bastian", ruft er, Schweinsteiger folgt und kommt zum Dialog mit dem Trainer an den Spielfeldrand. Löw richtet ein paar Worte an seinen emotionalen Leader. Seine Gesten sagen, was auch sein Mund formuliert: Ruhig bleiben, nicht überdrehen, nicht nachlässig werden. Dann geht Löw wieder zu seinem Platz, 4:0, Flick hat richtig mitgezählt und schlägt ihm vier Mal auf die Schulter.

29. Minute, wieder ein Doppelpass, aber andere Protagonisten. Diesmal bedient Özil Khedira, das Resultat ist dasselbe: Tor für Deutschland. 5:0. Willkommen im Wahnsinn. Und auf der Bank? Zeigt Löw eine neue Variante des zurückgenommenen Jubels. Diesmal in der Ausführung mit beiden Armen, die parallel und ruckartig nach oben gefahren werden. Gefolgt vom wiederholten Ballen der linken Hand zur Faust. Löw ist jetzt wieder in der Spur, auch das Ritual mit dem Schluck aus der Trinkflasche wird wieder aufgenommen. Ein Schluck, dann nimmt Löw wieder Platz. Bereit zum nächsten Jubel.

Halbzeit.

Halbzeit zwei. Brasilien rennt noch einmal verzweifelt an, kommt zu Chancen und scheitert am weltbesten Manuel Neuer, der auch der weltbeste Torwart ist. Es dauert bis zur 69. Minute, ehe der Blick auf Löw wieder lohnt. Auf dem Spielfeld bedient Philipp Lahm den eingewechselten André Schürrle, 6:0 Deutschland, das halbe Dutzend ist voll. Jetzt huscht zum ersten Mal ein Lachen über das Gesicht des Bundestrainers. Löw nimmt zum sechsten Mal vor, während oder nach einem Tor die drei Stufen zum Spielfeldrand, dann eine halbe Drehung, dann ein langezogenes "Jaaaaaaa", dann das Abklatschen mit Flick. Löw wirkt nun ein wenig abwesend, die Umarmung von Andi Köpke lässt er widerstandslos über sich ergehen. Vieles an ihm sagt, dass auch er Mühe hat, zu verarbeiten, was seine Augen sehen.

79. Minute, längst hat sich das Stadion erhoben, längst feiern auch die Brasilianer mit dem deutschen Spiel den schönen Fußball. Die Seleção ist zerlegt, das DFB-Team zelebriert das schöne Spiel. Der Ball kommt über Müller zu Schürrle. Das Spielgerät ist schwer zu verarbeiten, halbhoch. Schürrle nimmt es in vollen Lauf mit in den Strafraum und zieht aus spitzem Winkel ab. Der Ball saust über den Kopf von Cesar hinweg und in der kurzen Ecke ins Tor. Des Trainers Reaktion? Diesmal erhebt Löw sich nicht, dafür gibt es für seine Mundwinkel kein Halten mehr. Tatsächlich, der Bundestrainer lacht, gelöst, befreit, aber auch und immer noch: ungläubig. Schließlich folgt Löw seinen Mundwinkeln. Der Trainer steht auf. Andi Köpke steht jetzt bei ihm und ihm in leichter Stunde bei. Löw flüstert seinem Torwarttrainer etwas ins Ohr. Köpke zeigt mit dem Finger in Richtung der Anzeigetafel. Da steht es, es ist wahr, alles es ist real. Deutschland 7, Brasilien 0. Kein kleiner Schritt für eine Mannschaft, ein großer Schritt für ein großes Team. Trainerperspektive – Ende.

In Belo Horizonte hatte die deutsche Nationalmannschaft den Himmel gesehen. Selten waren alle Superlative so berechtigt, wie nach diesem Spiel. Wenn Bundestrainer Joachim Löw seine schönsten Erinnerungen an die WM in Brasilien nennen soll, spricht er noch heute über die Rückreise nach dem Halbfinale. Wie die Brasilianer noch nachts am Straßenrand standen und den Deutschen zujubelten, wie er den Respekt in ihren Augen erkannte, wie die Achtung vor der Leistung des Gegners noch größer war als die Enttäuschung über das Spiel der Seleção. So war es ja schon im Stadion gewesen. Vier Tore binnen sechs Minuten, am Ende ein epochales 7:1. Und eine gelbe Wand, die sich erhob, Fußballfans, die nicht die eigene Mannschaft sondern den schönen Fußball feierten. Niemand, der dabei sein durfte, wird diese Bilder vergessen, Löw war dabei, und er wird diese Bilder nicht vergessen.

Ebenso wenig wie die der Rückfahrt auf dem Weg von Porto Seguro ins Campo Bahia. "Ein Höhepunkt in meiner Laufbahn war nach dem Brasilien-Spiel", nennt Löw diese Minuten. "Es standen tausende Brasilianer auf der Straße und haben der Mannschaft Beifall geklatscht. Das war etwas Faszinierendes." Deutschland hatte das Herz Brasiliens gebrochen und sich zugleich endgültig ins Herz der Brasilianer gespielt.