Joachim Löw: "Gefühl wird immer Teil unserer Leben sein"

Am heutigen Donnerstag treffen sich Spieler und Betreuer*innen der Weltmeistermannschaft von 2014 auf Einladung des DFB in Frankfurt. Seit dem Titel sind zehn Jahre vergangen, die Erinnerung bei den Protagonisten ist noch präsent. Für DFB.de blickt Weltmeistertrainer Joachim Löw zurück auf das Halbfinale und das Finale der WM in Brasilien.

So etwas erlebt man nur einmal. Mit diesem Ergebnis, in diesem Land, gegen diesen Gegner, mit dieser Art und Weise. Die Halbfinals großer Turniere sind in der Regel hart umkämpft und spannend bis zum Schluss. Dieses Halbfinale war auch dramatisch, aber eben auf eine ganz andere Art.

"Die Atmosphäre war gigantisch"

Der Fokus meiner Spieler war mehr als beeindruckend, sie haben sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Nicht im Spiel und auch nicht durch die Ereignisse im Vorfeld. Als wir am Tag vor dem Spiel in Belo Horizonte ankamen, gab es große Aufregung. Beim Abendessen kam der Verdacht auf, dass uns etwas ins Essen getan wurde. Zum Glück hat sich das nicht bestätigt. In der Nacht dann wurde es laut. Vor unserem Hotel wurden Raketen und Böller gezündet. Es war ein schönes Spektakel, zwei, drei Stunden lang war an Schlaf nicht zu denken.

Doch als wir uns am Morgen zum Frühstück trafen, war nichts davon ein Thema. Niemand hat darüber gesprochen, kein Wort wurde dazu verloren. Für das Spiel am Abend gab mir das große Zuversicht. In den Gesprächen mit den Spielern hatte ich den Eindruck, dass sie das alles gar nicht interessiert, sie hat nur interessiert, dass sie dieses Spiel gewinnen und ins Finale einziehen. Alles andere haben sie ausgeblendet.

Als die Brasilianer am Abend ins Stadion in Belo Horizonte liefen und als ihre Hymne erklang, war die Atmosphäre gigantisch, es war innbrünstig, laut, es war vehement. Auch die Brasilianer hatten einen riesigen Willen, eine große Klarheit. Vor dem Spiel hatte Trainer Luiz Felipe Scolari in der Pressekonferenz keine Zweifel gelassen. Er hat nicht gesagt, wir wollen gewinnen, hat er hat gesagt: "Wir werden gewinnen." Es sei sicher, hat er gesagt, "wir kommen nach Maracana, wir kommen ins Finale, wir gewinnen dieses Spiel".

"... die sind einfach richtig schlecht"

Wenn ich über das Spiel gegen Brasilien schreibe, muss und will ich Urs Siegenthaler nennen. Urs hat Brasilien vor dem Turnier ein paar Mal gesehen und er hat sie auch während der WM beobachtet. Nach dem Viertelfinale der Brasilianer gegen Chile kam er noch einmal zu mir und fasste zusammen, was ihm aufgefallen ist.

Wir gingen am Strand vor dem Campo Bahia spazieren, an seine Worte erinnere ich mich genau. Brasilien sei "grottenschlecht" in der Defensive, hat Urs gesagt. Von dieser Einschätzung hat er sich auch durch mein mehrmaliges Nachfragen nicht abbringen lassen. Urs war sich ganz sicher: So schlecht, wie die aktuelle Selecao, habe eine brasilianische Nationalmannschaft noch nie verteidigt.

Ich hatte die Mannschaft auch ein paar Mal gesehen und ja, in der Defensive waren sie anfällig. "Die sind nicht anfällig", hat Urs gesagt, "die sind einfach richtig schlecht." Seine Beobachtung war, dass die Außenverteidiger permanent vorne stehen, dass auch David Luiz häufig ungesichert aufrückt und es dadurch riesige Lücken gibt. Dass die Gegner der Brasilianer das noch nicht ausnutzen konnten, hat Urs auf zwei Faktoren zurückgeführt: Glück auf der einen Seite und fehlende Konsequenz auf der anderen Seite. Urs hat gesagt, dass Brasilien sich dieser Schwäche bewusst sei und ihr Defensivkonzept im Wesentlichen darin bestehe, nach Ballverlusten sofort zu foulen und das Spiel zu unterbrechen. Sie hätten nicht die Ambition, Zweikämpfe zu führen und den Ball zurückzugewinnen, für sie gehe es nur darum, das Spiel zu unterbinden.

"In diesem Spiel ging alles auf"

So haben wir die Mannschaft vorbereitet. Wir haben den Spielern die vielen Räume gezeigt, die wir bespielen können und ihnen auch gesagt, wie sie das machen müssen. Es ging darum, sich blitzschnell zu lösen und den Brasilianern nach Ballgewinn nicht die Möglichkeit zu geben, zu foulen. Es ging darum, auf den Beinen zu bleiben, die Fouls nicht anzunehmen. Es ging darum, minimale Ballkontaktzeiten zu haben und sofort in die Räume zu starten. Es ging um den Automatismus, sich nach Ballgewinn blitzschnell in vollem Tempo nach vorne zu lösen.

Manchmal gehen Matchpläne auf, manchmal auch nicht. In diesem Spiel ging alles auf. Brasilien hatte in den ersten Minuten eine unglaubliche Wucht, aber das war nicht überraschend. Uns war klar, dass wir die ersten fünf, zehn Minuten irgendwie überstehen mussten. Diese Wucht und diesen Drang der Brasilianer wollten wir für uns nutzen. Wir haben den Spielern gesagt, wenn sie so kommen, genau dann gibt es für uns Räume. Und: Sie kamen - es gab Räume – wir haben sie genutzt.

Das 1:0 ist aus einem Eckball resultiert, das hat uns natürlich in die Karten gespielt. Brasilien hat danach aber einfach weitergemacht - blind nach vorne. Beim 2:0, 3:0 und 4:0 waren es genau solche Situationen, die wir vorher beobachtet und den Spielern gezeigt hatten. Wie am Reißbrett. Es war, wie Urs es prophezeit hatte: Wenn die Brasilianer nach Ballverlust nicht sofort Zugriff bekommen, dann ist es für sie im Grunde zu spät. Dann hatten sie hinten nur noch die beiden Innenverteidiger - und wir hatten die Qualität, unsere Überzahl auszuspielen. Die Tore zwei, drei, vier und fünf fielen innerhalb von sechs Minuten, es war unwirklich, unfassbar.

"... dann spielt er im Finale nicht"

Trotzdem: Die Situation war gefährlich. In der Halbzeit bin ich so deutlich geworden wie selten zuvor. Ich habe den Spielern gedroht: Wer nicht seriös weiterspielt, der spielt das Finale nicht. Mir ging es um zwei Aspekte: Respekt vor dem Gegner und vor der großen Fußballnation Brasilien, Kunststücke und Aktionen für die Galerie wollte ich nicht sehen. Respekt aber nicht nur vor der Tradition, sondern auch vor der Gegenwart und unserer Situation. Das 4:4 gegen Schweden wirkte in mir noch nach. Gegen Schweden hatten wir vier Tore in 30 Minuten kassiert. Und jetzt spielten wir in Brasilien gegen Brasilien.

Ich konnte fast hören, was Scolari seinen Spielern in der Kabine in der Halbzeit sagen würde: 'Abhaken, die erste Halbzeit ist verloren, weiter gehts. Wir haben nichts mehr zu verlieren, wir haben keinen Druck mehr, der Druck ist jetzt bei den Deutschen. Wenn wir in den ersten zehn Minuten ein Tor machen, dann kann alles noch kippen. Dann werden sie nervös.'

Ich bin sicher, dass Scolari seinen Spielern gesagt hat, dass sie die fünf Tore vergessen sollen. 'Wir müssen nicht fünf Tore schießen', wird Scolari gesagt haben, 'das Stadion hilft uns. Wenn wir kurz vor Ende zwei Tore hinten sind, dann reicht das. Dann kocht das Stadion, dann fangen die Deutschen an, nachzudenken und irgendwann können sie dem Druck nicht mehr standhalten.'

Deswegen war ich energisch in der Halbzeit. Ich habe gesagt: "Leute, ich beobachte das. Wenn einer anfängt, den Gegner lächerlich zu machen und uns damit in Schwierigkeiten bringt, dann spielt er das Finale nicht. Egal, wer das ist."

"Ich war sehr stolz auf die Mannschaft"

7:1, das klingt deutlich, es ist auch deutlich. Es war aber so, dass Brasilien kurz nach dem Seitenwechsel zwei, drei gute Möglichkeiten hatte. Wir hatten zum Glück Manu, der immer zur Stelle war. So haben wir auch diese Phase überstanden und das Spiel dann, genau wie wir es wollten, seriös zu Ende gespielt.

Was noch wichtiger war: Wir waren faire Gewinner, so wie die Brasilianer auch faire Verlierer waren. Nach dem Spiel gab es bei uns keine Überheblichkeit, keine Arroganz, es gab nur Respekt, Anstand und Empathie. Einige unserer Spieler hatten ähnliche Empfindungen und Gedanken, wie ich sie hatte. In mir kam die Erinnerung an die WM 2006 auf. Das Gefühl, wie es ist, ein WM-Halbfinale im eigenen Land zu verlieren, kannten wir. Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Per Mertesacker, Lukas Podolski und Miro Klose standen 2006 in Dortmund gegen Italien auf dem Rasen, sie wussten, wie hart es ist, wenn ein Traum stirbt.

Ein WM-Finale zu erreichen - und das noch im eigenen Land - mehr geht nicht. Und es geht nicht schlimmer, als wenn dieser Traum zu Ende geht. Die Empfindungen der Brasilianer konnten wir nachvollziehen, wir wussten, was sich in ihren Köpfen und Herzen abspielt. Ich war an diesem Abend sehr stolz auf die Mannschaft und auf meine Spieler – fast noch mehr als auf das Sportliche darauf, wie sie sich in der Stunde des Sieges gegeben haben.

"Reaktion der Brasilianer hat mich berührt und tief bewegt"

Die Rückreise in dieser Nacht ins Campo Bahia gehört zu den schönsten Erlebnissen meines Trainerlebens und meines Lebens überhaupt. Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich daran denke. 7:1, dass man ein Spiel auch auf eine solche Art und Weise gewinnt, war etwas, dass ich mir noch irgendwie hatte vorstellen können. Unvorstellbar war die Reaktion der Brasilianer. Nach dem Flug nach Salvador sind wir durch die Nacht und in den Morgen hinein mit dem Bus die Küste entlang ins Campo Bahia gefahren. Und der Wegesrand war gesäumt von Menschen in gelb, grün und blau, von Fans der Selecao. Frauen, Kinder und Männer standen dort. Und was haben diese Menschen, die gerade mit dem 1:7 einen gewaltigen Schlag zu verarbeiten hatten, gemacht? Es gab keine Feindseligkeit, keine Aggressivität – wir wurden gefeiert.

'Germania, Germania', haben sie gerufen. Ich räume ein, dass ich etwas anderes erwartet hatte. Ich hatte Wut und Zorn erwartet, und ich hätte das nachvollziehen können. Immerhin hatten wir den Brasilianern gerade die wohl größte Niederlage ihrer Geschichte zugefügt, Buhrufe und Pfiffe hätte ich niemanden verübeln können. Heute tut mir diese Einschätzung leid. Diese Reaktion der Brasilianer hat mich berührt und tief bewegt. Ich finde: Sie trifft auch eine Aussage über Charakter und Mentalität der Brasilianer. Sie war aber auch eine Reaktion darauf, dass wir faire Gewinner waren. Unsere Gesten nach dem Spiel hatten Wirkung. Bastian Schweinsteiger und Thomas Müller haben sich um Dante gekümmert, Miro Klose war bei Luiz Gustavo, ich habe Felipe Scolari in den Arm genommen. Wir haben während des Spiels viel richtig gemacht - und nach dem Spiel genauso.

Beim Applaus durch die Brasilianer in dieser Nacht hat auch unsere Art des Fußballs eine Rolle gespielt. Als deutsche Nationalmannschaft hatten wir eine größere Akzeptanz als noch die Mannschaften der 80er-Jahre oder der um die Jahrtausendwende. Deutschland stand damals für Kampf, Willen und Effizienz und nicht für 'das schöne Spiel', das der Fußball für die Brasilianer ist. 2014 waren wir eine fußballerisch starke Mannschaft, die auf technisch hohem Niveau agierte. Unsere Spielkultur, Fußballer wie Özil und Kroos, das waren Spieler, für die sich auch Brasilianer begeistern konnten. Es kamen viele Aspekte zusammen, die in Summe dazu führten, dass wir durch ein Meer an Applaus zurück in unser Basecamp gefahren sind.

"Ein Angstgegner war Argentinien für uns nicht"

Für uns hieß es dann, Abschied vom Campo Bahia zu nehmen. Wir kehrten nach Rio zurück, wo wir schon beim 1:0-Sieg im Viertelfinale gegen Frankreich gespielt hatten. Im Finale ging es gegen Argentinien und damit in der Rückschau irgendwie gegen den logischen Gegner. Schon zwei Mal zuvor standen sich diese beiden Nationen im WM-Finale gegenüber, und auch bei meinem und unserem Weg mit der Nationalmannschaft war Argentinien neben Spanien die Mannschaft, die uns am meisten und stärksten gefordert hatte.

Bei der WM 2010 in Südafrika hatten wir gegen sie ein überragendes Spiel gemacht, fast alles hat funktioniert, fast alles ist aufgegangen. Arne weiß, wie ich das meine, aber: Wenn selbst Arne Friedrich ein Tor erzielt, dann muss es ein besonderer Tag gewesen sein. Wir waren voll im Flow und auf dem höchsten Level was Konzentration, Laufleistung, Spielfreude, Klarheit, Wachheit, Zweikampfhärte betrifft.

Argentinien hatte eine richtig starke Mannschaft, mit vielen gefährlichen Offensivspielern, auch mit einer Kompaktheit und auch mit individueller Klasse in der Defensive. Schon bei der WM 2006 hatten wir gegen sie gewonnen, aber damals waren sie noch die bessere Mannschaft, unser Sieg im Viertelfinale war glücklich. 2010 war es anders. Wir waren aufsässig, stark im Spiel nach vorne, überzeugt von uns und unseren Fähigkeiten – das hatte Wirkung auf Argentinien. In jeglicher Hinsicht waren wir ihnen überlegen: läuferisch, spielerisch, kämpferisch. Damit haben wir Argentinien Minute um Minute mehr demoralisiert. Für das WM-Finale 2014 hieß das nicht viel, aber immerhin: Wir wussten, dass wir sie schlagen können, ein Angstgegner war Argentinien für uns nicht.

"Und dann kommt der Mario in so ein Finale rein..."

Die Intensität eines WM-Finales ist schwer zu greifen und noch schwerer zu beschreiben. Ich war die ganze Zeit positiv, das kann ich sagen. Meine Mannschaft und meine Spieler haben ausgestrahlt, dass sie wussten, dass ihre Zeit gekommen ist. Wir waren einen langen Weg gegangen, hatten Rückschläge verkraftet, waren gemein gewachsen und zusammengewachsen und immer besser geworden. Ich war sehr optimistisch, dass wir nicht an uns selbst scheitern, dass wir das Finale nicht deswegen verlieren würden, weil wir unser Limit nicht erreichen. Argentinien, das war mir klar, würde besser Fußball spielen müssen als wir. Und ich wusste, dass sie das normalerweise nicht können.

Vor dem Spiel war für uns die Frage: Spielt Mario oder spielt Miro? Wir haben gegrübelt, welche Konstellation erfolgversprechender ist. Wir standen vor einem WM-Finale, es war klar, dass uns Knochenarbeit erwarten würde, unglaubliche Widerstände. Wir mussten abwägen: Ist Miro jemand, der, wenn er kommt und frisch ist, für einen müder werdenden Gegner nicht zu halten ist? Oder ist es für uns besser, wenn Miro von Beginn an spielt und den Gegner fordert. Für diese Variante haben wir uns dann entschieden.

Wir wussten, dass die Verteidiger von Beginn an unter Druck sein würden, wenn Miro spielt. Dass sie viel arbeiten müssen und dass es auch in ihren Köpfen arbeiten wird. Es löst etwas in den Gegenspielern aus, wenn sie wissen, dass der beste Torschütze der WM-Geschichte auf dem Platz steht. Miro müssen immer zwei in Schach halten, auf Miro muss man in jeder Sekunde aufpassen. Das kostet Nerven und Kraft und macht dem Gegner Stress. Unser Kalkül war: 'Und dann kommt der Mario in so ein Finale rein, ist frisch und trifft auf ausgelaugte Gegenspieler, die sich auf seine Art erst einstellen müssen.'

"Schweini, der alles und mehr von sich gegeben hat"

Die Dramaturgie des Finals kann man sich nicht ausdenken. Sami Khedira kann ich nicht genug nicht loben. Es gehört sehr viel dazu, sich einzugestehen, dass es nicht geht und auf ein WM-Finale zu verzichten. Wer seinen Ehrgeiz kennt, der weiß, wie schwer ihm dies gefallen sein muss. Er hat für die Mannschaft gehandelt und seine Interessen nach hinten geschoben. Sein Beispiel ist das wohl eindrucksvollste von vielen, die für den besonderen Geist in dieser Mannschaft stehen und die sich während der WM 2014 ereignet haben.

Mit dem Ausfall von Khedira hatte das Spiel schon vor dem Anpfiff eine Wendung bekommen. Nach dem Anpfiff kamen weitere hinzu. Die Partie war ausgeglichen, aber, das muss man zugegen, Argentinien hatte zunächst die besseren Chancen. Gonzalo Higuain hatte mehrfach das 1:0 auf dem Fuß, und hätte ihm ein anderer Torwart als Manuel Neuer gegenüberstanden, mindestens eine der Chancen hätte er genutzt. Wir haben eine Weile benötigt, um ins Spiel zu finden, natürlich auch wegen der Gehirnerschütterung von Christoph Kramer, die uns dazu zwang, schon früh zu tauschen.

Je länger das Spiel ging, desto besser haben wir hineingefunden und die Härte der Argentinier angenommen. Bastian Schweinsteiger war schon vor diesem Spiel groß, in diesem Spiel ist er noch einmal gewachsen. Basti war vor der WM einige Wochen verletzt, er ging angeschlagen ins Turnier. Im Laufe der WM ist er immer stärker und immer wichtiger geworden. Im Finale hat er das Spiel seines Lebens gemacht. Allen voran bei ihm hat man gespürt, dass er alles, was er an Energie hat, in dieses eine Spiel geben will.

Er war 2006 dabei, 2010, 2012, immer war es knapp, nie hat es gereicht. Diesen großen Titel wollte er jetzt mit jeder Faser. Er war unser emotionaler Leader, nie war das spürbarer als an diesem Abend. Gegen Argentinien war er unfassbar gut. Seine läuferische Leistung, seine Haltung, seine Ausstrahlung - alles bei ihm war extrem. Die Organisation, wie er sich in die Zweikämpfe geworfen hat, im wichtigsten Spiel seiner Karriere hat er sein bestes Spiel gemacht. Dass er sich dann auch noch diese Platzwunde zugezogen hat, war fast wie gemalt. Es sind ikonische Bilder entstanden, Schweini der Krieger, der Kämpfer, der alles und mehr von sich gegeben hat.

"Das Tor ist ein Kunstwerk"

In den 90 Minuten der regulären Spielzeit gab es auf beiden Seiten einige Chance, richtig zwingend wurde keine von ihnen. So ging es torlos in die Verlängerung, das Drama spitzte sich zu. Für die Verlängerung hatten wir Mario Götze eingewechselt, das, was ich zu ihm in diesem Augenblick gesagt habe, war spontan. Messi war damals der beste Spieler der Welt. Viele waren sicher, dass er das Spiel entscheiden wird. Ich war sicher, dass wir dies verhindern und dass unser Moment gekommen ist.

Deswegen habe ich zu Mario gesagt, dass er der Welt zeigen soll, dass er besser ist und dass er dieses Spiel entscheiden wird. Sein Moment kam in der 113. Minute, Toni Kroos schickte André Schürrle auf der linken Seite und dann kam: Geschichte. Götze macht ihn. Und wie er ihn machte. Das Tor ist ein Kunstwerk, unglaublich anspruchsvoll, es war ein Treffer, den so nur ganz wenige Fußballer zu Stande bringen. Mario gehörte dazu. Und es passte, dass die Flanke von Schü kam, seinem Kumpel, dessen Leistungen bei diesem Turnier und in diesem Spiel manchmal zu wenig gewürdigt werden.

Wenn ich hier einzelne Spieler lobe, dann können sich alle angesprochen fühlen. Zu diesem Titel hat der ganze Kader beigetragen, es gab nicht einen Spieler, der seine Rolle nicht grandios erfüllt hätte. Die Stimmung in der Mannschaft, das Niveau im Training, die Energie auf der Bank, auch die Kompetenz und die Hingabe im Betreuerteam – all das war wesentlich, nichts davon kann aus dieser Geschichte entfernt werden.

"Der Schlusspfiff war vielleicht der schönste Moment überhaupt"

Das Glücksgefühl, das einen unmittelbar nach dem Schlusspfiff durchströmt, lässt sich kaum beschreiben. Der Schlusspfiff war vielleicht der schönste Moment überhaupt. Die Sekunde, in der ich so richtig realisierte, dass das Spiel zu Ende ist, war, als mir Andy Köpke und Oliver Bierhoff und Hansi Flick und einige andere um den Hals gefallen sind. Da habe ich gewusst: 'Jetzt sind wir Weltmeister, jetzt kann uns das keiner mehr nehmen.'

In diesen Sekunden spürte ich eine unglaubliche, eine unbeschreibliche Freude. Alles, was danach kam, die Zeremonie, die Pokalübergabe, das läuft irgendwie an einem vorbei. Man weiß dann gar nicht, mit wem man sich umarmt, mit wem man sich unterhält, wer einem alles gratuliert und wem man gratuliert.

In der Nacht nach dem Finale habe ich schnell gemerkt, dass ich platt und unendlich müde bin. Wenn mich früher jemand gefragt hätte, wie ich mich nach einem WM-Titel verhalte, wäre meine Prognose eine zweitägige Feier gewesen. Aber ich war durch, völlig hinüber. Die Feier konnte ich nicht richtig genießen. Vergleichsweise früh habe ich mich verabschiedet und bin ins Bett gegangen. Alle haben mich angeschaut, als wäre ich ein Außerirdischer, niemand konnte glauben, dass ich mich schon zurückziehe. Aber es ging nicht anders. Ich war müde, völlig am Ende, ausgelaugt, ich musste schlafen.

"Das Gefühl, Weltmeister zu sein, war nie intensiver als an diesem Morgen"

Es war einfach sehr anstrengend. Der Tag des Finals und auch alles, was davor war, hat Kraft gekostet, mentale Kraft vor allem. Ich bin dann ins Bett gegangen und fast sofort eingeschlafen. Als ich nach zwei, drei Stunden wieder wach wurde, musste ich mich erst orientieren. Dass wir am Abend zuvor Weltmeister geworden waren, habe ich erst gespürt und dann gewusst.

Ich bin dann runter zum Frühstück und wollte die Ruhe genießen. Aber ich war nicht der Einzige, es waren noch ein paar Spieler vom Vorabend da. Es waren wunderschöne Augenblicke mit den Spielern, dieser Morgen danach war intensiv, innig, es waren Genussmomente. Das Gefühl, Weltmeister zu sein, war nie intensiver als an diesem Morgen und in diesen Stunden. Aber seither ist es immer spürbar, es begleitet mich und uns und wird immer Teil unserer Leben sein.

[dfb]

Am heutigen Donnerstag treffen sich Spieler und Betreuer*innen der Weltmeistermannschaft von 2014 auf Einladung des DFB in Frankfurt. Seit dem Titel sind zehn Jahre vergangen, die Erinnerung bei den Protagonisten ist noch präsent. Für DFB.de blickt Weltmeistertrainer Joachim Löw zurück auf das Halbfinale und das Finale der WM in Brasilien.

So etwas erlebt man nur einmal. Mit diesem Ergebnis, in diesem Land, gegen diesen Gegner, mit dieser Art und Weise. Die Halbfinals großer Turniere sind in der Regel hart umkämpft und spannend bis zum Schluss. Dieses Halbfinale war auch dramatisch, aber eben auf eine ganz andere Art.

"Die Atmosphäre war gigantisch"

Der Fokus meiner Spieler war mehr als beeindruckend, sie haben sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Nicht im Spiel und auch nicht durch die Ereignisse im Vorfeld. Als wir am Tag vor dem Spiel in Belo Horizonte ankamen, gab es große Aufregung. Beim Abendessen kam der Verdacht auf, dass uns etwas ins Essen getan wurde. Zum Glück hat sich das nicht bestätigt. In der Nacht dann wurde es laut. Vor unserem Hotel wurden Raketen und Böller gezündet. Es war ein schönes Spektakel, zwei, drei Stunden lang war an Schlaf nicht zu denken.

Doch als wir uns am Morgen zum Frühstück trafen, war nichts davon ein Thema. Niemand hat darüber gesprochen, kein Wort wurde dazu verloren. Für das Spiel am Abend gab mir das große Zuversicht. In den Gesprächen mit den Spielern hatte ich den Eindruck, dass sie das alles gar nicht interessiert, sie hat nur interessiert, dass sie dieses Spiel gewinnen und ins Finale einziehen. Alles andere haben sie ausgeblendet.

Als die Brasilianer am Abend ins Stadion in Belo Horizonte liefen und als ihre Hymne erklang, war die Atmosphäre gigantisch, es war innbrünstig, laut, es war vehement. Auch die Brasilianer hatten einen riesigen Willen, eine große Klarheit. Vor dem Spiel hatte Trainer Luiz Felipe Scolari in der Pressekonferenz keine Zweifel gelassen. Er hat nicht gesagt, wir wollen gewinnen, hat er hat gesagt: "Wir werden gewinnen." Es sei sicher, hat er gesagt, "wir kommen nach Maracana, wir kommen ins Finale, wir gewinnen dieses Spiel".

"... die sind einfach richtig schlecht"

Wenn ich über das Spiel gegen Brasilien schreibe, muss und will ich Urs Siegenthaler nennen. Urs hat Brasilien vor dem Turnier ein paar Mal gesehen und er hat sie auch während der WM beobachtet. Nach dem Viertelfinale der Brasilianer gegen Chile kam er noch einmal zu mir und fasste zusammen, was ihm aufgefallen ist.

Wir gingen am Strand vor dem Campo Bahia spazieren, an seine Worte erinnere ich mich genau. Brasilien sei "grottenschlecht" in der Defensive, hat Urs gesagt. Von dieser Einschätzung hat er sich auch durch mein mehrmaliges Nachfragen nicht abbringen lassen. Urs war sich ganz sicher: So schlecht, wie die aktuelle Selecao, habe eine brasilianische Nationalmannschaft noch nie verteidigt.

Ich hatte die Mannschaft auch ein paar Mal gesehen und ja, in der Defensive waren sie anfällig. "Die sind nicht anfällig", hat Urs gesagt, "die sind einfach richtig schlecht." Seine Beobachtung war, dass die Außenverteidiger permanent vorne stehen, dass auch David Luiz häufig ungesichert aufrückt und es dadurch riesige Lücken gibt. Dass die Gegner der Brasilianer das noch nicht ausnutzen konnten, hat Urs auf zwei Faktoren zurückgeführt: Glück auf der einen Seite und fehlende Konsequenz auf der anderen Seite. Urs hat gesagt, dass Brasilien sich dieser Schwäche bewusst sei und ihr Defensivkonzept im Wesentlichen darin bestehe, nach Ballverlusten sofort zu foulen und das Spiel zu unterbrechen. Sie hätten nicht die Ambition, Zweikämpfe zu führen und den Ball zurückzugewinnen, für sie gehe es nur darum, das Spiel zu unterbinden.

"In diesem Spiel ging alles auf"

So haben wir die Mannschaft vorbereitet. Wir haben den Spielern die vielen Räume gezeigt, die wir bespielen können und ihnen auch gesagt, wie sie das machen müssen. Es ging darum, sich blitzschnell zu lösen und den Brasilianern nach Ballgewinn nicht die Möglichkeit zu geben, zu foulen. Es ging darum, auf den Beinen zu bleiben, die Fouls nicht anzunehmen. Es ging darum, minimale Ballkontaktzeiten zu haben und sofort in die Räume zu starten. Es ging um den Automatismus, sich nach Ballgewinn blitzschnell in vollem Tempo nach vorne zu lösen.

Manchmal gehen Matchpläne auf, manchmal auch nicht. In diesem Spiel ging alles auf. Brasilien hatte in den ersten Minuten eine unglaubliche Wucht, aber das war nicht überraschend. Uns war klar, dass wir die ersten fünf, zehn Minuten irgendwie überstehen mussten. Diese Wucht und diesen Drang der Brasilianer wollten wir für uns nutzen. Wir haben den Spielern gesagt, wenn sie so kommen, genau dann gibt es für uns Räume. Und: Sie kamen - es gab Räume – wir haben sie genutzt.

Das 1:0 ist aus einem Eckball resultiert, das hat uns natürlich in die Karten gespielt. Brasilien hat danach aber einfach weitergemacht - blind nach vorne. Beim 2:0, 3:0 und 4:0 waren es genau solche Situationen, die wir vorher beobachtet und den Spielern gezeigt hatten. Wie am Reißbrett. Es war, wie Urs es prophezeit hatte: Wenn die Brasilianer nach Ballverlust nicht sofort Zugriff bekommen, dann ist es für sie im Grunde zu spät. Dann hatten sie hinten nur noch die beiden Innenverteidiger - und wir hatten die Qualität, unsere Überzahl auszuspielen. Die Tore zwei, drei, vier und fünf fielen innerhalb von sechs Minuten, es war unwirklich, unfassbar.

"... dann spielt er im Finale nicht"

Trotzdem: Die Situation war gefährlich. In der Halbzeit bin ich so deutlich geworden wie selten zuvor. Ich habe den Spielern gedroht: Wer nicht seriös weiterspielt, der spielt das Finale nicht. Mir ging es um zwei Aspekte: Respekt vor dem Gegner und vor der großen Fußballnation Brasilien, Kunststücke und Aktionen für die Galerie wollte ich nicht sehen. Respekt aber nicht nur vor der Tradition, sondern auch vor der Gegenwart und unserer Situation. Das 4:4 gegen Schweden wirkte in mir noch nach. Gegen Schweden hatten wir vier Tore in 30 Minuten kassiert. Und jetzt spielten wir in Brasilien gegen Brasilien.

Ich konnte fast hören, was Scolari seinen Spielern in der Kabine in der Halbzeit sagen würde: 'Abhaken, die erste Halbzeit ist verloren, weiter gehts. Wir haben nichts mehr zu verlieren, wir haben keinen Druck mehr, der Druck ist jetzt bei den Deutschen. Wenn wir in den ersten zehn Minuten ein Tor machen, dann kann alles noch kippen. Dann werden sie nervös.'

Ich bin sicher, dass Scolari seinen Spielern gesagt hat, dass sie die fünf Tore vergessen sollen. 'Wir müssen nicht fünf Tore schießen', wird Scolari gesagt haben, 'das Stadion hilft uns. Wenn wir kurz vor Ende zwei Tore hinten sind, dann reicht das. Dann kocht das Stadion, dann fangen die Deutschen an, nachzudenken und irgendwann können sie dem Druck nicht mehr standhalten.'

Deswegen war ich energisch in der Halbzeit. Ich habe gesagt: "Leute, ich beobachte das. Wenn einer anfängt, den Gegner lächerlich zu machen und uns damit in Schwierigkeiten bringt, dann spielt er das Finale nicht. Egal, wer das ist."

"Ich war sehr stolz auf die Mannschaft"

7:1, das klingt deutlich, es ist auch deutlich. Es war aber so, dass Brasilien kurz nach dem Seitenwechsel zwei, drei gute Möglichkeiten hatte. Wir hatten zum Glück Manu, der immer zur Stelle war. So haben wir auch diese Phase überstanden und das Spiel dann, genau wie wir es wollten, seriös zu Ende gespielt.

Was noch wichtiger war: Wir waren faire Gewinner, so wie die Brasilianer auch faire Verlierer waren. Nach dem Spiel gab es bei uns keine Überheblichkeit, keine Arroganz, es gab nur Respekt, Anstand und Empathie. Einige unserer Spieler hatten ähnliche Empfindungen und Gedanken, wie ich sie hatte. In mir kam die Erinnerung an die WM 2006 auf. Das Gefühl, wie es ist, ein WM-Halbfinale im eigenen Land zu verlieren, kannten wir. Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Per Mertesacker, Lukas Podolski und Miro Klose standen 2006 in Dortmund gegen Italien auf dem Rasen, sie wussten, wie hart es ist, wenn ein Traum stirbt.

Ein WM-Finale zu erreichen - und das noch im eigenen Land - mehr geht nicht. Und es geht nicht schlimmer, als wenn dieser Traum zu Ende geht. Die Empfindungen der Brasilianer konnten wir nachvollziehen, wir wussten, was sich in ihren Köpfen und Herzen abspielt. Ich war an diesem Abend sehr stolz auf die Mannschaft und auf meine Spieler – fast noch mehr als auf das Sportliche darauf, wie sie sich in der Stunde des Sieges gegeben haben.

"Reaktion der Brasilianer hat mich berührt und tief bewegt"

Die Rückreise in dieser Nacht ins Campo Bahia gehört zu den schönsten Erlebnissen meines Trainerlebens und meines Lebens überhaupt. Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich daran denke. 7:1, dass man ein Spiel auch auf eine solche Art und Weise gewinnt, war etwas, dass ich mir noch irgendwie hatte vorstellen können. Unvorstellbar war die Reaktion der Brasilianer. Nach dem Flug nach Salvador sind wir durch die Nacht und in den Morgen hinein mit dem Bus die Küste entlang ins Campo Bahia gefahren. Und der Wegesrand war gesäumt von Menschen in gelb, grün und blau, von Fans der Selecao. Frauen, Kinder und Männer standen dort. Und was haben diese Menschen, die gerade mit dem 1:7 einen gewaltigen Schlag zu verarbeiten hatten, gemacht? Es gab keine Feindseligkeit, keine Aggressivität – wir wurden gefeiert.

'Germania, Germania', haben sie gerufen. Ich räume ein, dass ich etwas anderes erwartet hatte. Ich hatte Wut und Zorn erwartet, und ich hätte das nachvollziehen können. Immerhin hatten wir den Brasilianern gerade die wohl größte Niederlage ihrer Geschichte zugefügt, Buhrufe und Pfiffe hätte ich niemanden verübeln können. Heute tut mir diese Einschätzung leid. Diese Reaktion der Brasilianer hat mich berührt und tief bewegt. Ich finde: Sie trifft auch eine Aussage über Charakter und Mentalität der Brasilianer. Sie war aber auch eine Reaktion darauf, dass wir faire Gewinner waren. Unsere Gesten nach dem Spiel hatten Wirkung. Bastian Schweinsteiger und Thomas Müller haben sich um Dante gekümmert, Miro Klose war bei Luiz Gustavo, ich habe Felipe Scolari in den Arm genommen. Wir haben während des Spiels viel richtig gemacht - und nach dem Spiel genauso.

Beim Applaus durch die Brasilianer in dieser Nacht hat auch unsere Art des Fußballs eine Rolle gespielt. Als deutsche Nationalmannschaft hatten wir eine größere Akzeptanz als noch die Mannschaften der 80er-Jahre oder der um die Jahrtausendwende. Deutschland stand damals für Kampf, Willen und Effizienz und nicht für 'das schöne Spiel', das der Fußball für die Brasilianer ist. 2014 waren wir eine fußballerisch starke Mannschaft, die auf technisch hohem Niveau agierte. Unsere Spielkultur, Fußballer wie Özil und Kroos, das waren Spieler, für die sich auch Brasilianer begeistern konnten. Es kamen viele Aspekte zusammen, die in Summe dazu führten, dass wir durch ein Meer an Applaus zurück in unser Basecamp gefahren sind.

"Ein Angstgegner war Argentinien für uns nicht"

Für uns hieß es dann, Abschied vom Campo Bahia zu nehmen. Wir kehrten nach Rio zurück, wo wir schon beim 1:0-Sieg im Viertelfinale gegen Frankreich gespielt hatten. Im Finale ging es gegen Argentinien und damit in der Rückschau irgendwie gegen den logischen Gegner. Schon zwei Mal zuvor standen sich diese beiden Nationen im WM-Finale gegenüber, und auch bei meinem und unserem Weg mit der Nationalmannschaft war Argentinien neben Spanien die Mannschaft, die uns am meisten und stärksten gefordert hatte.

Bei der WM 2010 in Südafrika hatten wir gegen sie ein überragendes Spiel gemacht, fast alles hat funktioniert, fast alles ist aufgegangen. Arne weiß, wie ich das meine, aber: Wenn selbst Arne Friedrich ein Tor erzielt, dann muss es ein besonderer Tag gewesen sein. Wir waren voll im Flow und auf dem höchsten Level was Konzentration, Laufleistung, Spielfreude, Klarheit, Wachheit, Zweikampfhärte betrifft.

Argentinien hatte eine richtig starke Mannschaft, mit vielen gefährlichen Offensivspielern, auch mit einer Kompaktheit und auch mit individueller Klasse in der Defensive. Schon bei der WM 2006 hatten wir gegen sie gewonnen, aber damals waren sie noch die bessere Mannschaft, unser Sieg im Viertelfinale war glücklich. 2010 war es anders. Wir waren aufsässig, stark im Spiel nach vorne, überzeugt von uns und unseren Fähigkeiten – das hatte Wirkung auf Argentinien. In jeglicher Hinsicht waren wir ihnen überlegen: läuferisch, spielerisch, kämpferisch. Damit haben wir Argentinien Minute um Minute mehr demoralisiert. Für das WM-Finale 2014 hieß das nicht viel, aber immerhin: Wir wussten, dass wir sie schlagen können, ein Angstgegner war Argentinien für uns nicht.

"Und dann kommt der Mario in so ein Finale rein..."

Die Intensität eines WM-Finales ist schwer zu greifen und noch schwerer zu beschreiben. Ich war die ganze Zeit positiv, das kann ich sagen. Meine Mannschaft und meine Spieler haben ausgestrahlt, dass sie wussten, dass ihre Zeit gekommen ist. Wir waren einen langen Weg gegangen, hatten Rückschläge verkraftet, waren gemein gewachsen und zusammengewachsen und immer besser geworden. Ich war sehr optimistisch, dass wir nicht an uns selbst scheitern, dass wir das Finale nicht deswegen verlieren würden, weil wir unser Limit nicht erreichen. Argentinien, das war mir klar, würde besser Fußball spielen müssen als wir. Und ich wusste, dass sie das normalerweise nicht können.

Vor dem Spiel war für uns die Frage: Spielt Mario oder spielt Miro? Wir haben gegrübelt, welche Konstellation erfolgversprechender ist. Wir standen vor einem WM-Finale, es war klar, dass uns Knochenarbeit erwarten würde, unglaubliche Widerstände. Wir mussten abwägen: Ist Miro jemand, der, wenn er kommt und frisch ist, für einen müder werdenden Gegner nicht zu halten ist? Oder ist es für uns besser, wenn Miro von Beginn an spielt und den Gegner fordert. Für diese Variante haben wir uns dann entschieden.

Wir wussten, dass die Verteidiger von Beginn an unter Druck sein würden, wenn Miro spielt. Dass sie viel arbeiten müssen und dass es auch in ihren Köpfen arbeiten wird. Es löst etwas in den Gegenspielern aus, wenn sie wissen, dass der beste Torschütze der WM-Geschichte auf dem Platz steht. Miro müssen immer zwei in Schach halten, auf Miro muss man in jeder Sekunde aufpassen. Das kostet Nerven und Kraft und macht dem Gegner Stress. Unser Kalkül war: 'Und dann kommt der Mario in so ein Finale rein, ist frisch und trifft auf ausgelaugte Gegenspieler, die sich auf seine Art erst einstellen müssen.'

"Schweini, der alles und mehr von sich gegeben hat"

Die Dramaturgie des Finals kann man sich nicht ausdenken. Sami Khedira kann ich nicht genug nicht loben. Es gehört sehr viel dazu, sich einzugestehen, dass es nicht geht und auf ein WM-Finale zu verzichten. Wer seinen Ehrgeiz kennt, der weiß, wie schwer ihm dies gefallen sein muss. Er hat für die Mannschaft gehandelt und seine Interessen nach hinten geschoben. Sein Beispiel ist das wohl eindrucksvollste von vielen, die für den besonderen Geist in dieser Mannschaft stehen und die sich während der WM 2014 ereignet haben.

Mit dem Ausfall von Khedira hatte das Spiel schon vor dem Anpfiff eine Wendung bekommen. Nach dem Anpfiff kamen weitere hinzu. Die Partie war ausgeglichen, aber, das muss man zugegen, Argentinien hatte zunächst die besseren Chancen. Gonzalo Higuain hatte mehrfach das 1:0 auf dem Fuß, und hätte ihm ein anderer Torwart als Manuel Neuer gegenüberstanden, mindestens eine der Chancen hätte er genutzt. Wir haben eine Weile benötigt, um ins Spiel zu finden, natürlich auch wegen der Gehirnerschütterung von Christoph Kramer, die uns dazu zwang, schon früh zu tauschen.

Je länger das Spiel ging, desto besser haben wir hineingefunden und die Härte der Argentinier angenommen. Bastian Schweinsteiger war schon vor diesem Spiel groß, in diesem Spiel ist er noch einmal gewachsen. Basti war vor der WM einige Wochen verletzt, er ging angeschlagen ins Turnier. Im Laufe der WM ist er immer stärker und immer wichtiger geworden. Im Finale hat er das Spiel seines Lebens gemacht. Allen voran bei ihm hat man gespürt, dass er alles, was er an Energie hat, in dieses eine Spiel geben will.

Er war 2006 dabei, 2010, 2012, immer war es knapp, nie hat es gereicht. Diesen großen Titel wollte er jetzt mit jeder Faser. Er war unser emotionaler Leader, nie war das spürbarer als an diesem Abend. Gegen Argentinien war er unfassbar gut. Seine läuferische Leistung, seine Haltung, seine Ausstrahlung - alles bei ihm war extrem. Die Organisation, wie er sich in die Zweikämpfe geworfen hat, im wichtigsten Spiel seiner Karriere hat er sein bestes Spiel gemacht. Dass er sich dann auch noch diese Platzwunde zugezogen hat, war fast wie gemalt. Es sind ikonische Bilder entstanden, Schweini der Krieger, der Kämpfer, der alles und mehr von sich gegeben hat.

"Das Tor ist ein Kunstwerk"

In den 90 Minuten der regulären Spielzeit gab es auf beiden Seiten einige Chance, richtig zwingend wurde keine von ihnen. So ging es torlos in die Verlängerung, das Drama spitzte sich zu. Für die Verlängerung hatten wir Mario Götze eingewechselt, das, was ich zu ihm in diesem Augenblick gesagt habe, war spontan. Messi war damals der beste Spieler der Welt. Viele waren sicher, dass er das Spiel entscheiden wird. Ich war sicher, dass wir dies verhindern und dass unser Moment gekommen ist.

Deswegen habe ich zu Mario gesagt, dass er der Welt zeigen soll, dass er besser ist und dass er dieses Spiel entscheiden wird. Sein Moment kam in der 113. Minute, Toni Kroos schickte André Schürrle auf der linken Seite und dann kam: Geschichte. Götze macht ihn. Und wie er ihn machte. Das Tor ist ein Kunstwerk, unglaublich anspruchsvoll, es war ein Treffer, den so nur ganz wenige Fußballer zu Stande bringen. Mario gehörte dazu. Und es passte, dass die Flanke von Schü kam, seinem Kumpel, dessen Leistungen bei diesem Turnier und in diesem Spiel manchmal zu wenig gewürdigt werden.

Wenn ich hier einzelne Spieler lobe, dann können sich alle angesprochen fühlen. Zu diesem Titel hat der ganze Kader beigetragen, es gab nicht einen Spieler, der seine Rolle nicht grandios erfüllt hätte. Die Stimmung in der Mannschaft, das Niveau im Training, die Energie auf der Bank, auch die Kompetenz und die Hingabe im Betreuerteam – all das war wesentlich, nichts davon kann aus dieser Geschichte entfernt werden.

"Der Schlusspfiff war vielleicht der schönste Moment überhaupt"

Das Glücksgefühl, das einen unmittelbar nach dem Schlusspfiff durchströmt, lässt sich kaum beschreiben. Der Schlusspfiff war vielleicht der schönste Moment überhaupt. Die Sekunde, in der ich so richtig realisierte, dass das Spiel zu Ende ist, war, als mir Andy Köpke und Oliver Bierhoff und Hansi Flick und einige andere um den Hals gefallen sind. Da habe ich gewusst: 'Jetzt sind wir Weltmeister, jetzt kann uns das keiner mehr nehmen.'

In diesen Sekunden spürte ich eine unglaubliche, eine unbeschreibliche Freude. Alles, was danach kam, die Zeremonie, die Pokalübergabe, das läuft irgendwie an einem vorbei. Man weiß dann gar nicht, mit wem man sich umarmt, mit wem man sich unterhält, wer einem alles gratuliert und wem man gratuliert.

In der Nacht nach dem Finale habe ich schnell gemerkt, dass ich platt und unendlich müde bin. Wenn mich früher jemand gefragt hätte, wie ich mich nach einem WM-Titel verhalte, wäre meine Prognose eine zweitägige Feier gewesen. Aber ich war durch, völlig hinüber. Die Feier konnte ich nicht richtig genießen. Vergleichsweise früh habe ich mich verabschiedet und bin ins Bett gegangen. Alle haben mich angeschaut, als wäre ich ein Außerirdischer, niemand konnte glauben, dass ich mich schon zurückziehe. Aber es ging nicht anders. Ich war müde, völlig am Ende, ausgelaugt, ich musste schlafen.

"Das Gefühl, Weltmeister zu sein, war nie intensiver als an diesem Morgen"

Es war einfach sehr anstrengend. Der Tag des Finals und auch alles, was davor war, hat Kraft gekostet, mentale Kraft vor allem. Ich bin dann ins Bett gegangen und fast sofort eingeschlafen. Als ich nach zwei, drei Stunden wieder wach wurde, musste ich mich erst orientieren. Dass wir am Abend zuvor Weltmeister geworden waren, habe ich erst gespürt und dann gewusst.

Ich bin dann runter zum Frühstück und wollte die Ruhe genießen. Aber ich war nicht der Einzige, es waren noch ein paar Spieler vom Vorabend da. Es waren wunderschöne Augenblicke mit den Spielern, dieser Morgen danach war intensiv, innig, es waren Genussmomente. Das Gefühl, Weltmeister zu sein, war nie intensiver als an diesem Morgen und in diesen Stunden. Aber seither ist es immer spürbar, es begleitet mich und uns und wird immer Teil unserer Leben sein.

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