Historie: Klassiker mit Anlaufschwierigkeiten

Zum siebten Mal treffen Deutschland und Argentinien bei WM-Endrunden aufeinander, nur gegen Jugoslawien/Serbien gab es mehr Duelle. Der Historiker Udo Muras blickt für DFB.de zurück auf die WM-Geschichte des Klassikers.

WM 1958: Deutschland - Argentinien 3:1 (Vorrunde)

Das erste Aufeinandertreffen war das Auftaktspiel zur Fußball-WM 1958 in Schweden. Es war zugleich das erste Länderspiel überhaupt zwischen den Kontrahenten und so herrschte im Vorfeld beiderseits Ungewissheit. Argentinien galt als Turnierfavorit, Deutschland zumindest noch als Mitfavorit, immerhin war die DFB-Auswahl Titelverteidiger.

Doch von den Berner Helden waren nur noch vier Spieler am Start und den berühmtesten raubte die Nervosität vor diesem Spiel den Schlaf: Schon um halb fünf war Fritz Walter an jenem 8. Juni 1958 im Trainingscamp in Bjärred erwacht, während Zimmergenosse Helmut Rahn selig weiterschlummerte. Sepp Herberger persönlich weckte seine Weltmeister und gemeinsam freuten sie sich, dass es nach Fritz-Walter-Wetter aussah. Ein bewölkter Himmel kam dem nunmehr 37 Jahre alten Regisseur gelegen nach den ersten Hitze-Tagen auf schwedischem Boden. Als sie am frühen Abend in Malmö im Stadion ankamen, war es dann doch noch drückend schwül geworden. Böse Vorzeichen für den abergläubischen Fritz.

Ehe es Punkt sieben losging, mussten die Argentinier nach Losentscheid noch die Trikots wechseln. Denn es war ein Fernsehspiel und die blau-weiß gestreiften Dresse ähnelten den weißen der Deutschen zu sehr. Jedenfalls für Schwarz-Weiß-Zuschauer – und wer war das nicht anno 1958? Also schlüpften die Gauchos in gelbe Trikots von Malmö FF.

Darin schienen sie sich nicht unwohl zu fühlen, jedenfalls gingen sie bereits nach 150 Sekunden in Führung. Erich Juskowiak hatte seinen Gegenspieler Corbatta aus den Augen verloren und der überlistete Fritz Herkenrath im deutschen Tor mit einem Schuss in die kurze Ecke. Helmut Rahn fiel in der Folge zwei Mal über den Ball und Fritz Walter führte aus Wut über seine eigene Leistung Selbstgespräche: "Wenn es nicht besser wird mit dir, dann hast du heute gleich zwei Spiele hier absolviert: das erste und das letzte!", will er sich kritisiert haben. So steht es zumindest in seinem Buch zur WM 1958 und der Titel "So war es" erlaubt keinerlei Zweifel.

Unbestritten ist auch, was dann folgte: der vielbesungene deutsche Kampfgeist. Noch vor der Pause gelingt Helmut Rahn der Ausgleich mit einem satten Linksschuss, der bei den Argentiniern Wirkung zeigt. Denn es kam noch schlimmer für sie: Über Hans Schäfer und Alfred "Aki" Schmidt gelangte der Ball zu WM-Debütant Uwe Seeler und der Hamburger drückte ihn im Spreizschritt über die Linie – 2:1 in der 43. Minute.

So ging es in die Pause, die deutschen Fans feierten ihr neues Idol in "Uwe"-Sprechchören. Auch Herberger war zufrieden: "Macht nur weiter so." Und so geschah es. Nach einem weiteren Rahn-Treffer in der 81. Minute gab es keine Zweifel mehr – diesmal überwand er Torwart Carizzo mit rechts zum 3:1.

WM 1966: Deutschland - Argentinien 0:0 (Vorrunde)

Das zweite Treffen war wieder ein WM-Gruppenspiel, am 16. Juli 1966 vor 45.000 Zuschauern in Birmingham. "Es war böser Fußball im Aston Villa-Park", schrieb Die Welt nach dem 0:0. "Torchancen kamen so selten vor wie Walfische im Rhein", witzelte die Zeitung weiter in Anspielung auf die Tatsache, dass sich im Mai tatsächlich ein weißer Wal in den Rhein verirrt hatte. Immerhin zwei Mal landete der Ball an der Latte, doch waren es jeweils Beinahe-Eigentore der Argentinier.

Keine Tore, viele Fouls und ein Platzverweis für Argentiniens Jorge Albrecht nach einem Foul am Kölner Wolfgang Weber – das war die Bilanz von Birmingham. 32 Fouls wurden gezählt, Argentinien "gewann" mit 21:11 in dieser Disziplin. "Franz Beckenbauer hat sich zum Schluss nicht mehr in die Offensive getraut, sie hatten alle Angst", beklagte Bundestrainer Helmut Schön die rustikale Spielweise des Gegners. Der bekannte Journalist Joe Viellvoye schrieb in der Sport-Illustrierten: "Für Pampas-Stiere ist in Fußball-Stadien kein Platz, jedenfalls nicht in europäischen. Es ist der deutschen Elf anzukreiden, dass sie gegen den dezimierten Gegner auch nicht besser aussah als zuvor. Allzu zögernd steckte sie den Kopf aus dem Betonbunker."

WM 1986: Deutschland - Argentinien 2:3 (Finale)

Der Klassiker hatte ohne Frage einen schweren Start. Zwanzig Jahre vergingen, während denen beide Länder ein Mal Weltmeister wurden. Dann sahen sie sich endlich wieder, als es am 29. Juni 1986 wieder um die Krone des Fußballs ging – im WM-Finale zu Mexico City.

Die Argentinier waren regelrecht hineingestürmt in dieses Endspiel, der Ballvirtuose Diego Maradona erzielte im Viertel- und Halbfinale alle vier Treffer und stand auf dem Zenit seines Könnens. In seinem Schatten standen Top-Leute wie Valdano und Burruchaga, auf der Bank saß Carlos Bilardo. Deutschland wurde vom als Trainer noch unerfahrenen Franz Beckenbauer in dieses Spiel geführt.

Es war die Zeit, als man mit deutschen Tugenden ins Finale kommen konnte. Und für die standen Männer wie Ditmar Jakobs und Norbert Eder, die Beckenbauer überraschend zu WM-Teilnehmern gemacht hatte. Kapitän Karl-Heinz Rummenigge, während des ganzen Turniers verletzt, war ein Schatten seiner selbst. In Mexiko hatte der Weltklassestürmer bis dato noch nicht getroffen. Auf der Fahrt ins Stadion munterte ihn Ersatzkeeper Eike Immel auf: "Kalle, ich habe geträumt, dass Du ein Tor machst."

Der gegenseitige Respekt war riesig. Jorge Valdano hat Jahre später dem Spiegel erzählt, was in der Kabine der Argentinier vor dem Anpfiff geschah: "Es herrschte Totenstille. Plötzlich begann Maradona laut nach seiner Mutter zu rufen. 'Tota', so heißt sie, 'Tota komm und hilf mir, ich habe Angst, du musst mich beschützen.' Die Botschaft an uns war: wenn ihr Angst habt, keine Sorge, ich habe auch Angst. Und er war das Genie des Weltfußballs."

Beckenbauer stellte Lothar Matthäus als Sonderbewacher ab für die Nummer zehn Argentiniens und der Münchner machte seine Sache gut. Er gestattete ihm an diesem heißen Sonntag, Anpfiff war um zwölf Uhr mittags, nur einen genialen Moment. Der aber sollte das Spiel entscheiden.

Bis zu jener 85. Minute waren bereits vier Tore gefallen und die Zuschauer abermals Zeuge des deutschen Kampfgeistes geworden. "Ich habe sie nie aufgegeben", feierte sich ZDF-Reporter Rolf Kramer selbst, als tatsächlich Karl-Heinz Rummenigge und der eingewechselte Rudi Völler nach der Pause jeweils nach Brehme-Ecken getroffen hatten. Acht Minuten vor Schluss stand es 2:2. Die Argentinier, die durch Browns Kopfball und Valdanos Konter sich nach 54 Minuten als Weltmeister fühlten, waren am Boden zerstört.

Aber im Überschwang wollten die in grün spielenden Deutschen noch in der regulären Spielzeit den Sieg, rückten zu weit auf und liefen in einen tödlichen Konter. Maradona war es, der Burruchaga auf die Reise schickte, Hans-Peter Briegel hob das Abseits auf und Toni Schumacher, der einen unglücklichen Tag hatte, kam nicht rechtzeitig heraus. "Toni, halt den Ball", flehte Kramer noch ins Mikrofon, doch es war vergebens. Die WM in Mexiko hatte ein würdiges Finale gesehen und einen würdigen Weltmeister bekommen. Franz Beckenbauer bilanzierte: "Ich war an diesem Nachmittag stolz auf die deutsche Mannschaft, von der man so wenig erwartet und die so viel erreicht hatte. Meine Enttäuschung war nur kurz."

Auch die Weltpresse war voll des Lobes. Der englische Guardian schrieb: "Es war ein Höhepunkt, wie ihn der World Cup verdient hat. West-Deutschland kommt der Verdienst zu, ein zeitweise prosaisches Spiel in ein Match verwandelt zu haben, an das man sich erinnern wird."

WM 1990: Deutschland - Argentinien 1:0 (Finale)

Vier Jahre später in Rom kam es zur Revanche. Den ersten Sieg feierten die Deutschen, die auf Grund ihrer Turnierleistungen diesmal Favorit waren, am Tag davor. Im Olympiastadion kamen sie eine halbe Stunde früher als von der Fifa vorgeschrieben zum Training und verjagten die Argentinier, die sich in eine Hälfte zurückzogen. "Ihr habt sie heute verdrängt und so werdet ihr es auch morgen machen", nutzte Teamchef Beckenbauer diesen Vorgang psychologisch.

Am 8. Juli 1990 spielte dann auch nur eine Mannschaft. Im wohl einseitigsten Finale der WM-Historie, man zählte 23:1 Torschüsse pro Deutschland, leistete eine dezimierte argentinische Elf dennoch bis zur 85. Minute erfolgreich Widerstand, ehe ein umstrittener Foulelfmeter durch Andy Brehme die Entscheidung brachte. "Ich hätte lieber 0:4 verloren als durch so einen Elfmeter", schimpfte Diego Maradona, der einige bittere Tränen vergoss und wirre Verschwörungstheorien schmiedete. "Der Schiedsrichter hat alles getan, um die Italiener, seinen Chef, die Fifa und jedermann glücklich zu machen. Etwas war faul. Er hat alles ruiniert, was wir aufgebaut haben", jammerte der entthronte Weltmeister.

Vieles in diesem Finale erinnerte an die Anfänge des Klassikers. Es ging sehr hart zu und mit Monzon und Dezotti flogen zwei Gauchos vom Platz, was ein Novum für ein WM-Finale darstellt. Obwohl es im Finale sozusagen einen Partnerwechsel gab, Guido Buchwald war diesmal für Maradona zuständig und entnervte ihn gewaltig, bekam Matthäus am Ende wieder das Trikot des Rivalen und noch ein zweites, das sich Reservist Frank Mill aus der Kabine abholte.

Ein pikantes Detail am Rande: Matthäus spielte ausgerechnet mit einem Paar Schuhe, das ihm Maradona geschenkt hatte. Am rechten Schuh zerbrach jedoch in der ersten Hälfte die Sohle und auch ein Stollen brach ab. Matthäus musste also in der Pause wechseln und traute sich dann nicht, mit dem neuem Schuh den Elfmeter zu schießen. So hatte auch Maradona seinen Anteil daran, dass Brehme unsterblich wurde an jenem 8. Juli 1990. Wieder war der Kaiser stolz: "Keine andere als die deutsche Mannschaft hätte den WM-Sieg mehr verdient."

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WM 2006: Deutschland - Argentinien 5:3 n.E. (Viertelfinale)

Danach hat es nur noch ein ähnlich bedeutsames Spiel zwischen den Rivalen gegeben, auch dabei spielten Elfmeter eine Rolle. Beim WM-Viertelfinale 2006 in Berlin stand es am 30. Juni nach spannenden 120 Minuten 1:1. Die Tore fielen in der zweiten Spielhälfte: Ayalas 0:1 (49.) hatte Miroslav Klose per Kopf (80.) ausgeglichen. Nach torloser Verlängerung, in der Argentinien noch mal die Latte traf, mussten Elfmeterschützen den Weg ins Halbfinale ebnen.

Der deutsche Keeper Jens Lehmann erhielt von Torwarttrainer Andreas Köpke einen Zettel mit den Vorlieben der argentinischen Schützen und obwohl er die blasse Schrift kaum lesen konnte, parierte er die Schüsse von Ayala und Cambiasso, während alle vier Deutschen trafen (Neuville, Ballack, Podolski, Borowski). Die Bild-Zeitung titelte am 1. Juli 2006: "Unsere Hand Gottes" und zeigte Lehmann in Aktion.

Der Kult-Zettel war dem Energiekonzern EnBW übrigens eine Million Euro wert (zu Gunsten von "Ein Herz für Kinder") und liegt heute im Haus der Geschichte in Bonn. Bundestrainer Jürgen Klinsmann sagte: "Die Gefühle gehen mit einem Gassi. Es sind die zwei besten Mannschaften des Turniers zusammengetroffen. Da tut es weh, wenn in so einem Spiel das Elfmeterschießen entscheiden muss."

WM 2010: Deutschland - Argentinien 4:0 (Viertelfinale)

Beim bisher letzten Duell musste Diego Maradona bis zum bitteren Ende bleiben. Denn im Viertelfinale von Kapstadt am 3. Juli 2010 war er Nationaltrainer der "Celeste" und erlebte seine schwärzeste Stunde. Nach dem 0:4 trat er zurück, während die erstmals von Joachim Löw zu einer WM geführten Nationalmannschaft plötzlich zum Titelfavoriten avancierte. Es war das beste Spiel in Südafrika und eines der fünf besten in der deutschen WM-Historie.

"Danke, ihr Helden", titelte Bild am Sonntag. Ein frühes Tor von Thomas Müller (3.) nach Schweinsteiger-Freistoß bahnte den Weg ins Halbfinale, nach der Pause wurde den Gauchos der Todesstoß versetzt. Auf brillante Art, denn alle Treffer wurden herausgespielt, der Gegner schier gedemütigt. Miroslav Klose traf doppelt, sogar Verteidiger Arne Friedrich schoss ein Tor – sein einziges in 82 Länderspielen. Da jubelte auch die Kanzlerin, die eigens angereist war. Ganz ohne Ärger ging es aber auch nicht ab, nach einem unabsichtlichen Handspiel wurde Thomas Müller verwarnt. Es kostete ihn die Halbfinal-Teilnahme gegen Spanien (0:1). Immer was los bei diesem Klassiker.

Auf zum nächsten Kapitel!