Hans-Dieter Hermann: "Spieler sind keine Maschinen"

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Seit 2004 begleitet der Sportpsychologe Dr. Hans-Dieter Hermann die deutsche Nationalmannschaft. Im Interview mit DFB.de-Redakteur Thomas Hackbarth spricht der 48-jährige, der in der Bundesliga für 1899 Hoffenheim arbeitet, über den Tod von Nationaltorhüter Robert Enke und die emotionale Belastung von Leistungssportlern. Er plädiert für einen offeneren Umgang mit dem Tabuthema "Depressionen" in unserer Gesellschaft.

Frage: Herr Dr. Hermann, die Menschen in Deutschland sind geschockt vom Tod Robert Enkes und stehen fassungslos vor der Frage nach dem Warum. Gibt es darauf überhaupt eine Antwort?

Dr. Hans-Dieter Hermann: Die Frage nach dem 'Warum?' kann niemand verlässlich beantworten. Die Dramatik der Ereignisse lässt jedoch den Schluss zu, dass sich Robert insbesondere in den letzten Tagen in einer für ihn absolut ausweg- und hoffnungslosen Situation befunden haben muss, die zu dieser Unumkehrbarkeit der Abläufe geführt hat.

Frage: Seine Frau Teresa und sein Arzt Dr. Valentin Markser haben darüber berichtet, wie Robert Enke über mehr als fünf Jahre alles daran setzte, seine Erkrankung vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Wie war es möglich, dass sein Zustand bei Hannover 96 und der Nationalmannschaft unerkannt blieb? Warum merkt man so etwas nicht?

Hermann: Depression ist kein einheitliches Krankheitsbild. Dr. Markser und Teresa Enke haben beschrieben, dass Robert in Schüben von Depressionen geplagt war, also nicht permanent. Mit vereinten Kräften haben sie offensichtlich diese schwierigen Phasen überwunden. Wie stark er war, merkt man daran, dass er trotzdem konstant gute Leistungen im Fußball gezeigt hat. Auch im Freundes- und Mannschaftskreis sowie in der Öffentlichkeit wirkte er zwar auch sensibel, aber absolut souverän und auf den Sport bezogen ziel- und leistungsorientiert. An sein Innerstes hat er verständlicherweise nur ganz wenige Menschen herangelassen, letztlich tragischerweise niemanden mehr. Er hat sich offensichtlich vor Jahren eine kaum erkennbare Schutzhülle aufgebaut, mit der er sich abschirmen konnte.

Frage: Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt mit Robert?

Hermann: Das war Anfang September in der Sportschule Barsinghausen. Robert klagte zu dieser Zeit über Erschöpfungssymptome, für die zunächst kein medizinischer Grund gefunden werden konnte. Obwohl es keine konkreten Anhaltspunkte dafür gab, war ich gemeinsam mit unserem Mannschaftsarzt Prof. Tim Meyer der Meinung, dass man auch eine mögliche Depressivität oder gar eine Depression in Betracht ziehen sollte, zumindest müsste ich es abklären. In einem etwa einstündigen Gespräch gab es für mich damals keinerlei Hinweis auf diese Erkrankung. Im Gegenteil, Robert beschrieb sich außerhalb dieser Müdigkeit als privat und sportlich glücklichen Menschen mit klaren Zukunftsideen. Natürlich frage ich mich heute auch wie jeder von uns: Hätte ich hier etwas erkennen können, wenn ich hartnäckiger nachgefragt hätte? Andererseits – was wir aber damals nicht wussten – war er ja in Behandlung und somit bereits in den richtigen Händen.

Frage: Verdrängt unsere Gesellschaft das Thema Depression? Wollen wir alle vor depressiven Menschen die Augen verschließen?

Hermann: Psychiatrische Erkrankungen werden in unserer Gesellschaft stark verdrängt. Noch problematischer ist jedoch, denke ich, dass es ein Stigma gibt für Menschen, die davon betroffen sind. Das führt häufig zu einer Verstärkung der Symptomatik und zu weiteren Problemen. Darauf weisen Psychiater immer wieder hin.

Frage: War die Absage des Länderspiels gegen Chile auch aus Ihrer Sicht die richtige Entscheidung?

Hermann: Absolut! Dr. Zwanziger und Oliver Bierhoff haben auf der Pressekonferenz sehr deutlich gemacht, dass sich die Mannschaft und die Trainer einfach nicht in der Lage gesehen haben, derzeit Unterhaltung zu bieten. Trauer, wie sie auch individuell zum Ausdruck kommt – braucht auch Raum und den hätte man den Spielern und den Trainern genommen. Fußball wiederum benötigt Spaß und eine gesunde Form von Aggressivität. Das wäre nicht leistbar gewesen.

Frage: Lassen Sie uns über Depression und Spitzensport reden. Gibt es im Profifußball Faktoren, die eine depressive Erkrankung fördern können?

Hermann: Profifußballer stehen unter einem hohen Leistungsdruck. Es wird sehr viel von ihnen erwartet und sie erwarten viel von sich. Sind sie besonders erfolgreich, haben sie kaum Verschnaufpausen. Das an sich ist aber in der Regel kein Problem für Spieler, die sich qualifiziert haben, in einer hohen Klasse oder gar in der Nationalmannschaft zu spielen. Der Leistungsdruck per se ist also nicht das Problem. Schwierig wird es für sensible Spieler vor allem dann, wenn sie in der Öffentlichkeit lächerlich gemacht, sie beleidigt werden oder ihnen komplette Unfähigkeit vorgeworfen wird. Das wird umso stärker empfunden, je näher einem die Kritiker sind, also zum Beispiel das eigene Publikum, die heimische Zeitung oder gar Funktionsträger des Vereins.

Frage: Wodurch eine depressive Erkrankung entstehen kann?

Hermann: Nein. Auch das ist kaum als Ursache für eine Depression auszumachen, vielmehr kann sie eine bestehende schwächere Form der Erkrankung verstärken. Die größten Probleme sehe ich aber tatsächlich für depressive, bekannte Sportler darin, dass sie viel Energie dafür aufbringen müssen, den Erfolgreichen und Starken auch dann darstellen zu müssen, wenn sie sich gar nicht danach fühlen. Ich bin seit circa 20 Jahren im Spitzensport tätig, immer wieder habe ich – auch im Profi-Fußball - depressive Menschen erlebt und mit ihnen gearbeitet. Die Anzahl ist höher als die bekannten Fälle, aber nicht so, dass man einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Leistungssport und Depression herstellen könnte. Im Gegenteil, für den Gesundheitsbereich ist moderates Sporttreiben als Therapeutikum anerkannt, und im Leistungssport gibt es meines Wissens prozentual deutlich weniger Fälle als in der Gesamtbevölkerung.

Frage: Was kann ein Psychologe bei der Nationalmannschaft bewirken? Und wo sind Ihrer Tätigkeit Grenzen gesetzt?

Hermann: In erster Linie ist die Sportpsychologie eine Optimierungspsychologie. Es geht darum, dass der Kopf auch mitspielt, um ein vorhandenes Leistungspotenzial individuell und auch als Mannschaft abzurufen. Körperlich, technisch und taktisch gut vorbereitete Spieler können nur dann Leistungen erbringen, wenn die persönliche Steuerzentrale alles gut koordiniert. Dafür gibt es sportpsychologische Trainingsformen. Motivation ist selten ein Thema, denn die Nationalspieler, die ich seit 2004 kennenlernen durfte, sind und waren allesamt maximal motiviert. Ein weiterer wichtiger Bereich meiner Arbeit ist das Teambuilding, durch das sich die Mannschaft auch außerhalb des Platzes als Gemeinschaft mit gegenseitigem Vertrauen entwickeln soll. Dazu kommt, dass ich für alle Seiten auch Ansprechpartner bin für eher klassische psychologische Themen, wie Unsicherheiten und Sorgen, die auch das Private betreffen können. Wäre mir in der Vergangenheit eine psychiatrische Erkrankung bei Spielern bekannt geworden oder aus anderen Gründen eine Psychotherapie nötig gewesen, hätte ich Kontakt zu einem Psychiater oder einem klinischen Kollegen in Wohnortsnähe des Spielers aufgenommen und ihn dorthin übergeben.

Frage: Ist begleitende Sportpsychologie zu sehr auf das Ziel der Leistungssteigerung ausgerichtet? Ist das „immer funktionieren müssen“ eine Qual?

Hermann: Diese Frage muss man sich stellen, wenn man als Psychologe im Leistungssport arbeitet. Schließlich trage ich als Person aber auch durch meine Arbeit Verantwortung für den Menschen hinter dem Sportler, wenn er sich mit persönlichen Problemen an mich wendet. Das ‚immer-funktionieren-müssen’ ist für jeden eine Qual, der sich gerade gar nicht danach fühlt. Egal ob er krank ist, sein Kind krank ist, er einen Verlust verarbeiten muss oder sich die prinzipielle Frage stellt, ob seine berufliche Tätigkeit für ihn überhaupt noch sinnvoll ist. Ich bemühe mich in meiner sportpsychologischen Arbeit sehr darum, nicht einfach psychologisch an der Leistungsschraube zu drehen, sondern unter Berücksichtigung der aktuellen Situation und Befindlichkeit des Sportlers und der anstehenden Aufgabe einen Weg zu finden, der jeweils aktuell gangbar ist. Das kann aber natürlich im Zweifelsfall auch bedeuten, eine Auszeit zu empfehlen.

Frage: Kann der Fußball Rahmenbedingungen oder Einstellungen verändern, um den Druck zu reduzieren?

Hermann: Druckreduzierung? Das sehe ich für erwachsene Profi-Spieler nicht und ich halte es auch für den Leistungsbereich für nicht durchführbar. Leistungssport ist Vergleichssport. Man will besser oder stärker sein als der Andere. Das ist dem ambitionierten Sport immanent. Ich sehe viel mehr zwei andere Ansatzpunkte. Sie betrifft einerseits die Anforderung an Jugendliche in den Leistungszentren und Vereinen. Sie sollten die Möglichkeit haben, persönlich und sportlich zu wachsen. Hier könnte man meines Erachtens ohne Qualitätsverlust mit mehr Geduld Druck reduzieren.

Frage: Und der zweite Ansatzpunkt?

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Hermann: Der andere Bereich betrifft die Einschätzung der Öffentlichkeit, Spieler hätten keine Lust, zu viel Geld oder charakterliche Schwächen, wenn kein gutes Spiel herauskommt oder man verliert. Menschen sind keine Maschinen und auch Profispieler sind Leistungsschwankungen unterworfen, für die man oft keine Gründe findet. Das hat meist nichts mit Motivation oder gar Charakter zu tun. Auch wenn Profispieler teilweise sehr viel Geld verdienen, können sie immer nur das Beste geben, zu dem sie aktuell in der Lage sind. Ich würde mir wünschen, dass die Öffentlichkeit den Spielern – bei aller berechtigten Enttäuschung über eine schwächere Leistung – das Vertrauen gibt, dass sie von der Einstellung her Maximales leisten wollen.

Frage: Was würde es bringen, dass Thema "Depressionen" bei Leistungssportlern zu enttabuisieren?

Hermann: Dass sie im Zweifelsfall weniger Energie für das Versteckspiel brauchen und auch schneller Hilfe bekommen können. Dazu bräuchte man aber mehr als nur ein paar Wenige, die nach außen gehen. Die Angst, stigmatisiert zu werden, ist groß. Manche – wie es auch Teresa Enke für Robert beschrieben hat – fürchten sich existenziell.

Frage: Was planen Sie mit der Mannschaft, um den Tod von Robert Enke zu verarbeiten?

Hermann: Wir saßen am Mittwoch schon mit der Mannschaft zum Gedankenaustausch zusammen und werden dieses Angebot von Seiten der Trainer, des Managers und auch mir, weiter aufrechterhalten. So sind wir mit den Spielern in Bonn verblieben. Auf freiwilliger Basis sollen diejenigen aus der Mannschaft, die ihre Gedanken mitteilen oder ordnen wollen, jederzeit Ansprechpartner finden – bei Bedarf natürlich auch über die gemeinsame Zeit im Kreis der Nationalmannschaft hinaus.

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Seit 2004 begleitet der Sportpsychologe Dr. Hans-Dieter Hermann die deutsche Nationalmannschaft. Im Interview mit DFB.de-Redakteur Thomas Hackbarth spricht der 48-jährige, der in der Bundesliga für 1899 Hoffenheim arbeitet, über den Tod von Nationaltorhüter Robert Enke und die emotionale Belastung von Leistungssportlern. Er plädiert für einen offeneren Umgang mit dem Tabuthema "Depressionen" in unserer Gesellschaft.

Frage: Herr Dr. Hermann, die Menschen in Deutschland sind geschockt vom Tod Robert Enkes und stehen fassungslos vor der Frage nach dem Warum. Gibt es darauf überhaupt eine Antwort?

Dr. Hans-Dieter Hermann: Die Frage nach dem 'Warum?' kann niemand verlässlich beantworten. Die Dramatik der Ereignisse lässt jedoch den Schluss zu, dass sich Robert insbesondere in den letzten Tagen in einer für ihn absolut ausweg- und hoffnungslosen Situation befunden haben muss, die zu dieser Unumkehrbarkeit der Abläufe geführt hat.

Frage: Seine Frau Teresa und sein Arzt Dr. Valentin Markser haben darüber berichtet, wie Robert Enke über mehr als fünf Jahre alles daran setzte, seine Erkrankung vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Wie war es möglich, dass sein Zustand bei Hannover 96 und der Nationalmannschaft unerkannt blieb? Warum merkt man so etwas nicht?

Hermann: Depression ist kein einheitliches Krankheitsbild. Dr. Markser und Teresa Enke haben beschrieben, dass Robert in Schüben von Depressionen geplagt war, also nicht permanent. Mit vereinten Kräften haben sie offensichtlich diese schwierigen Phasen überwunden. Wie stark er war, merkt man daran, dass er trotzdem konstant gute Leistungen im Fußball gezeigt hat. Auch im Freundes- und Mannschaftskreis sowie in der Öffentlichkeit wirkte er zwar auch sensibel, aber absolut souverän und auf den Sport bezogen ziel- und leistungsorientiert. An sein Innerstes hat er verständlicherweise nur ganz wenige Menschen herangelassen, letztlich tragischerweise niemanden mehr. Er hat sich offensichtlich vor Jahren eine kaum erkennbare Schutzhülle aufgebaut, mit der er sich abschirmen konnte.

Frage: Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt mit Robert?

Hermann: Das war Anfang September in der Sportschule Barsinghausen. Robert klagte zu dieser Zeit über Erschöpfungssymptome, für die zunächst kein medizinischer Grund gefunden werden konnte. Obwohl es keine konkreten Anhaltspunkte dafür gab, war ich gemeinsam mit unserem Mannschaftsarzt Prof. Tim Meyer der Meinung, dass man auch eine mögliche Depressivität oder gar eine Depression in Betracht ziehen sollte, zumindest müsste ich es abklären. In einem etwa einstündigen Gespräch gab es für mich damals keinerlei Hinweis auf diese Erkrankung. Im Gegenteil, Robert beschrieb sich außerhalb dieser Müdigkeit als privat und sportlich glücklichen Menschen mit klaren Zukunftsideen. Natürlich frage ich mich heute auch wie jeder von uns: Hätte ich hier etwas erkennen können, wenn ich hartnäckiger nachgefragt hätte? Andererseits – was wir aber damals nicht wussten – war er ja in Behandlung und somit bereits in den richtigen Händen.

Frage: Verdrängt unsere Gesellschaft das Thema Depression? Wollen wir alle vor depressiven Menschen die Augen verschließen?

Hermann: Psychiatrische Erkrankungen werden in unserer Gesellschaft stark verdrängt. Noch problematischer ist jedoch, denke ich, dass es ein Stigma gibt für Menschen, die davon betroffen sind. Das führt häufig zu einer Verstärkung der Symptomatik und zu weiteren Problemen. Darauf weisen Psychiater immer wieder hin.

Frage: War die Absage des Länderspiels gegen Chile auch aus Ihrer Sicht die richtige Entscheidung?

Hermann: Absolut! Dr. Zwanziger und Oliver Bierhoff haben auf der Pressekonferenz sehr deutlich gemacht, dass sich die Mannschaft und die Trainer einfach nicht in der Lage gesehen haben, derzeit Unterhaltung zu bieten. Trauer, wie sie auch individuell zum Ausdruck kommt – braucht auch Raum und den hätte man den Spielern und den Trainern genommen. Fußball wiederum benötigt Spaß und eine gesunde Form von Aggressivität. Das wäre nicht leistbar gewesen.

Frage: Lassen Sie uns über Depression und Spitzensport reden. Gibt es im Profifußball Faktoren, die eine depressive Erkrankung fördern können?

Hermann: Profifußballer stehen unter einem hohen Leistungsdruck. Es wird sehr viel von ihnen erwartet und sie erwarten viel von sich. Sind sie besonders erfolgreich, haben sie kaum Verschnaufpausen. Das an sich ist aber in der Regel kein Problem für Spieler, die sich qualifiziert haben, in einer hohen Klasse oder gar in der Nationalmannschaft zu spielen. Der Leistungsdruck per se ist also nicht das Problem. Schwierig wird es für sensible Spieler vor allem dann, wenn sie in der Öffentlichkeit lächerlich gemacht, sie beleidigt werden oder ihnen komplette Unfähigkeit vorgeworfen wird. Das wird umso stärker empfunden, je näher einem die Kritiker sind, also zum Beispiel das eigene Publikum, die heimische Zeitung oder gar Funktionsträger des Vereins.

Frage: Wodurch eine depressive Erkrankung entstehen kann?

Hermann: Nein. Auch das ist kaum als Ursache für eine Depression auszumachen, vielmehr kann sie eine bestehende schwächere Form der Erkrankung verstärken. Die größten Probleme sehe ich aber tatsächlich für depressive, bekannte Sportler darin, dass sie viel Energie dafür aufbringen müssen, den Erfolgreichen und Starken auch dann darstellen zu müssen, wenn sie sich gar nicht danach fühlen. Ich bin seit circa 20 Jahren im Spitzensport tätig, immer wieder habe ich – auch im Profi-Fußball - depressive Menschen erlebt und mit ihnen gearbeitet. Die Anzahl ist höher als die bekannten Fälle, aber nicht so, dass man einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Leistungssport und Depression herstellen könnte. Im Gegenteil, für den Gesundheitsbereich ist moderates Sporttreiben als Therapeutikum anerkannt, und im Leistungssport gibt es meines Wissens prozentual deutlich weniger Fälle als in der Gesamtbevölkerung.

Frage: Was kann ein Psychologe bei der Nationalmannschaft bewirken? Und wo sind Ihrer Tätigkeit Grenzen gesetzt?

Hermann: In erster Linie ist die Sportpsychologie eine Optimierungspsychologie. Es geht darum, dass der Kopf auch mitspielt, um ein vorhandenes Leistungspotenzial individuell und auch als Mannschaft abzurufen. Körperlich, technisch und taktisch gut vorbereitete Spieler können nur dann Leistungen erbringen, wenn die persönliche Steuerzentrale alles gut koordiniert. Dafür gibt es sportpsychologische Trainingsformen. Motivation ist selten ein Thema, denn die Nationalspieler, die ich seit 2004 kennenlernen durfte, sind und waren allesamt maximal motiviert. Ein weiterer wichtiger Bereich meiner Arbeit ist das Teambuilding, durch das sich die Mannschaft auch außerhalb des Platzes als Gemeinschaft mit gegenseitigem Vertrauen entwickeln soll. Dazu kommt, dass ich für alle Seiten auch Ansprechpartner bin für eher klassische psychologische Themen, wie Unsicherheiten und Sorgen, die auch das Private betreffen können. Wäre mir in der Vergangenheit eine psychiatrische Erkrankung bei Spielern bekannt geworden oder aus anderen Gründen eine Psychotherapie nötig gewesen, hätte ich Kontakt zu einem Psychiater oder einem klinischen Kollegen in Wohnortsnähe des Spielers aufgenommen und ihn dorthin übergeben.

Frage: Ist begleitende Sportpsychologie zu sehr auf das Ziel der Leistungssteigerung ausgerichtet? Ist das „immer funktionieren müssen“ eine Qual?

Hermann: Diese Frage muss man sich stellen, wenn man als Psychologe im Leistungssport arbeitet. Schließlich trage ich als Person aber auch durch meine Arbeit Verantwortung für den Menschen hinter dem Sportler, wenn er sich mit persönlichen Problemen an mich wendet. Das ‚immer-funktionieren-müssen’ ist für jeden eine Qual, der sich gerade gar nicht danach fühlt. Egal ob er krank ist, sein Kind krank ist, er einen Verlust verarbeiten muss oder sich die prinzipielle Frage stellt, ob seine berufliche Tätigkeit für ihn überhaupt noch sinnvoll ist. Ich bemühe mich in meiner sportpsychologischen Arbeit sehr darum, nicht einfach psychologisch an der Leistungsschraube zu drehen, sondern unter Berücksichtigung der aktuellen Situation und Befindlichkeit des Sportlers und der anstehenden Aufgabe einen Weg zu finden, der jeweils aktuell gangbar ist. Das kann aber natürlich im Zweifelsfall auch bedeuten, eine Auszeit zu empfehlen.

Frage: Kann der Fußball Rahmenbedingungen oder Einstellungen verändern, um den Druck zu reduzieren?

Hermann: Druckreduzierung? Das sehe ich für erwachsene Profi-Spieler nicht und ich halte es auch für den Leistungsbereich für nicht durchführbar. Leistungssport ist Vergleichssport. Man will besser oder stärker sein als der Andere. Das ist dem ambitionierten Sport immanent. Ich sehe viel mehr zwei andere Ansatzpunkte. Sie betrifft einerseits die Anforderung an Jugendliche in den Leistungszentren und Vereinen. Sie sollten die Möglichkeit haben, persönlich und sportlich zu wachsen. Hier könnte man meines Erachtens ohne Qualitätsverlust mit mehr Geduld Druck reduzieren.

Frage: Und der zweite Ansatzpunkt?

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Hermann: Der andere Bereich betrifft die Einschätzung der Öffentlichkeit, Spieler hätten keine Lust, zu viel Geld oder charakterliche Schwächen, wenn kein gutes Spiel herauskommt oder man verliert. Menschen sind keine Maschinen und auch Profispieler sind Leistungsschwankungen unterworfen, für die man oft keine Gründe findet. Das hat meist nichts mit Motivation oder gar Charakter zu tun. Auch wenn Profispieler teilweise sehr viel Geld verdienen, können sie immer nur das Beste geben, zu dem sie aktuell in der Lage sind. Ich würde mir wünschen, dass die Öffentlichkeit den Spielern – bei aller berechtigten Enttäuschung über eine schwächere Leistung – das Vertrauen gibt, dass sie von der Einstellung her Maximales leisten wollen.

Frage: Was würde es bringen, dass Thema "Depressionen" bei Leistungssportlern zu enttabuisieren?

Hermann: Dass sie im Zweifelsfall weniger Energie für das Versteckspiel brauchen und auch schneller Hilfe bekommen können. Dazu bräuchte man aber mehr als nur ein paar Wenige, die nach außen gehen. Die Angst, stigmatisiert zu werden, ist groß. Manche – wie es auch Teresa Enke für Robert beschrieben hat – fürchten sich existenziell.

Frage: Was planen Sie mit der Mannschaft, um den Tod von Robert Enke zu verarbeiten?

Hermann: Wir saßen am Mittwoch schon mit der Mannschaft zum Gedankenaustausch zusammen und werden dieses Angebot von Seiten der Trainer, des Managers und auch mir, weiter aufrechterhalten. So sind wir mit den Spielern in Bonn verblieben. Auf freiwilliger Basis sollen diejenigen aus der Mannschaft, die ihre Gedanken mitteilen oder ordnen wollen, jederzeit Ansprechpartner finden – bei Bedarf natürlich auch über die gemeinsame Zeit im Kreis der Nationalmannschaft hinaus.