Deutschlands Weg zum Rekord-Europameister

Obwohl es ein schwerer Anfang war, ist Deutschland mittlerweile bei Europameisterschaften die erfolgreichste Nation. An den ersten drei Turnieren von 1960 bis 1968 nahm der DFB - teils freiwillig, teils unfreiwillig - nicht teil. Seit 1972 dagegen immer und mit drei Titeln und sechs Finalteilnahmen hält er zwei stolze EM-Rekorde. Historiker und Autor Udo Muras skizziert den Weg Deutschlands zum Rekord-Europameister.

Belgien 1972 – als Deutschlands Fußballkunst triumphierte

Die Bundesliga lief noch, als die Nationalmannschaft zwei Spiele vor Saisonschluss mal kurz nach Belgien aufbrach. Belgien war einer von drei potenziellen Gastgebern, neben England und Italien. Hauptbedingung war, dass die Mannschaft des Gastgebers unter den letzten Vier war, größer war die Endrunde 1972 noch nicht. Dass die Engländer es nicht wurden, lag an der DFB-Auswahl, ihrem Gegner im Viertelfinale.

Bundestrainer Helmut Schön hatte in der Kreativzentrale in jenen Tagen ein Luxusproblem: Overath oder Netzer? Diese Frage beschäftigte den "Mann mit der Mütze" über seine halbe Amtszeit. Beide konnten nur Spielmacher sein, auch vom Wesen her, und miteinander ging es bei aller gegenseitigen Sympathie nicht. Das Schicksal nahm Schön die Entscheidung ab, Overath fiel wegen einer Leisten-Operation Anfang 1972 aus.

Auf der Ausfall-Liste für die Spiele gegen England standen zudem Berti Vogts sowie die Schalker Klaus Fichtel und "Stan" Libuda. In der Not setzte Schön auf die Jugend. Die Bayern Paul Breitner (20), Uli Hoeneß (20) und Katsche Schwarzenbeck (22) schlossen die Lücken. Auf englischer Seite standen fünf Weltmeister. Revanche wollten beide – Deutschland für das dritte Tor von 1966, England für das 2:3 von Leon bei der WM 1970.

Die Deutschen trugen Grün an diesem April-Samstag, was anschließend als gutes Omen gelten sollte. Denn in diesem Jersey machten sie eines ihrer besten Länderspiele überhaupt. Die Spielkunst, die die Elf entfaltete, hob sie schlagartig auf den Favoritenschild.

Die Deutschen nahmen im Hinspiel ihr Herz in die Hand und suchten die Entscheidung. Alle Verzagtheit wich mit dem Anpfiff, das Wechselspiel zwischen Beckenbauer und Netzer, von der Bild-Zeitung als "Ramba-Zamba-Fußball" gefeiert, funktionierte traumhaft. Libero und Spielmacher übergaben einander den Taktstock und gaben den jungen Mitspielern Halt. Netzer hat an diesem Tag wohl sein bestes von 37 Länderspielen gemacht und sagt bis heute: "In Wembley waren wir der Perfektion sehr nahe!"

Am verdienten Sieg, zu dem Hoeneß, Netzer und Müller je ein Tor beisteuerten, zweifelte niemand. Groß machte ihn sicherlich die Tatsache, dass es der erste auf englischem Boden war – und dann noch an dem Ort, wo 1966 das mythische dritte Tor gefallen war, das nach deutscher Lesart natürlich keines gewesen ist. Das Wembley-Trauma war noch nicht überwunden mit diesem Triumph, aber leichter zu ertragen allemal. "Der Sieg in Wembley hat den Geist dieser Mannschaft geprägt", sagte Netzer noch Jahrzehnte später.

Beim Rückspiel in Berlin war von Glanz nicht mehr die Rede. Es kam auf das Weiterkommen an, 76.200 Zuschauer warteten im Dauerregen vergeblich auf Tore und freuten sich dennoch: die Endrunde war erreicht. Der Gastgeber stand erst vier Wochen vorher fest: seit dem 13. Mai 1972 wussten die Belgier von ihrem Glück, das sie sich durch das sensationelle Eliminieren der Italiener (0:0 und 2:1) selbst verdient hatten. Auch Ungarn und einmal mehr die Sowjetunion schafften es zur Endrunde. Deutschland traf auf die Belgier, übrigens auch im Hotel, das beide Teams gemeinsam bewohnten.

Dort trennten sie nur zwei Etagen, sportlich waren es Welten. Nachdem Trainer Raymond Goethals am 26. Mai 1972 Augenzeuge des deutschen 4:1-Sieges über die UdSSR anlässlich der Einweihung des Münchner Olympia-Stadions geworden war, sagte er: "Ich habe den europäischen Meister und den Weltmeister 1974 gesehen. Die belgische Mannschaft hat in Antwerpen überhaupt keine Chance."

Er sollte in jedem Punkt Recht bekommen. Die Roten Teufel standen am 14. Juni 1972 jedenfalls auf verlorenem Posten. Die Zeitung La libre Belgique schrieb zuvor pathetisch vom "größten Kampf, den Belgiens Auswahl je zu bestehen hatte". Den wollten offiziell 55.669 Zuschauer in Antwerpen miterleben – die meisten davon in der Hoffnung, den Favoriten stolpern zu sehen. Doch es war die Zeit, in der Gerd Müller nur eine halbe Chance für ein Tor brauchte – jedenfalls wenn er Normalform hatte. Er hatte sie auch auf der "unbespielbaren Steinwüste" des Stade Bosuil, in die sich zumindest Helmut Schön versetzt fühlte.

Der Ball lief auch nicht allzu flüssig beim Starensemble, das wieder Grün trug. Man sprach hinterher von einem Arbeitssieg, den Müller möglich machte. Nach 24 Minuten köpfte "der Bomber der Nation" eine Netzer-Flanke zum 1:0 ein. In der Pause befahl Belgien-Trainer Goethals die "Alles oder nichts"-Taktik - und erntete das Nichts. Weil Sepp Maier alles hielt und Kollege Müller wieder zuschlug (72.).

Der belgische Ehrentreffer von Polleunis änderte nichts an den Fakten. Deutschland stand im Finale gegen die Sowjetunion, die sich zu gleicher Stunde in Brüssel gegen Ungarn mit 1:0 durchsetzte. Für die Organisatoren war das zweite Halbfinale ein Fiasko. Es kamen auch wegen der gleichzeitigen Ansetzung nur 1659 Zuschauer, ein historischer Tiefstwert für ein EM-Endrundenspiel. DFB-Trainer Jupp Derwall war unter ihnen, um den Finalgegner zu beobachten.

Beim Endspiel war das Brüsseler Heysel-Stadion fest in deutscher Hand; rund 40.000 Schlachtenbummler unter den 55.000 machten Stimmung. Kurz vor Abpfiff des Finales musste Sepp Maier einen Anhänger einfangen, der den Sieg schon feiern wollte. Der Sieg, der schon früh fest stand in einem Endspiel, dem es gänzlich an Spannung mangelte. Nach 57 Minuten hieß es 3:0, zwischen zwei Müller-Toren (28., 57.) durfte auch der Gladbacher Herbert Wimmer (52.) einnetzen. "Das Finale war derartig klar und beherrschend, da wirkte bei den Russen noch das 1:4 von München nach", sagte Netzer. Dabei hatte deren Trainer Guljajew am Tag des Finales noch prophezeit: "Wir verlieren bestimmt nicht wieder so hoch." Von Sieg sprach er nicht.

Hinterher überschlug sich die Presse mit Lob für den neuen Europameister. Der Kicker titelte: "Deutschland ist Europas König!" und fand: "Und das erfreulichste daran: die Siege werden vor allem erspielt und erst in zweiter Linie erkämpft. Man kann sich kaum vorstellen, dass eine geschlossenere Leistung möglich ist."

Weil das die ganze Fachwelt so sah, erlebte die vierte EM-Endrunde trotz noch unverkennbarer Mängel in der Organisation (Belgiens Fernsehen brachte beispielsweise keine Live-Übertragungen zustande, nur eine Partie war ausverkauft) ihren ersten sportlichen Höhepunkt. Denn noch immer behaupten viele Experten: einen besseren Europameister hat es nie gegeben! Hier sind die Namen: Sepp Maier – Horst-Dieter Höttges, Franz Beckenbauer, Hans-Georg Schwarzenbeck, Paul Breitner – Uli Hoeneß, Günter Netzer, Herbert Wimmer – Jupp Heynckes, Gerd Müller, Erwin Kremers.

Sechs Bayern, drei Mönchen-gladbacher, ein Bremer und ein Schalker eroberten in jenen Tagen Europa und erhielten den Beifall der ganzen Welt. Zwei Jahre später musste sie wieder applaudieren, als der Kern der Europameister auch Weltmeister wurde. Den EM-Titel konnten sie jedoch nicht verteidigen, 1976 verloren sie gegen die Tschechen im Finale von Belgrad das historisch erste Elfmeterschießen bei einem internationalen Turnier.

1980 – Sieg in Rom

Ein Triumph der Jugend. Am 21. Juni 1977 traf das Exekutivkomitee der UEFA eine folgenschwere Entscheidung, der der Fußball viel zu verdanken hat. Die Europameisterschaft wurde attraktiver, denn die Endrunde sollte nicht länger nur von vier Mannschaften im K.o.-System ausgetragen werden. Konkret wurde beschlossen, dass an der Endrunde im Juni 1980 acht Mannschaften teilnehmen sollten, die in zwei Vierer-Gruppen die Finalisten ermitteln sollten. Dafür gab es keine Halbfinale mehr, womit die bisherigen Endrunden gleich angefangen hatten.

UEFA-Präsident Franchi sagte, für eine solche Veranstaltung käme nur "eine große Fußballnation" in Frage, womit die Schweiz klammheimlich abserviert worden war. Und gegen Deutschland sprach, dass es vor nicht allzu langer Zeit die WM 1974 bekommen hatte. Und so ging die Europameisterschaft in das Land, aus dem der UEFA-Präsident stammte. Das Turnier versprach ja attraktiv zu werden, denn als am 16. Januar 1980 in Rom die Lose gezogen wurden, waren alle großen Namen in der Trommel. Alle bisherigen Weltmeister des Kontinents (Italien, Deutschland, England), der zweimalige Vize-Weltmeister Niederlande, Ex-Europameister Spanien und Titelverteidiger Tschechoslowakei, der nicht automatisch qualifiziert war, hatten es geschafft. Als Exoten ohne besondere Ambitionen wurden Belgien und Griechenland, ein absoluter Turnier-Neuling zur Kenntnis genommen.

Als eine von drei Mannschaften war Deutschland ungeschlagen durch die Mühen der Vorausscheidung gelangt. Aber nicht ohne blaue Augen. Bundes-trainer Jupp Derwall war nach der WM-Enttäuschung 1978, nach der nur sieben Nationalspieler im Kader blieben, zum Umbruch gezwungen. Der forderte seinen Tribut. Im Frühjahr 1979 enttäuschte die Nationalmannschaft mit Nullnummern auf Malta und in der Türkei. Auf Schlüsselpositionen herrschte lange Unklarheit: nach Sepp Maiers Autounfall im Juli 1979 testete Derwall drei Torhüter und erst der Letzte, Toni Schumacher vom 1. FC Köln, machte das Rennen. Mit der "Erfahrung" von drei Länderspielen flog er als neue Nummer eins nach Italien. Der Abwehrchef wurde lange gesucht, auch weil Top-Kandidat Ulli Stielike bei Real Madrid spielte und es keine Verpflichtung zur Freigabe gab. Bis zuletzt hielt Derwall deshalb am Kölner Bernd Cullmann fest, neben Rainer Bonhof der letzte Verbliebene aus dem Weltmeister-Kader von 1974. Rund lief es immer noch nicht und nach dem vorentscheidenden Spiel gegen die Türkei (2:0 in Gelsenkirchen) gab es wieder Pfiffe. Derwall stellte ernüchtert fest: "Wir sind die Favoritenrolle für die EM losgeworden."

Doch im Frühjahr 1980 änderte sich einiges zum Guten. Aus der Not, die durch den Beinbruch von Schalkes Mittelstürmer Klaus Fischer noch größer zu werden schien, machte Derwall eine Jugend. Die Bundesliga produzierte 1979/80 Talente am Fließband. Viele von Derwalls Fixsternen waren unter 25: Vorstopper Karl-Heinz Förster (21), Mittelfeld-Rackerer Hans-Peter Briegel (24), die Spielmacher Bernd Schuster (20) und Hansi Müller (22) sowie die Stürmer Klaus Allofs (23) und Karl-Heinz Rummenigge (24) waren allesamt noch titelhungrig. Geführt wurden sie von den Leitwölfen Bernard Dietz und Ulli Stielike. Selten soll die Kameradschaft in der Nationalmannschaft besser gewesen sein, als in jenen Monaten vor und bei der EM 1980 und das war auch auf dem Platz zu sehen. Nach dem 3:1 im letzten EM-Test über die Polen im Mai attestierte der Kicker auf Seite 1: "Unsere Nationalelf ist für die EM gerüstet."

In einer Umfrage unter den acht EM-Trainern tippten immerhin zwei auf Deutschland. Einen Top-Favoriten gab es nicht. Als der Tross am 9. Juni mit der Lufthansa-Maschine 292 von Frankfurt gen Rom aufbrach, gab es bereits einen ersten Ausfall: Weltmeister Rainer Bonhof musste wegen seiner Achillessehnenverletzung absagen, blieb aber offiziell im Kader. Und als der Kölner Herbert Zimmermann am Morgen des Eröffnungsspiels gegen die Tschechen aufstand, musste er sich gleich wieder hinlegen – der Ischiasnerv meldete sich. Auch er fiel für die EM aus, Derwall blieben nur noch 20 Spieler. Aber von Frust keine Spur in Rom. Auch hier starteten Reporter eine Umfrage: alle Spieler erwarteten die Final-Teilnahme und immerhin zehn den Titel. DFB-Präsident Hermann Neuberger sprach nicht von Titeln, sondern vom Image. "Nach der blamablen WM ist es unsere verdammte Pflicht, in der EM unseren Ruf wieder aufzupolieren."

Das Eröffnungsspiel war dazu freilich nicht geeignet. Gleich zum Auftakt der Gruppe 1, in der sich auch Erzrivale Niederlande und die Griechen befanden, kam es zur Revanche von Belgrad. Das Finale von 1976 war die Eröffnung von 1980 und diesmal boten Deutschen und Tschechen kein Drama, sondern "ein Trauerspiel vor dürftiger Kulisse" (Süddeutsche Zeitung). Die Angst, das erste Spiel zu verlieren, lähmte wie so oft die Beine der Akteure. Zum Glück war der Stuttgarter Hansi Müller in der 55. Minute dennoch zu einem exakten Pass auf Karl-Heinz Rummenigge von Meister Bayern München in der Lage. Vor dem zögerlichen Torwart Netolicka kam der "Kalle", der gerade erstmals Torschützenkönig der Bundesliga geworden war, mit dem Kopf an den Ball. Tor, 1:0 – Sieg.

Doch eine Steigerung tat Not. Das forderte zumindest die Heimat. Jupp Derwall musste nach eigenen Angaben jeden Tag rund 50 Fans am Telefon besänftigen, die die Rezeption auf sein Zimmer durchstellte. Eine TV-Zeitschrift hatte die Telefonnummer veröffentlicht und der joviale Derwall stellte sich den vielen heimlichen Bundestrainern. "Man muss doch reden mit den Leuten." Andere Zeiten.

Zeitlos dagegen die oft schonungslose Kritik in den Boulevardblättern. "Drei müssen fliegen, damit wir siegen!", forderte die Bild-Zeitung. Derwall war nicht ganz dieser Meinung. Zwar nahm er Bernd Cullmann und Bernd Förster tatsächlich aus der Sieger-Elf, um sie gegen Bernd Schuster und Horst Hrubesch einzutauschen. Den Düsseldorfer Klaus Allofs aber ließ er im Team. Es war eine seiner besten Entscheidungen, denn Allofs erlebte am 14. Juni 1980 seine größte Sternstunde im DFB-Dress. Belebt vom 20 Jahre alten Kölner Schuster, war das deutsche Mittelfeld weit kreativer als in Rom.

Nach 20 Minuten wurde die deutsche Überlegenheit belohnt: nach Schusters Pfostenschuss staubte Allofs ab zum 1:0. Zehn starke Minuten der Niederländer, bei denen ein gewisser Huub Stevens zu den Besten gehörte, galt es zu überstehen. Mit 1:0 ging es in die Pause. Dann suchte die Derwall-Elf die Entscheidung: Hansi Müller bediente mit einem Rückpass Allofs – 2:0 (60.). Der eingewechselte Felix Magath prüfte mit seiner ersten Aktion Piit Schrijvers im Tor der Niederländer, in dem es nach 66 Minuten schon wieder einschlug: wieder war Schuster der Vorbereiter, wieder traf Allofs – 3:0.

Im Gefühl des sicheren Sieges verhalf Derwall dem 19-jährigen Lothar Matthäus zu seinem Länderspiel-Debüt. Der ehrgeizige Mönchengladbacher sorgte noch mal für Spannung. Sein Foul an Johnny Rep war zwar deutlich außerhalb des Strafraums, aber der Franzose Robert Wurtz zeigte zur Mitte. Rep schoss selbst – 3:1 (80.). Nervosität machte sich breit in der unerfahrenen Elf, in der sieben Spieler ihr erstes Turnier spielten. Willy van de Kerkhof gelang noch das 3:2 (86.), doch dabei blieb es. Das war schon die halbe Miete für das Finale.

Dass die Startformation am 17. Juni gegen die Griechen wieder ganz anders aussah, hatte gute Gründe. Denn das Finale war eine Stunde vor Anpfiff in Turin bereits erreicht. Die Tschechen, gegen Griechenland noch 3:1-Sieger, und die Niederländer beraubten sich gegenseitig ihrer letzten Chance (1:1). Da die Spiele trotz schlechter Erfahrungen noch immer nicht zeitgleich stattfanden, standen nun also 90 bedeutungslose Minuten bevor.

Derwall reagierte nachvollziehbar: Er nahm die von einer Gelb-Sperre bedrohten Spieler – Bernard Dietz, Bernd Schuster und Klaus Allofs – heraus und gab den Reservisten Bernd Cullmann, Bernd Förster und Caspar Memering eine Chance. Als Einwechselspieler kamen auch Mirko Votava und Calle Del’Haye zu ihrer EM-Premiere. Für sie ein besonderer Moment, für alle anderen Beobachter ein Spiel zum Vergessen. Tore fielen nicht, die Griechen trafen in der 70. Minute sogar den Pfosten – sonst wären die Deutschen nach einer Blamage ins Finale eingezogen.

Jupp Derwall hatte für derlei Spott und Kritik nicht viel Verständnis. Auf der Pressekonferenz wurde er ungewohnt fuchsig: "Menschenskinder, ich glaube, ich bin hier auf einer Beerdigung. Meine Herren, wir stehen im Europameisterschaftsendspiel. Wer hätte uns das vor einem Jahr nach unseren 0:0-Spielen gegen Malta und die Türkei schon zugetraut?"

Zum Finale kamen 47.860 Zuschauer. Sie sollten ihr Kommen nicht bereuen, denn das Endspiel, da waren sich die Beobachter einig, war das beste Spiel des Turniers. Wie es ja auch sein sollte. Deutschland spielte wieder mit der Elf, die die Niederländer geschlagen hatte, obwohl Derwall noch überlegte, Horst Hrubesch draußen zu lassen.

Wieder traf er die richtige Entscheidung und ließ den langen Hamburger im Team. Es sollte sein größter Tag als Fußballer werden. Schon nach zehn Minuten lohnte sich Derwalls Geduld mit dem Hünen, der von sich selbst sagte: "Ich weiß, dass ich neben den anderen oft wie ein Stolperbruder wirke." Seine Stärke war das Kopfballspiel, aber wenn es sein musste, ging es auch mit dem Fuß. Nach zehn Minuten nahm er einen Schuster-Pass mit der Brust an und schoss ihn aus 17 Metern ein – 1:0. Chancen auf beiden Seiten folgten, die Torhüter haben viel zu tun. Dass es nur mit 1:0 in die Kabinen ging, war im Grunde unverständlich.

Gleich nach Wiederanpfiff foulte Rene Vandereycken den Pfälzer Hans-Peter Briegel, der alsbald ausgetauscht werden musste gegen Cullmann. Ein Bruch im deutschen Spiel, die Belgier kamen allein zwischen der 58. und 72. Minute zu sechs Chancen. Dann half ihnen der Schiedsrichter: nach Stielikes Foul an Franky van der Elst, eindeutig im Halbkreis am Strafraum, zeigte der Rumäne Reinea auf den Punkt. Schon der zweite unberechtigte Elfmeter gegen die Deutschen – und wieder war Schumacher chancenlos. Vandereycken traf zum 1:1.

Sollte es wie 1976 wieder eine Verlängerung geben? Beide Teams wollten das bei der drückenden Hitze verhindern. Dann die 89. Minute. Ecke für Deutschland. Rummenigge holte sich den Ball und rief den Fotografen noch zu: "Stellt scharf, jetzt knallt's!" Wie wahr. Horst Hrubesch rannte dem Ball ein Stück entgegen, stieg am höchsten und köpfte das umjubelte Siegtor. Um 22.20 Uhr stemmte der Duisburger Bernard Dietz als Kapitän dieser Elf den Pokal in die Höhe. Es war der jüngste Europameister aller Zeiten und ein würdiger dazu. UEFA-Generalsekretär Bangerter sagte: "Die Deutschen haben diese EM gerettet!"

Oder war es doch ein Pole? Horst Hrubesch erzählt noch immer gern die Geschichte seines Vatikan-Besuchs vor dem Griechenland-Spiel. Mit den Kollegen Magath und Memering war er auf einer öffentlichen Audienz von Johannes Paul II. Um die Gläubigen zu segnen, spreizte der Papst wie gewöhnlich zwei Finger. "Horst, das heißt: du machst zwei Dinger", witzelte ein Hamburger Journalist. Dann kam das 0:0 gegen die Griechen. "Es kann doch nicht sein, dass der Papst auch noch lügt", unkte Hrubesch. Aber nach dem Finale war alles klar. Der Journalist eilte von der Tribüne herunter und rief Hrubesch zu: "Siehste Horst, der Papst lügt doch nicht, er hat das Finale gemeint."

London 1996 - Revanche in Wembley

Die Landkarte Europas veränderte sich in den Neunzigern in nie gesehener Geschwindigkeit. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die Unabhängigkeitsbestrebungen auf dem Balkan ließen neue Staaten aus dem Boden sprießen. Und alle wollten sie Fußball spielen. Fast alle. Von mittlerweile 50 Nationalverbänden meldeten sich 48 zur Qualifikation für die EM 1996 an – ein Rekord. Die UEFA trug dem Rechnung und beschloss am 30. November 1992 die Erweiterung der EM-Endrunde. Die Teilnehmerzahl wurde von acht auf 16 verdoppelt. Gastgeber war das Mutterland des Fußballs, England, das wegen Krawallen und der Katastrophe von Heysel 1985 lange Jahre keine Europapokalspiele gesehen hatte. So stellten die Gastgeber die EM unter das Motto: "Football is coming home".

Alle bisherigen Europameister hatten sich qualifiziert, ferner Portugal, Geheimtipp Rumänien, der WM-Vierte Bulgarien, Schottland und die EM-Debütanten Schweiz und Türkei. Der Weg der Deutschen nach England war nicht reibungslos verlaufen, die Weltmeister Lothar Matthäus und Thomas Berthold schieden verletzungsbedingt aus, atmosphärische Störungen mit Mitspielern kamen bei Matthäus hinzu und trieben den im Frühjahr 1996 zum Rücktritt. Vogts konnte es verkraften, seine neuen Leitwölfe waren die Anführer der damals wie heute führenden Klubs Borussia Dortmund (Meister 1996) und Bayern München (UEFA-Cup-Sieger 1996). Matthias Sammer war Wortführer der fünfköpfigen Dortmunder Fraktion, Jürgen Klinsmann der der sieben Bayern. Sie waren die Häuptlinge des Kaders, der gen England aufbrach. Erst recht, als sich der Dortmunder Jürgen Kohler, der vor dem ersten Spiel noch eine flammende Rede gehalten hatte, verletzte und nach nur 14 Turnierminuten ausschied.

In Gruppe C, gemeinhin als die schwerste tituliert, fielen die meisten Tore (17) und in Buchmacher-Favorit Deutschland hatte sie den erwarteten Sieger. Dass sich im ersten Spiel jedoch die beiden kommenden Finalisten gegenüberstanden, wagte niemand zu behaupten. Die Quote für einen tschechischen Turniersieg lag bei führenden englischen Buchhändlern bei 66:1, für Deutschlands Sieg lautete sie 4:1.

Die Favoritenrollen waren also eindeutig verteilt, als es am 9. Juni im Stadion Old Trafford zu Manchester endlich los ging. Bundestrainer Berti Vogts hatte seine Elf gefunden und nicht die mindeste Ahnung, dass er sie in allen Spielen würde ändern müssen. Klar war nur, dass der im letzten Qualifikationsspiel gesperrte Klinsmann, den Stefan Kuntz ersetzte, ins Team rücken würde. Den gleichsam gesperrten Steffen Freund vertrat der Bremer Dieter Eilts – so gut, dass er unverzichtbar wurde. Aber es gab immer neue Baustellen. Schon nach 13 Minuten musste sich Vogts wie bereits 1992, als Völler zur Pause des ersten EM-Spiels ausschied, einen neuen Kapitän suchen. Der Kaiserslauterer Pavel Kuka war unglücklich auf Jürgen Kohlers Knie gefallen – Innenbandriss, Heimflug. So erhielt Bayerns Markus Babbel seine Chance.

Mario Basler saß da schon auf gepackten Koffern. Wegen einer Trainingsverletzung musste der Noch-Bremer ebenso wie Kohler, nur ganz ohne Einsatz, nach dem ersten Spiel abreisen. Trotz alledem hatte der Vize-Europameister von 1992 (0:2 im Finale gegen Dänemark) in England keine Startprobleme. Schon nach 32 Minuten war die Partie gelaufen. Christian Ziege und Andy Möller hatten einen 2:0-Vorsprung herausgeschossen, der bis zum Abpfiff hielt. "Selten ist eine deutsche Mannschaft so gut in ein Turnier gestartet", jubilierte Vogts, während der stets mahnende Sammer den Finger hob: "Wir müssen mit dem Erfolg kritisch umgehen."

Im nächsten Spiel warteten die Russen, die nach dem 1:2 gegen Italien schon mit dem Rücken zur Wand standen. Auch mit ihnen hatten die Deutschen in Old Trafford kein Erbarmen. Das 3:0 fiel zwar sicher um ein Tor zu hoch aus, vor der Pause musste Andy Köpke einige Heldentaten vollbringen. Einmal rettete auch der Pfosten. Erst als sich Matthias Sammer, der die Libero-Position neu interpretierte – als Libero vor der Abwehr – in den Angriff einschaltete, kippte das Spiel.

Seinem Tor (56.) ließ Rückkehrer Klinsmann ein Zaubertor folgen. Mit dem Außenrist schlenzte er den Ball von der Strafraumgrenze aus vollem Lauf in den Winkel (77.). Vogts war verzückt: "In dieser Art und Weise treffen nur große Spieler." Sein zweites Tor, nach Vorlage von Stefan Kuntz, war gewöhnlicher (90.), aber auch hochwillkommen. Andy Möller lobte seinen Kapitän: "Er ist der Mittelstürmer schlechthin."

"Klinsmanns Tore die halbe Miete zum Gruppensieg", titelte der Kicker. Dabei war noch nicht mal das Weiterkommen sicher. Bei einer Niederlage gegen Italien und einem hohen Tschechen-Sieg gegen schon ausgeschiedene Russen wären selbst sechs Punkte nicht genug. So lag drei Tage später noch knisternde Spannung in der Luft, als der alte Rivale Italien in Manchester antrat. Es wurde das erwartet schwere Spiel. Erstmals waren die Deutschen bei dieser EM nicht überlegen. Und Italien fühlte sich schwach. "Verdammt, meine Spieler haben Angst. Das wird unser großes Problem", unkte Sacchi. Und das Toreschießen. Am Ende hieß es 0:0. Dank der Torhüter.

Andy Köpke verhinderte einen frühen Rückstand und hielt nach neun Minuten einen Elfmeter von Gianfranco Zola. Nach dem Platzverweis des Babbel-Vertreters Thomas Strunz (59.) verteidigte die DFB-Auswahl in Unterzahl den einen Punkt, den sie letztlich gar nicht brauchte. Für Italien wäre er Gold wert gewesen. Es reiste heim, weil die Tschechen gegen Russland 3:3 spielten. Erst eine Minute vor Schluss traf Smicer in diesem verrückten Spiel (von 0:2 über 3:2 zu 3:3). Die Mannschaft von Dusan Uhrin hatte zwar eine schlechtere Tordifferenz, doch erstmals bei einer EM gab der direkte Vergleich den Ausschlag.

Erstmals wurde bei einer EM-Endrunde ein Viertelfinale ausgetragen. Und eine neue Regel trat in Kraft. In der Verlängerung sollte das erste Tor, das "Golden Goal", die Entscheidung bringen. Das gab es im deutschen Fußball schon in den Zwanzigern vorübergehend, auf der Bühne internationaler Turniere war es ein Novum. Wider Erwarten sollte es so schnell nicht eintreffen. Die Angst vor dem im Eishockey als "Sudden death" bekannten finalen Gegentor führte zu einer Flut von Elfmeterschießen.

Zwei der vier Viertelfinals und beide Halbfinals endeten mit dem Showdown im Elfmeterschießen. Die Verlängerung war im Vergleich zu früher dagegen oft unansehnlich, womit sich die UEFA-Idee für mehr Spannung als Eigentor entpuppte. Protobeispiel dafür war die Partie zwischen Frankreich und den Niederländern, in der in 120 Minuten Tore ausblieben.

Dennoch attestierten Kritiker, die "unter taktischen Gesichtspunkten beste EM-Partie" erlebt zu haben. Zuschauer aber wollen Tore. Sie fielen in Liverpool erst im Epilog vom Kreidepunkt, Frankreich gewann mit 5:4. Auch die Engländer mussten nach dem 0:0 gegen Spanien ins Elfmeterschießen, was gewöhnlich ihr Aus bedeutet hat. Diesmal aber war ihnen in Wembley das Glück hold, David Seaman hielt gegen Miguel Nadal und da zuvor Hierro in Uli Hoeneß-Manier über das Tor geschossen hatte, war England weiter.

Es gab auch noch Spiele, die in 90 Minuten entschieden wurden. Am 23. Juni 1996 lernte die Welt Pavel Poborsky kennen, dessen frecher Heber nach brillantem Solo Portugal aus dem Turnier bugsierte und den 66:1-Außenseiter unter die letzten Vier. Denn es blieb in Birmingham bei diesem einem Tor und Manchester United verpflichtete den Schützen noch vor der Rückreise in die Heimat. Das Duell der Deutschen gegen Kroatien war das torreichste Viertelfinale, wobei die meisten "Treffer" nicht auf der Anzeigetafel zu lesen waren. Es wurde getreten wie selten zuvor.

Der 2:1-Sieg der Deutschen wurde von vielen unschönen Szenen getrübt. Jürgen Klinsmann und Fredi Bobic mussten verletzt ausgetauscht werden, auch für Bobic (Schulter ausgekugelt) war die EM zu Ende. "Jürgen Klinsmann wird nicht mehr spielen", sagte Vogts unmittelbar nach dem Spiel im ZDF-Studio. Doch hier sollte er sich irren, die DFB-Ärzte vollbrachten ein Wunder. Klinsmann hatte per Handelfmeter noch das 1:0 (21.) erzielt, ehe er nach 39 Minuten mit Muskelfaserriss vom Feld musste. Sein Vertreter Steffen Freund, wenngleich in anderer Position, verursachte nach 51 Minuten den Ausgleich, Suker nutzte seinen Fehler.

Dann flog der Kroate Stimac vom Platz und zwei Minuten später erlöste der stürmende Libero Sammer ganz Deutschland (59.). Sein zweites Tor bei dieser EM brachte die Nationalmannschaft ins Halbfinale gegen England. Die Kroaten fühlten sich betrogen, weil dem 2:1 ein Foul von Babbel vorausgegangen sei. Matthias Sammer gestand taktische Fehler ein und sagte in die Kameras: "Unglaublich, wie wir gespielt haben."

Während am Vortag die Tschechen über Frankreich nach 120 torlosen Minuten und 6:5-Elfmetern sensationell ins Finale eingezogen waren, sahen 75.860 Menschen in Wembley das beste Spiel der EM 1996. Der Klassiker wurde seinem Ruf gerecht. England ging schon in der zweiten Minute nach einer Ecke durch einen Kopfball von Alan Shearer in Führung. Doch nach Vorarbeit von Verteidiger Thomas Helmer glich Klinsmann-Vertreter Stefan Kuntz aus. Kuntz, damals bei Galatasaray Istanbul unter Vertrag, hatte alle Kollegen auf einem türkischen Basar mit seinem Talisman – Das Auge Gottes – versorgt. Nun hatte er selbst Glück und traf mit seinem schwachen rechten Fuß.

Als er in der Verlängerung ein eigentlich reguläres Tor köpfte, ließ ihn der Talisman im Stich. Schiedsrichter Sandor Puhl gab das Tor, das das erste Golden Goal der EM gewesen wäre, nicht. Ganz England atmete hörbar auf und Deutschland ging es nicht anders, als Gascoigne mit langem Bein an einer Flanke vorbeirutschte, die Köpke schon hatte passieren lassen. So ging auch dieses Halbfinale ins Elfmeterschießen. Erinnerungen an Italien 1990, das Halbfinale in Turin, wurden wach.

Auch an das Elfmeterschießen von Wembley haben alle Zeitzeugen noch lebendige Erinnerungen, die verdeutlichen, dass auch hochbezahlte Millionäre nur Menschen sind. Dieter Eilts bettelte kurz vor Abpfiff um seine Auswechslung, denn "ich schieße garantiert nicht". Vogts erhörte ihn nicht, suchte aber zunächst andere Schützen. Er kam nur auf vier, da fragte er Thomas Helmer, ob Bayern-Kollege Thomas Strunz sicher sei. "Kein Risiko", versicherte Helmer, doch Sammer intervenierte: "Der ist doch erst zwei Minuten im Spiel und hatte noch gar keinen Ballkontakt." Strunz holte sich deshalb den Ball vom Schiedsrichter und jonglierte sich ein wenig in Stimmung. Der Bremer Marco Bode wurde von Markus Babbel informiert, er sei die Nummer sieben. Da fiel Bode ein, dass er 1992 mit Werder im Pokalhalbfinale als Nummer sieben entscheidend versagt hatte: "Meine Beine wurden immer weicher, ich immer aufgeregter, aber ich kam davon."

Weil Andreas Möller nach dem ersten und einzigen englischen Fehlschuss von Gerry Southgate – Köpke parierte – zur Freude aller, die noch auf der Liste standen, den entscheidenden Ball verwandelte. Sammer etwa sagte auf die Frage, ob er oder Eilts als Neunter geschossen hätte: "Da hätte es wohl eine Schlägerei gegeben." So aber gab es nur Jubel und Freudentränen. Zum fünften Mal hatte Deutschland das EM-Finale erreicht und der letzte Gegner war der erste – Tschechien.

Vor dem Finale war die Lage beinahe grotesk: Möller und Reuter gesperrt, Freund (Kreuzbandriss) fiel aus, Kohler, Basler, Bobic längst abgereist, Klinsmann, Kuntz und Helmer angeschlagen. Am Freitag trainierte Vogts nur mit acht Feldspielern. Der DFB bedruckte bereits Feldspieler-Trikots für die Torhüter Oliver Kahn und Oliver Reck und beantragte wegen "höherer Gewalt" die Nachnominierung von zwei Spielern. Die UEFA zeigte überraschend Mitgefühl und so erhielt der Freiburger Jens Todt am Freitagabend in einem Restaurant einen Anruf von Vogts.

In einer Zeit, in der Status bedachte Menschen schon Handys besaßen. Todt packte seine Tasche und reiste doch vergeblich an, da die Mediziner Wunder vollbrachten. Klinsmann und Helmer konnten spielen und da somit mindestens zwölf gesunde Feldspieler zur Verfügung standen, durfte Todt nicht mehr in den Kader. Nur aufs Siegerfoto. Die Arbeit der DFB-Ärzte um Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, die Klinsmann in nur sieben Tagen wieder hin bekamen und rund um die Uhr arbeiteten, wurde teamintern hoch geschätzt. Vogts sprach von "fast unmenschlichen Leistungen". Helmer erinnerte sich gar an nächtliche Behandlungen: "Man lag im Bett, wurde mit der Trage aus dem Zimmer gebracht und kam auf die Massagebank. Da habe ich dann weitergeschlafen." Der Verteidiger, der gegen England mit zwei bandagierten Knien vom Platz trottete und zum Symbolbild deutscher Unbeugsamkeit wurde, brachte die Tage im Londoner Landmark Hotel "in meinem persönlichen Bermuda-Dreieck" zu: "Hotelzimmer, Speisesaal, Massageraum".

Um die Favoritenrolle kamen die Deutschen dennoch nicht herum, als sie am Sonntag, den 30. Juni 1996, in Wembley einliefen. Am Tag, als sie zum dritten und bis dato letzten Mal Europameister wurden. Nicht nur, aber auch wegen Monika Vogts. Ein kurioser Prolog leitete das letzte Erfolgskapitel ein. In einer Gondel zu Venedig wurde eine für den deutschen Fußball epochale Entscheidung getroffen. Dort saß das Ehepaar Vogts im Frühjahr 1996 und der Gatte dachte wieder mal nur an Fußball: "Soll ich den Kirsten mitnehmen, den Herrlich, den Riedle oder doch den Bierhoff?", fragte sich der Mann, den sie Bundes-Berti nannten. Und seine Frau, unter dem frischen Eindruck eines Spiels des blonden Oliver Bierhoff, empfahl den Essener Kaufmannssohn: "Er wird es dir eines Tages danken."

Eigentlich zu kitschig, um wahr zu sein, aber so war es eben. Vogts vertraute der weiblichen Intuition. Zum Glück. Im Finale lief seine Elf ab der 59. Minute einem unberechtigten Elfmeter-Tor hinterher und Verursacher Sammer stand wieder am Rande der Resignation, weshalb ihn Kuntz zusammenfaltete ("Jammern kannst Du hinterher"), als Vogts seinen Joker zog: Oliver Bierhoff. Es war erst dessen dritter EM-Einsatz und er ging hoch motiviert ins Spiel: "Der Bundestrainer hat mir die richtige Wut gegeben, um im Endspiel reinzuhauen", sagte er später offen. Und wie er reinhaute: Flanke Ziege, Kopfball Bierhoff – 1:1 vier Minuten nach seiner Einwechslung.

Dann die Verlängerung. Die ganze Welt wartete auf das erste Golden Goal, das noch immer nicht gefallen war. Und hätte Marco Bode, wie er nicht ohne Stolz anmerkte, nicht in der 94. Minute "andersrum" oder hierum (Bierhoff: "Ich hab's gar nicht richtig verstanden") gerufen, wer weiß, wer weiß? So aber drehte sich Bierhoff an der Strafraumgrenze links um seinen Widersacher und schoss nicht sonderlich fest in die Tormitte – aber Peter Kouba, der arme Tropf im Tschechen-Tor, ließ den Ball durch die Hände rutschen. "Er hat den Ball so gut abgedeckt, dass ich ihn schlecht sehen konnte", sagte Kouba. Stefan Kuntz schaute noch kurz zu, wohin er rollte und ersparte sich einzugreifen "denn ich stand abseits", dann war es vollbracht. Deutschland war Europameister.

Kurz war die Pokalübergabe gefährdet, weil Kuntz und Spaßvogel Mehmet Scholl darüber diskutierten, ob sie die Queen küssen dürften. Eigentlich wollten sie, aber dann dachten sie doch wieder an die Mannschaft. Denn 1996 zumindest galt, was Berti Vogts gebetmühlenartig wiederholte: "Der Star ist die Mannschaft." Erst recht, wenn sie mit einem Pokal nach Hause kommt. 2008 in Wien war sie noch einmal dicht davor, aber gegen Spanien gab es eine 0:1-Niederlage. Somit hat Deutschland immer abwechselnd ein EM-Finale gewonnen und eines verloren – jeweils drei. Bei diesem Rhythmus stünde nun wieder ein Sieg bevor, vielleicht schon 2016?

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Obwohl es ein schwerer Anfang war, ist Deutschland mittlerweile bei Europameisterschaften die erfolgreichste Nation. An den ersten drei Turnieren von 1960 bis 1968 nahm der DFB - teils freiwillig, teils unfreiwillig - nicht teil. Seit 1972 dagegen immer und mit drei Titeln und sechs Finalteilnahmen hält er zwei stolze EM-Rekorde. Historiker und Autor Udo Muras skizziert den Weg Deutschlands zum Rekord-Europameister.

Belgien 1972 – als Deutschlands Fußballkunst triumphierte

Die Bundesliga lief noch, als die Nationalmannschaft zwei Spiele vor Saisonschluss mal kurz nach Belgien aufbrach. Belgien war einer von drei potenziellen Gastgebern, neben England und Italien. Hauptbedingung war, dass die Mannschaft des Gastgebers unter den letzten Vier war, größer war die Endrunde 1972 noch nicht. Dass die Engländer es nicht wurden, lag an der DFB-Auswahl, ihrem Gegner im Viertelfinale.

Bundestrainer Helmut Schön hatte in der Kreativzentrale in jenen Tagen ein Luxusproblem: Overath oder Netzer? Diese Frage beschäftigte den "Mann mit der Mütze" über seine halbe Amtszeit. Beide konnten nur Spielmacher sein, auch vom Wesen her, und miteinander ging es bei aller gegenseitigen Sympathie nicht. Das Schicksal nahm Schön die Entscheidung ab, Overath fiel wegen einer Leisten-Operation Anfang 1972 aus.

Auf der Ausfall-Liste für die Spiele gegen England standen zudem Berti Vogts sowie die Schalker Klaus Fichtel und "Stan" Libuda. In der Not setzte Schön auf die Jugend. Die Bayern Paul Breitner (20), Uli Hoeneß (20) und Katsche Schwarzenbeck (22) schlossen die Lücken. Auf englischer Seite standen fünf Weltmeister. Revanche wollten beide – Deutschland für das dritte Tor von 1966, England für das 2:3 von Leon bei der WM 1970.

Die Deutschen trugen Grün an diesem April-Samstag, was anschließend als gutes Omen gelten sollte. Denn in diesem Jersey machten sie eines ihrer besten Länderspiele überhaupt. Die Spielkunst, die die Elf entfaltete, hob sie schlagartig auf den Favoritenschild.

Die Deutschen nahmen im Hinspiel ihr Herz in die Hand und suchten die Entscheidung. Alle Verzagtheit wich mit dem Anpfiff, das Wechselspiel zwischen Beckenbauer und Netzer, von der Bild-Zeitung als "Ramba-Zamba-Fußball" gefeiert, funktionierte traumhaft. Libero und Spielmacher übergaben einander den Taktstock und gaben den jungen Mitspielern Halt. Netzer hat an diesem Tag wohl sein bestes von 37 Länderspielen gemacht und sagt bis heute: "In Wembley waren wir der Perfektion sehr nahe!"

Am verdienten Sieg, zu dem Hoeneß, Netzer und Müller je ein Tor beisteuerten, zweifelte niemand. Groß machte ihn sicherlich die Tatsache, dass es der erste auf englischem Boden war – und dann noch an dem Ort, wo 1966 das mythische dritte Tor gefallen war, das nach deutscher Lesart natürlich keines gewesen ist. Das Wembley-Trauma war noch nicht überwunden mit diesem Triumph, aber leichter zu ertragen allemal. "Der Sieg in Wembley hat den Geist dieser Mannschaft geprägt", sagte Netzer noch Jahrzehnte später.

Beim Rückspiel in Berlin war von Glanz nicht mehr die Rede. Es kam auf das Weiterkommen an, 76.200 Zuschauer warteten im Dauerregen vergeblich auf Tore und freuten sich dennoch: die Endrunde war erreicht. Der Gastgeber stand erst vier Wochen vorher fest: seit dem 13. Mai 1972 wussten die Belgier von ihrem Glück, das sie sich durch das sensationelle Eliminieren der Italiener (0:0 und 2:1) selbst verdient hatten. Auch Ungarn und einmal mehr die Sowjetunion schafften es zur Endrunde. Deutschland traf auf die Belgier, übrigens auch im Hotel, das beide Teams gemeinsam bewohnten.

Dort trennten sie nur zwei Etagen, sportlich waren es Welten. Nachdem Trainer Raymond Goethals am 26. Mai 1972 Augenzeuge des deutschen 4:1-Sieges über die UdSSR anlässlich der Einweihung des Münchner Olympia-Stadions geworden war, sagte er: "Ich habe den europäischen Meister und den Weltmeister 1974 gesehen. Die belgische Mannschaft hat in Antwerpen überhaupt keine Chance."

Er sollte in jedem Punkt Recht bekommen. Die Roten Teufel standen am 14. Juni 1972 jedenfalls auf verlorenem Posten. Die Zeitung La libre Belgique schrieb zuvor pathetisch vom "größten Kampf, den Belgiens Auswahl je zu bestehen hatte". Den wollten offiziell 55.669 Zuschauer in Antwerpen miterleben – die meisten davon in der Hoffnung, den Favoriten stolpern zu sehen. Doch es war die Zeit, in der Gerd Müller nur eine halbe Chance für ein Tor brauchte – jedenfalls wenn er Normalform hatte. Er hatte sie auch auf der "unbespielbaren Steinwüste" des Stade Bosuil, in die sich zumindest Helmut Schön versetzt fühlte.

Der Ball lief auch nicht allzu flüssig beim Starensemble, das wieder Grün trug. Man sprach hinterher von einem Arbeitssieg, den Müller möglich machte. Nach 24 Minuten köpfte "der Bomber der Nation" eine Netzer-Flanke zum 1:0 ein. In der Pause befahl Belgien-Trainer Goethals die "Alles oder nichts"-Taktik - und erntete das Nichts. Weil Sepp Maier alles hielt und Kollege Müller wieder zuschlug (72.).

Der belgische Ehrentreffer von Polleunis änderte nichts an den Fakten. Deutschland stand im Finale gegen die Sowjetunion, die sich zu gleicher Stunde in Brüssel gegen Ungarn mit 1:0 durchsetzte. Für die Organisatoren war das zweite Halbfinale ein Fiasko. Es kamen auch wegen der gleichzeitigen Ansetzung nur 1659 Zuschauer, ein historischer Tiefstwert für ein EM-Endrundenspiel. DFB-Trainer Jupp Derwall war unter ihnen, um den Finalgegner zu beobachten.

Beim Endspiel war das Brüsseler Heysel-Stadion fest in deutscher Hand; rund 40.000 Schlachtenbummler unter den 55.000 machten Stimmung. Kurz vor Abpfiff des Finales musste Sepp Maier einen Anhänger einfangen, der den Sieg schon feiern wollte. Der Sieg, der schon früh fest stand in einem Endspiel, dem es gänzlich an Spannung mangelte. Nach 57 Minuten hieß es 3:0, zwischen zwei Müller-Toren (28., 57.) durfte auch der Gladbacher Herbert Wimmer (52.) einnetzen. "Das Finale war derartig klar und beherrschend, da wirkte bei den Russen noch das 1:4 von München nach", sagte Netzer. Dabei hatte deren Trainer Guljajew am Tag des Finales noch prophezeit: "Wir verlieren bestimmt nicht wieder so hoch." Von Sieg sprach er nicht.

Hinterher überschlug sich die Presse mit Lob für den neuen Europameister. Der Kicker titelte: "Deutschland ist Europas König!" und fand: "Und das erfreulichste daran: die Siege werden vor allem erspielt und erst in zweiter Linie erkämpft. Man kann sich kaum vorstellen, dass eine geschlossenere Leistung möglich ist."

Weil das die ganze Fachwelt so sah, erlebte die vierte EM-Endrunde trotz noch unverkennbarer Mängel in der Organisation (Belgiens Fernsehen brachte beispielsweise keine Live-Übertragungen zustande, nur eine Partie war ausverkauft) ihren ersten sportlichen Höhepunkt. Denn noch immer behaupten viele Experten: einen besseren Europameister hat es nie gegeben! Hier sind die Namen: Sepp Maier – Horst-Dieter Höttges, Franz Beckenbauer, Hans-Georg Schwarzenbeck, Paul Breitner – Uli Hoeneß, Günter Netzer, Herbert Wimmer – Jupp Heynckes, Gerd Müller, Erwin Kremers.

Sechs Bayern, drei Mönchen-gladbacher, ein Bremer und ein Schalker eroberten in jenen Tagen Europa und erhielten den Beifall der ganzen Welt. Zwei Jahre später musste sie wieder applaudieren, als der Kern der Europameister auch Weltmeister wurde. Den EM-Titel konnten sie jedoch nicht verteidigen, 1976 verloren sie gegen die Tschechen im Finale von Belgrad das historisch erste Elfmeterschießen bei einem internationalen Turnier.

1980 – Sieg in Rom

Ein Triumph der Jugend. Am 21. Juni 1977 traf das Exekutivkomitee der UEFA eine folgenschwere Entscheidung, der der Fußball viel zu verdanken hat. Die Europameisterschaft wurde attraktiver, denn die Endrunde sollte nicht länger nur von vier Mannschaften im K.o.-System ausgetragen werden. Konkret wurde beschlossen, dass an der Endrunde im Juni 1980 acht Mannschaften teilnehmen sollten, die in zwei Vierer-Gruppen die Finalisten ermitteln sollten. Dafür gab es keine Halbfinale mehr, womit die bisherigen Endrunden gleich angefangen hatten.

UEFA-Präsident Franchi sagte, für eine solche Veranstaltung käme nur "eine große Fußballnation" in Frage, womit die Schweiz klammheimlich abserviert worden war. Und gegen Deutschland sprach, dass es vor nicht allzu langer Zeit die WM 1974 bekommen hatte. Und so ging die Europameisterschaft in das Land, aus dem der UEFA-Präsident stammte. Das Turnier versprach ja attraktiv zu werden, denn als am 16. Januar 1980 in Rom die Lose gezogen wurden, waren alle großen Namen in der Trommel. Alle bisherigen Weltmeister des Kontinents (Italien, Deutschland, England), der zweimalige Vize-Weltmeister Niederlande, Ex-Europameister Spanien und Titelverteidiger Tschechoslowakei, der nicht automatisch qualifiziert war, hatten es geschafft. Als Exoten ohne besondere Ambitionen wurden Belgien und Griechenland, ein absoluter Turnier-Neuling zur Kenntnis genommen.

Als eine von drei Mannschaften war Deutschland ungeschlagen durch die Mühen der Vorausscheidung gelangt. Aber nicht ohne blaue Augen. Bundes-trainer Jupp Derwall war nach der WM-Enttäuschung 1978, nach der nur sieben Nationalspieler im Kader blieben, zum Umbruch gezwungen. Der forderte seinen Tribut. Im Frühjahr 1979 enttäuschte die Nationalmannschaft mit Nullnummern auf Malta und in der Türkei. Auf Schlüsselpositionen herrschte lange Unklarheit: nach Sepp Maiers Autounfall im Juli 1979 testete Derwall drei Torhüter und erst der Letzte, Toni Schumacher vom 1. FC Köln, machte das Rennen. Mit der "Erfahrung" von drei Länderspielen flog er als neue Nummer eins nach Italien. Der Abwehrchef wurde lange gesucht, auch weil Top-Kandidat Ulli Stielike bei Real Madrid spielte und es keine Verpflichtung zur Freigabe gab. Bis zuletzt hielt Derwall deshalb am Kölner Bernd Cullmann fest, neben Rainer Bonhof der letzte Verbliebene aus dem Weltmeister-Kader von 1974. Rund lief es immer noch nicht und nach dem vorentscheidenden Spiel gegen die Türkei (2:0 in Gelsenkirchen) gab es wieder Pfiffe. Derwall stellte ernüchtert fest: "Wir sind die Favoritenrolle für die EM losgeworden."

Doch im Frühjahr 1980 änderte sich einiges zum Guten. Aus der Not, die durch den Beinbruch von Schalkes Mittelstürmer Klaus Fischer noch größer zu werden schien, machte Derwall eine Jugend. Die Bundesliga produzierte 1979/80 Talente am Fließband. Viele von Derwalls Fixsternen waren unter 25: Vorstopper Karl-Heinz Förster (21), Mittelfeld-Rackerer Hans-Peter Briegel (24), die Spielmacher Bernd Schuster (20) und Hansi Müller (22) sowie die Stürmer Klaus Allofs (23) und Karl-Heinz Rummenigge (24) waren allesamt noch titelhungrig. Geführt wurden sie von den Leitwölfen Bernard Dietz und Ulli Stielike. Selten soll die Kameradschaft in der Nationalmannschaft besser gewesen sein, als in jenen Monaten vor und bei der EM 1980 und das war auch auf dem Platz zu sehen. Nach dem 3:1 im letzten EM-Test über die Polen im Mai attestierte der Kicker auf Seite 1: "Unsere Nationalelf ist für die EM gerüstet."

In einer Umfrage unter den acht EM-Trainern tippten immerhin zwei auf Deutschland. Einen Top-Favoriten gab es nicht. Als der Tross am 9. Juni mit der Lufthansa-Maschine 292 von Frankfurt gen Rom aufbrach, gab es bereits einen ersten Ausfall: Weltmeister Rainer Bonhof musste wegen seiner Achillessehnenverletzung absagen, blieb aber offiziell im Kader. Und als der Kölner Herbert Zimmermann am Morgen des Eröffnungsspiels gegen die Tschechen aufstand, musste er sich gleich wieder hinlegen – der Ischiasnerv meldete sich. Auch er fiel für die EM aus, Derwall blieben nur noch 20 Spieler. Aber von Frust keine Spur in Rom. Auch hier starteten Reporter eine Umfrage: alle Spieler erwarteten die Final-Teilnahme und immerhin zehn den Titel. DFB-Präsident Hermann Neuberger sprach nicht von Titeln, sondern vom Image. "Nach der blamablen WM ist es unsere verdammte Pflicht, in der EM unseren Ruf wieder aufzupolieren."

Das Eröffnungsspiel war dazu freilich nicht geeignet. Gleich zum Auftakt der Gruppe 1, in der sich auch Erzrivale Niederlande und die Griechen befanden, kam es zur Revanche von Belgrad. Das Finale von 1976 war die Eröffnung von 1980 und diesmal boten Deutschen und Tschechen kein Drama, sondern "ein Trauerspiel vor dürftiger Kulisse" (Süddeutsche Zeitung). Die Angst, das erste Spiel zu verlieren, lähmte wie so oft die Beine der Akteure. Zum Glück war der Stuttgarter Hansi Müller in der 55. Minute dennoch zu einem exakten Pass auf Karl-Heinz Rummenigge von Meister Bayern München in der Lage. Vor dem zögerlichen Torwart Netolicka kam der "Kalle", der gerade erstmals Torschützenkönig der Bundesliga geworden war, mit dem Kopf an den Ball. Tor, 1:0 – Sieg.

Doch eine Steigerung tat Not. Das forderte zumindest die Heimat. Jupp Derwall musste nach eigenen Angaben jeden Tag rund 50 Fans am Telefon besänftigen, die die Rezeption auf sein Zimmer durchstellte. Eine TV-Zeitschrift hatte die Telefonnummer veröffentlicht und der joviale Derwall stellte sich den vielen heimlichen Bundestrainern. "Man muss doch reden mit den Leuten." Andere Zeiten.

Zeitlos dagegen die oft schonungslose Kritik in den Boulevardblättern. "Drei müssen fliegen, damit wir siegen!", forderte die Bild-Zeitung. Derwall war nicht ganz dieser Meinung. Zwar nahm er Bernd Cullmann und Bernd Förster tatsächlich aus der Sieger-Elf, um sie gegen Bernd Schuster und Horst Hrubesch einzutauschen. Den Düsseldorfer Klaus Allofs aber ließ er im Team. Es war eine seiner besten Entscheidungen, denn Allofs erlebte am 14. Juni 1980 seine größte Sternstunde im DFB-Dress. Belebt vom 20 Jahre alten Kölner Schuster, war das deutsche Mittelfeld weit kreativer als in Rom.

Nach 20 Minuten wurde die deutsche Überlegenheit belohnt: nach Schusters Pfostenschuss staubte Allofs ab zum 1:0. Zehn starke Minuten der Niederländer, bei denen ein gewisser Huub Stevens zu den Besten gehörte, galt es zu überstehen. Mit 1:0 ging es in die Pause. Dann suchte die Derwall-Elf die Entscheidung: Hansi Müller bediente mit einem Rückpass Allofs – 2:0 (60.). Der eingewechselte Felix Magath prüfte mit seiner ersten Aktion Piit Schrijvers im Tor der Niederländer, in dem es nach 66 Minuten schon wieder einschlug: wieder war Schuster der Vorbereiter, wieder traf Allofs – 3:0.

Im Gefühl des sicheren Sieges verhalf Derwall dem 19-jährigen Lothar Matthäus zu seinem Länderspiel-Debüt. Der ehrgeizige Mönchengladbacher sorgte noch mal für Spannung. Sein Foul an Johnny Rep war zwar deutlich außerhalb des Strafraums, aber der Franzose Robert Wurtz zeigte zur Mitte. Rep schoss selbst – 3:1 (80.). Nervosität machte sich breit in der unerfahrenen Elf, in der sieben Spieler ihr erstes Turnier spielten. Willy van de Kerkhof gelang noch das 3:2 (86.), doch dabei blieb es. Das war schon die halbe Miete für das Finale.

Dass die Startformation am 17. Juni gegen die Griechen wieder ganz anders aussah, hatte gute Gründe. Denn das Finale war eine Stunde vor Anpfiff in Turin bereits erreicht. Die Tschechen, gegen Griechenland noch 3:1-Sieger, und die Niederländer beraubten sich gegenseitig ihrer letzten Chance (1:1). Da die Spiele trotz schlechter Erfahrungen noch immer nicht zeitgleich stattfanden, standen nun also 90 bedeutungslose Minuten bevor.

Derwall reagierte nachvollziehbar: Er nahm die von einer Gelb-Sperre bedrohten Spieler – Bernard Dietz, Bernd Schuster und Klaus Allofs – heraus und gab den Reservisten Bernd Cullmann, Bernd Förster und Caspar Memering eine Chance. Als Einwechselspieler kamen auch Mirko Votava und Calle Del’Haye zu ihrer EM-Premiere. Für sie ein besonderer Moment, für alle anderen Beobachter ein Spiel zum Vergessen. Tore fielen nicht, die Griechen trafen in der 70. Minute sogar den Pfosten – sonst wären die Deutschen nach einer Blamage ins Finale eingezogen.

Jupp Derwall hatte für derlei Spott und Kritik nicht viel Verständnis. Auf der Pressekonferenz wurde er ungewohnt fuchsig: "Menschenskinder, ich glaube, ich bin hier auf einer Beerdigung. Meine Herren, wir stehen im Europameisterschaftsendspiel. Wer hätte uns das vor einem Jahr nach unseren 0:0-Spielen gegen Malta und die Türkei schon zugetraut?"

Zum Finale kamen 47.860 Zuschauer. Sie sollten ihr Kommen nicht bereuen, denn das Endspiel, da waren sich die Beobachter einig, war das beste Spiel des Turniers. Wie es ja auch sein sollte. Deutschland spielte wieder mit der Elf, die die Niederländer geschlagen hatte, obwohl Derwall noch überlegte, Horst Hrubesch draußen zu lassen.

Wieder traf er die richtige Entscheidung und ließ den langen Hamburger im Team. Es sollte sein größter Tag als Fußballer werden. Schon nach zehn Minuten lohnte sich Derwalls Geduld mit dem Hünen, der von sich selbst sagte: "Ich weiß, dass ich neben den anderen oft wie ein Stolperbruder wirke." Seine Stärke war das Kopfballspiel, aber wenn es sein musste, ging es auch mit dem Fuß. Nach zehn Minuten nahm er einen Schuster-Pass mit der Brust an und schoss ihn aus 17 Metern ein – 1:0. Chancen auf beiden Seiten folgten, die Torhüter haben viel zu tun. Dass es nur mit 1:0 in die Kabinen ging, war im Grunde unverständlich.

Gleich nach Wiederanpfiff foulte Rene Vandereycken den Pfälzer Hans-Peter Briegel, der alsbald ausgetauscht werden musste gegen Cullmann. Ein Bruch im deutschen Spiel, die Belgier kamen allein zwischen der 58. und 72. Minute zu sechs Chancen. Dann half ihnen der Schiedsrichter: nach Stielikes Foul an Franky van der Elst, eindeutig im Halbkreis am Strafraum, zeigte der Rumäne Reinea auf den Punkt. Schon der zweite unberechtigte Elfmeter gegen die Deutschen – und wieder war Schumacher chancenlos. Vandereycken traf zum 1:1.

Sollte es wie 1976 wieder eine Verlängerung geben? Beide Teams wollten das bei der drückenden Hitze verhindern. Dann die 89. Minute. Ecke für Deutschland. Rummenigge holte sich den Ball und rief den Fotografen noch zu: "Stellt scharf, jetzt knallt's!" Wie wahr. Horst Hrubesch rannte dem Ball ein Stück entgegen, stieg am höchsten und köpfte das umjubelte Siegtor. Um 22.20 Uhr stemmte der Duisburger Bernard Dietz als Kapitän dieser Elf den Pokal in die Höhe. Es war der jüngste Europameister aller Zeiten und ein würdiger dazu. UEFA-Generalsekretär Bangerter sagte: "Die Deutschen haben diese EM gerettet!"

Oder war es doch ein Pole? Horst Hrubesch erzählt noch immer gern die Geschichte seines Vatikan-Besuchs vor dem Griechenland-Spiel. Mit den Kollegen Magath und Memering war er auf einer öffentlichen Audienz von Johannes Paul II. Um die Gläubigen zu segnen, spreizte der Papst wie gewöhnlich zwei Finger. "Horst, das heißt: du machst zwei Dinger", witzelte ein Hamburger Journalist. Dann kam das 0:0 gegen die Griechen. "Es kann doch nicht sein, dass der Papst auch noch lügt", unkte Hrubesch. Aber nach dem Finale war alles klar. Der Journalist eilte von der Tribüne herunter und rief Hrubesch zu: "Siehste Horst, der Papst lügt doch nicht, er hat das Finale gemeint."

London 1996 - Revanche in Wembley

Die Landkarte Europas veränderte sich in den Neunzigern in nie gesehener Geschwindigkeit. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die Unabhängigkeitsbestrebungen auf dem Balkan ließen neue Staaten aus dem Boden sprießen. Und alle wollten sie Fußball spielen. Fast alle. Von mittlerweile 50 Nationalverbänden meldeten sich 48 zur Qualifikation für die EM 1996 an – ein Rekord. Die UEFA trug dem Rechnung und beschloss am 30. November 1992 die Erweiterung der EM-Endrunde. Die Teilnehmerzahl wurde von acht auf 16 verdoppelt. Gastgeber war das Mutterland des Fußballs, England, das wegen Krawallen und der Katastrophe von Heysel 1985 lange Jahre keine Europapokalspiele gesehen hatte. So stellten die Gastgeber die EM unter das Motto: "Football is coming home".

Alle bisherigen Europameister hatten sich qualifiziert, ferner Portugal, Geheimtipp Rumänien, der WM-Vierte Bulgarien, Schottland und die EM-Debütanten Schweiz und Türkei. Der Weg der Deutschen nach England war nicht reibungslos verlaufen, die Weltmeister Lothar Matthäus und Thomas Berthold schieden verletzungsbedingt aus, atmosphärische Störungen mit Mitspielern kamen bei Matthäus hinzu und trieben den im Frühjahr 1996 zum Rücktritt. Vogts konnte es verkraften, seine neuen Leitwölfe waren die Anführer der damals wie heute führenden Klubs Borussia Dortmund (Meister 1996) und Bayern München (UEFA-Cup-Sieger 1996). Matthias Sammer war Wortführer der fünfköpfigen Dortmunder Fraktion, Jürgen Klinsmann der der sieben Bayern. Sie waren die Häuptlinge des Kaders, der gen England aufbrach. Erst recht, als sich der Dortmunder Jürgen Kohler, der vor dem ersten Spiel noch eine flammende Rede gehalten hatte, verletzte und nach nur 14 Turnierminuten ausschied.

In Gruppe C, gemeinhin als die schwerste tituliert, fielen die meisten Tore (17) und in Buchmacher-Favorit Deutschland hatte sie den erwarteten Sieger. Dass sich im ersten Spiel jedoch die beiden kommenden Finalisten gegenüberstanden, wagte niemand zu behaupten. Die Quote für einen tschechischen Turniersieg lag bei führenden englischen Buchhändlern bei 66:1, für Deutschlands Sieg lautete sie 4:1.

Die Favoritenrollen waren also eindeutig verteilt, als es am 9. Juni im Stadion Old Trafford zu Manchester endlich los ging. Bundestrainer Berti Vogts hatte seine Elf gefunden und nicht die mindeste Ahnung, dass er sie in allen Spielen würde ändern müssen. Klar war nur, dass der im letzten Qualifikationsspiel gesperrte Klinsmann, den Stefan Kuntz ersetzte, ins Team rücken würde. Den gleichsam gesperrten Steffen Freund vertrat der Bremer Dieter Eilts – so gut, dass er unverzichtbar wurde. Aber es gab immer neue Baustellen. Schon nach 13 Minuten musste sich Vogts wie bereits 1992, als Völler zur Pause des ersten EM-Spiels ausschied, einen neuen Kapitän suchen. Der Kaiserslauterer Pavel Kuka war unglücklich auf Jürgen Kohlers Knie gefallen – Innenbandriss, Heimflug. So erhielt Bayerns Markus Babbel seine Chance.

Mario Basler saß da schon auf gepackten Koffern. Wegen einer Trainingsverletzung musste der Noch-Bremer ebenso wie Kohler, nur ganz ohne Einsatz, nach dem ersten Spiel abreisen. Trotz alledem hatte der Vize-Europameister von 1992 (0:2 im Finale gegen Dänemark) in England keine Startprobleme. Schon nach 32 Minuten war die Partie gelaufen. Christian Ziege und Andy Möller hatten einen 2:0-Vorsprung herausgeschossen, der bis zum Abpfiff hielt. "Selten ist eine deutsche Mannschaft so gut in ein Turnier gestartet", jubilierte Vogts, während der stets mahnende Sammer den Finger hob: "Wir müssen mit dem Erfolg kritisch umgehen."

Im nächsten Spiel warteten die Russen, die nach dem 1:2 gegen Italien schon mit dem Rücken zur Wand standen. Auch mit ihnen hatten die Deutschen in Old Trafford kein Erbarmen. Das 3:0 fiel zwar sicher um ein Tor zu hoch aus, vor der Pause musste Andy Köpke einige Heldentaten vollbringen. Einmal rettete auch der Pfosten. Erst als sich Matthias Sammer, der die Libero-Position neu interpretierte – als Libero vor der Abwehr – in den Angriff einschaltete, kippte das Spiel.

Seinem Tor (56.) ließ Rückkehrer Klinsmann ein Zaubertor folgen. Mit dem Außenrist schlenzte er den Ball von der Strafraumgrenze aus vollem Lauf in den Winkel (77.). Vogts war verzückt: "In dieser Art und Weise treffen nur große Spieler." Sein zweites Tor, nach Vorlage von Stefan Kuntz, war gewöhnlicher (90.), aber auch hochwillkommen. Andy Möller lobte seinen Kapitän: "Er ist der Mittelstürmer schlechthin."

"Klinsmanns Tore die halbe Miete zum Gruppensieg", titelte der Kicker. Dabei war noch nicht mal das Weiterkommen sicher. Bei einer Niederlage gegen Italien und einem hohen Tschechen-Sieg gegen schon ausgeschiedene Russen wären selbst sechs Punkte nicht genug. So lag drei Tage später noch knisternde Spannung in der Luft, als der alte Rivale Italien in Manchester antrat. Es wurde das erwartet schwere Spiel. Erstmals waren die Deutschen bei dieser EM nicht überlegen. Und Italien fühlte sich schwach. "Verdammt, meine Spieler haben Angst. Das wird unser großes Problem", unkte Sacchi. Und das Toreschießen. Am Ende hieß es 0:0. Dank der Torhüter.

Andy Köpke verhinderte einen frühen Rückstand und hielt nach neun Minuten einen Elfmeter von Gianfranco Zola. Nach dem Platzverweis des Babbel-Vertreters Thomas Strunz (59.) verteidigte die DFB-Auswahl in Unterzahl den einen Punkt, den sie letztlich gar nicht brauchte. Für Italien wäre er Gold wert gewesen. Es reiste heim, weil die Tschechen gegen Russland 3:3 spielten. Erst eine Minute vor Schluss traf Smicer in diesem verrückten Spiel (von 0:2 über 3:2 zu 3:3). Die Mannschaft von Dusan Uhrin hatte zwar eine schlechtere Tordifferenz, doch erstmals bei einer EM gab der direkte Vergleich den Ausschlag.

Erstmals wurde bei einer EM-Endrunde ein Viertelfinale ausgetragen. Und eine neue Regel trat in Kraft. In der Verlängerung sollte das erste Tor, das "Golden Goal", die Entscheidung bringen. Das gab es im deutschen Fußball schon in den Zwanzigern vorübergehend, auf der Bühne internationaler Turniere war es ein Novum. Wider Erwarten sollte es so schnell nicht eintreffen. Die Angst vor dem im Eishockey als "Sudden death" bekannten finalen Gegentor führte zu einer Flut von Elfmeterschießen.

Zwei der vier Viertelfinals und beide Halbfinals endeten mit dem Showdown im Elfmeterschießen. Die Verlängerung war im Vergleich zu früher dagegen oft unansehnlich, womit sich die UEFA-Idee für mehr Spannung als Eigentor entpuppte. Protobeispiel dafür war die Partie zwischen Frankreich und den Niederländern, in der in 120 Minuten Tore ausblieben.

Dennoch attestierten Kritiker, die "unter taktischen Gesichtspunkten beste EM-Partie" erlebt zu haben. Zuschauer aber wollen Tore. Sie fielen in Liverpool erst im Epilog vom Kreidepunkt, Frankreich gewann mit 5:4. Auch die Engländer mussten nach dem 0:0 gegen Spanien ins Elfmeterschießen, was gewöhnlich ihr Aus bedeutet hat. Diesmal aber war ihnen in Wembley das Glück hold, David Seaman hielt gegen Miguel Nadal und da zuvor Hierro in Uli Hoeneß-Manier über das Tor geschossen hatte, war England weiter.

Es gab auch noch Spiele, die in 90 Minuten entschieden wurden. Am 23. Juni 1996 lernte die Welt Pavel Poborsky kennen, dessen frecher Heber nach brillantem Solo Portugal aus dem Turnier bugsierte und den 66:1-Außenseiter unter die letzten Vier. Denn es blieb in Birmingham bei diesem einem Tor und Manchester United verpflichtete den Schützen noch vor der Rückreise in die Heimat. Das Duell der Deutschen gegen Kroatien war das torreichste Viertelfinale, wobei die meisten "Treffer" nicht auf der Anzeigetafel zu lesen waren. Es wurde getreten wie selten zuvor.

Der 2:1-Sieg der Deutschen wurde von vielen unschönen Szenen getrübt. Jürgen Klinsmann und Fredi Bobic mussten verletzt ausgetauscht werden, auch für Bobic (Schulter ausgekugelt) war die EM zu Ende. "Jürgen Klinsmann wird nicht mehr spielen", sagte Vogts unmittelbar nach dem Spiel im ZDF-Studio. Doch hier sollte er sich irren, die DFB-Ärzte vollbrachten ein Wunder. Klinsmann hatte per Handelfmeter noch das 1:0 (21.) erzielt, ehe er nach 39 Minuten mit Muskelfaserriss vom Feld musste. Sein Vertreter Steffen Freund, wenngleich in anderer Position, verursachte nach 51 Minuten den Ausgleich, Suker nutzte seinen Fehler.

Dann flog der Kroate Stimac vom Platz und zwei Minuten später erlöste der stürmende Libero Sammer ganz Deutschland (59.). Sein zweites Tor bei dieser EM brachte die Nationalmannschaft ins Halbfinale gegen England. Die Kroaten fühlten sich betrogen, weil dem 2:1 ein Foul von Babbel vorausgegangen sei. Matthias Sammer gestand taktische Fehler ein und sagte in die Kameras: "Unglaublich, wie wir gespielt haben."

Während am Vortag die Tschechen über Frankreich nach 120 torlosen Minuten und 6:5-Elfmetern sensationell ins Finale eingezogen waren, sahen 75.860 Menschen in Wembley das beste Spiel der EM 1996. Der Klassiker wurde seinem Ruf gerecht. England ging schon in der zweiten Minute nach einer Ecke durch einen Kopfball von Alan Shearer in Führung. Doch nach Vorarbeit von Verteidiger Thomas Helmer glich Klinsmann-Vertreter Stefan Kuntz aus. Kuntz, damals bei Galatasaray Istanbul unter Vertrag, hatte alle Kollegen auf einem türkischen Basar mit seinem Talisman – Das Auge Gottes – versorgt. Nun hatte er selbst Glück und traf mit seinem schwachen rechten Fuß.

Als er in der Verlängerung ein eigentlich reguläres Tor köpfte, ließ ihn der Talisman im Stich. Schiedsrichter Sandor Puhl gab das Tor, das das erste Golden Goal der EM gewesen wäre, nicht. Ganz England atmete hörbar auf und Deutschland ging es nicht anders, als Gascoigne mit langem Bein an einer Flanke vorbeirutschte, die Köpke schon hatte passieren lassen. So ging auch dieses Halbfinale ins Elfmeterschießen. Erinnerungen an Italien 1990, das Halbfinale in Turin, wurden wach.

Auch an das Elfmeterschießen von Wembley haben alle Zeitzeugen noch lebendige Erinnerungen, die verdeutlichen, dass auch hochbezahlte Millionäre nur Menschen sind. Dieter Eilts bettelte kurz vor Abpfiff um seine Auswechslung, denn "ich schieße garantiert nicht". Vogts erhörte ihn nicht, suchte aber zunächst andere Schützen. Er kam nur auf vier, da fragte er Thomas Helmer, ob Bayern-Kollege Thomas Strunz sicher sei. "Kein Risiko", versicherte Helmer, doch Sammer intervenierte: "Der ist doch erst zwei Minuten im Spiel und hatte noch gar keinen Ballkontakt." Strunz holte sich deshalb den Ball vom Schiedsrichter und jonglierte sich ein wenig in Stimmung. Der Bremer Marco Bode wurde von Markus Babbel informiert, er sei die Nummer sieben. Da fiel Bode ein, dass er 1992 mit Werder im Pokalhalbfinale als Nummer sieben entscheidend versagt hatte: "Meine Beine wurden immer weicher, ich immer aufgeregter, aber ich kam davon."

Weil Andreas Möller nach dem ersten und einzigen englischen Fehlschuss von Gerry Southgate – Köpke parierte – zur Freude aller, die noch auf der Liste standen, den entscheidenden Ball verwandelte. Sammer etwa sagte auf die Frage, ob er oder Eilts als Neunter geschossen hätte: "Da hätte es wohl eine Schlägerei gegeben." So aber gab es nur Jubel und Freudentränen. Zum fünften Mal hatte Deutschland das EM-Finale erreicht und der letzte Gegner war der erste – Tschechien.

Vor dem Finale war die Lage beinahe grotesk: Möller und Reuter gesperrt, Freund (Kreuzbandriss) fiel aus, Kohler, Basler, Bobic längst abgereist, Klinsmann, Kuntz und Helmer angeschlagen. Am Freitag trainierte Vogts nur mit acht Feldspielern. Der DFB bedruckte bereits Feldspieler-Trikots für die Torhüter Oliver Kahn und Oliver Reck und beantragte wegen "höherer Gewalt" die Nachnominierung von zwei Spielern. Die UEFA zeigte überraschend Mitgefühl und so erhielt der Freiburger Jens Todt am Freitagabend in einem Restaurant einen Anruf von Vogts.

In einer Zeit, in der Status bedachte Menschen schon Handys besaßen. Todt packte seine Tasche und reiste doch vergeblich an, da die Mediziner Wunder vollbrachten. Klinsmann und Helmer konnten spielen und da somit mindestens zwölf gesunde Feldspieler zur Verfügung standen, durfte Todt nicht mehr in den Kader. Nur aufs Siegerfoto. Die Arbeit der DFB-Ärzte um Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, die Klinsmann in nur sieben Tagen wieder hin bekamen und rund um die Uhr arbeiteten, wurde teamintern hoch geschätzt. Vogts sprach von "fast unmenschlichen Leistungen". Helmer erinnerte sich gar an nächtliche Behandlungen: "Man lag im Bett, wurde mit der Trage aus dem Zimmer gebracht und kam auf die Massagebank. Da habe ich dann weitergeschlafen." Der Verteidiger, der gegen England mit zwei bandagierten Knien vom Platz trottete und zum Symbolbild deutscher Unbeugsamkeit wurde, brachte die Tage im Londoner Landmark Hotel "in meinem persönlichen Bermuda-Dreieck" zu: "Hotelzimmer, Speisesaal, Massageraum".

Um die Favoritenrolle kamen die Deutschen dennoch nicht herum, als sie am Sonntag, den 30. Juni 1996, in Wembley einliefen. Am Tag, als sie zum dritten und bis dato letzten Mal Europameister wurden. Nicht nur, aber auch wegen Monika Vogts. Ein kurioser Prolog leitete das letzte Erfolgskapitel ein. In einer Gondel zu Venedig wurde eine für den deutschen Fußball epochale Entscheidung getroffen. Dort saß das Ehepaar Vogts im Frühjahr 1996 und der Gatte dachte wieder mal nur an Fußball: "Soll ich den Kirsten mitnehmen, den Herrlich, den Riedle oder doch den Bierhoff?", fragte sich der Mann, den sie Bundes-Berti nannten. Und seine Frau, unter dem frischen Eindruck eines Spiels des blonden Oliver Bierhoff, empfahl den Essener Kaufmannssohn: "Er wird es dir eines Tages danken."

Eigentlich zu kitschig, um wahr zu sein, aber so war es eben. Vogts vertraute der weiblichen Intuition. Zum Glück. Im Finale lief seine Elf ab der 59. Minute einem unberechtigten Elfmeter-Tor hinterher und Verursacher Sammer stand wieder am Rande der Resignation, weshalb ihn Kuntz zusammenfaltete ("Jammern kannst Du hinterher"), als Vogts seinen Joker zog: Oliver Bierhoff. Es war erst dessen dritter EM-Einsatz und er ging hoch motiviert ins Spiel: "Der Bundestrainer hat mir die richtige Wut gegeben, um im Endspiel reinzuhauen", sagte er später offen. Und wie er reinhaute: Flanke Ziege, Kopfball Bierhoff – 1:1 vier Minuten nach seiner Einwechslung.

Dann die Verlängerung. Die ganze Welt wartete auf das erste Golden Goal, das noch immer nicht gefallen war. Und hätte Marco Bode, wie er nicht ohne Stolz anmerkte, nicht in der 94. Minute "andersrum" oder hierum (Bierhoff: "Ich hab's gar nicht richtig verstanden") gerufen, wer weiß, wer weiß? So aber drehte sich Bierhoff an der Strafraumgrenze links um seinen Widersacher und schoss nicht sonderlich fest in die Tormitte – aber Peter Kouba, der arme Tropf im Tschechen-Tor, ließ den Ball durch die Hände rutschen. "Er hat den Ball so gut abgedeckt, dass ich ihn schlecht sehen konnte", sagte Kouba. Stefan Kuntz schaute noch kurz zu, wohin er rollte und ersparte sich einzugreifen "denn ich stand abseits", dann war es vollbracht. Deutschland war Europameister.

Kurz war die Pokalübergabe gefährdet, weil Kuntz und Spaßvogel Mehmet Scholl darüber diskutierten, ob sie die Queen küssen dürften. Eigentlich wollten sie, aber dann dachten sie doch wieder an die Mannschaft. Denn 1996 zumindest galt, was Berti Vogts gebetmühlenartig wiederholte: "Der Star ist die Mannschaft." Erst recht, wenn sie mit einem Pokal nach Hause kommt. 2008 in Wien war sie noch einmal dicht davor, aber gegen Spanien gab es eine 0:1-Niederlage. Somit hat Deutschland immer abwechselnd ein EM-Finale gewonnen und eines verloren – jeweils drei. Bei diesem Rhythmus stünde nun wieder ein Sieg bevor, vielleicht schon 2016?