Die jüngste Mannschaft von allen 16 Teilnehmern

In der Gruppe B ging es ähnlich dramatisch zu, auch wenn die Abschlusstabelle das nicht verdeutlicht. Deutschland hatte am Ende neun Punkte, die Niederländer null und doch war nach dem zweiten Spieltag noch keiner weiter und auch noch keiner ausgeschieden.

Joachim Löw schickte die jüngste Mannschaft von allen 16 Teilnehmern ins Rennen (24,98 Jahre). Das bedeutete Chance und Risiko zugleich. Der Offensivdrang der jungen Himmelsstürmer um Özil, Reus, Schürrle oder Götze war ein Versprechen auf viele Tore, aber wie stand es um die Defensive? Dort hätte ein bisschen mehr Abgeklärtheit gut getan, aber das einstige Land der Renner, Kämpfer und Haudegen hatte sich gehäutet; es gab keine Kohlers und Försters mehr. Und der routinierteste Verteidiger Per Mertesacker, Legionär bei Arsenal London, reiste nach einer Sprunggelenksverletzung quasi ohne Spielpraxis an. Obwohl die Experten auf ihn setzten, entschied sich Löw anders: der 23jährige Dortmunder Mats Hummels wurde neuer Partner des gleichaltrigen Münchners Holger Badstuber. Es war die jüngste Innenverteidigung einer DFB-Elf bei einem Turnier. Mertesacker spielte 2012 keine Sekunde. Obwohl alle Vorrundenspiele in der Ukraine zu absolvieren waren, bezogen die Deutschen in Polen Quartier. Im Danziger Hotel Dwor Oliwski mit Nähe zur Ostsee und zum Flughafen fühlten sich die Deutschen wohl, die Auslosung konnte die Entscheidung nicht mehr beeinträchtigen. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, sagte der neue DFB-Präsident Wolfgang Niersbach, für den es das erste Turnier als Delegationschef war.

Und keiner seiner Vorgänger hatte je eine bessere EM-Vorrunde zu verantworten, jedenfalls rein statistisch. In Lemberg schlug die DFB-Auswahl zum Auftakt Portugal mit 1:0. Nach einem Spiel, an dem sich die Geister schieden. Ein Startsieg in der „Todesgruppe B“, wie allgemein zu lesen stand, war nach Wunsch und ließ alle Chancen offen. Aber die Leistung hatte nicht viel mit dem Vermögen dieser Mannschaft zu tun. Qualifikation und Testspiele sind eben noch etwas anderes als ein Turnier-Match, auf das die ganze Fußball-Welt schaut. „Wir haben gewonnen, das ist das Allerwichtigste“, sagte Löw, der vor dem Turnier sein Faible für „schönen Fußball“ propagiert hatte. Auch Wolfgang Niersbach kam zu einem ergebnisorientierten Schluss: „Wir sollten uns ganz einfach freuen.“ Vor allem mit dem ersten deutschen Turnier-Helden Mario Gomez, den Löw Miroslav Klose vorgezogen hatte. Bis zur 72. Minute war es keine glückliche Entscheidung und so stand Klose schon an der Außenlinie zum Wechsel bereit. Aber es dauerte ein bisschen, bis die 11 für die 23 kommen durfte. „Ich muss mit dem vierten Mann hart ins Gericht gehen. Ich wollte schon zwei Minuten früher wechseln, doch er hat so lange gebraucht“, witzelte Löw nach dem Spiel. Denn Gomez nutzte die Galgenfrist, die ihm die Technik verschaffte, und köpfte eine Flanke von Sami Khedira ein. Zur Belohnung ließ Löw ihn noch weitere acht Minuten im Spiel. Die internationale Presse zollte dem Matchwinner mehr Lob als die nationale. „Mario Gomez rettet Deutschland“, schrieb der Corriere della Sera, „Portugal hatte Gomez und das Pech gegen sich“, stand im „Jornal de Noticas“. In der Heimat jedoch entbrannte eine schier groteske Debatte, weil ARD-Experte Mehmet Scholl, Europameister 1996, vor einem 23 Millionen-Publikum kritische Worte fand, die Respekt vermissen ließen: „Er macht zu wenig für die Mannschaft. Ich hatte zwischendurch Angst, dass er sich wundliegt und mal gewendet werden muss.“ Für die „Welt“ war Gomez schlicht „Deutschlands umstrittener Held“. „Bild“ ließ ihre Leser abstimmen, wer denn gegen die Holländer stürmen sollte; Klose bekam 66 %. Das eine, doch so wichtige Tor des Rivalen hatte den alten WM-Helden Klose noch nicht vom Sockel gestoßen in der Gunst der Deutschen, aber dass Gomez ausgerechnet nach seiner Heldentat dermaßen in den Focus geriet war vor allem eines: typisch deutsch.

Auch das andere Spiel hatte nur einen Torschützen, aber dem Dänen Michael Krohn-Delhi wurden in der Heimat Lorbeerkränze gewunden für sein Siegtor gegen Favorit Niederlande. Sein Klub Bröndby erlaubte ihm gar einen vorzeitigen Ausstieg aus seinem Vertrag, den er wünschte. Nur seine Freundin grollte und meldete, er müsse künftig auf dem Balkon schlafen; sie ist Niederländerin.

Das Klima im Team von Bert van Marwijk war schon vorher nicht gut, weil er durchaus meinungs-freudige Spieler wie Rafael van der Vaart und Klaas-Jan Huntelaar auf die Bank setzte. Nun, nach einer Niederlage in einem überlegen geführten Spiel (28:8 Torschüsse) wurde es noch schlechter, Kapitän Mark van Bommel grollte: „Unglaublich, dass wir dieses Spiel verlieren. Ich gewinne lieber und wir spielen schlecht.“ Und nun drohte bereits im Duell mit Nachbar Deutschland das vorzeitige Aus. Einzig erfreulicher Aspekt des Abends von Charkiw: mit Jetro Willems setzte „Oranje“ den jüngsten EM-Spieler aller Zeiten ein (18 Jahre, 71 Tage).

Van Marwijk beförderte den Klassiker zum „ersten Endspiel“. Auch Löw schürte das Feuer und wurde beim Abschluss-Training lauter als gewohnt: „So geht das nicht, 80 Prozent reichen nicht. Dann kriegen wir Probleme. Ihr müsst spielen wie in Hamburg.“ Das grandiose Testspiel im November 2011 gewann Deutschland mit 3:0 und war seitdem der Maßstab für die DFB-Elf. In Charkow reichten diesmal zwei Tore, um die Nation zufrieden zu stellen, denn sie brachten einen 2:1- Sieg – und wieder traf nur Mario Gomez, zudem noch auf unerwartet brillante Art. Schon vor der Pause (24., 38.) hatte er die Weichen auf Sieg gestellt, um den man erst nach van Persies Anschlusstreffer noch etwas bangen musste (73.). Es war wieder keine spielerische Glanzleistung an dem schwülwarmen Abend von Charkow (28 Grad), aber die Bilanz aus zwei Spielen glänzte umso mehr. Dass man auch mit sechs Punkten noch nicht weiter war, trübte die Freude nur unwesentlich. Aber da am Nachmittag Portugal die Dänen 3:2 geschlagen hatte, konnten noch drei Mannschaften auf sechs Punkte kommen. Und wie der direkte Vergleich dann aussähe, wollte sich lieber niemand ausmalen. Umgekehrt waren auch die punktlosen Niederländer noch im Rennen, was selbst einige Journalisten nicht erkannten. So waren am nächsten Tag auch in deutschen Gazetten Meldungen über das niederländische EM-Aus zu lesen; dem komplizierten Modus musste manch einer Tribut zollen.

Unbestritten war dagegen die Position von Mario Gomez in der Torjäger-Liste dieser EM – ganz oben. Gomez erleichterte seine Seele in den Interviews, die er nun geben musste: „Das war Druck ohne Ende. Ein paar hundert Kilo auf meinen Schultern. Schade, dass so etwas passiert. Ich bin froh, dass die Wichtigen in Deutschland hinter mir standen.“ Mehmet Scholl war nun auch auf seiner Seite und erklärte via „Bild“: „Ich bin stolz auf Mario! Einsatz und Erfolg haben zusammen gepasst.“ Was auf die ganze Mannschaft zutraf. Alles Sonnenschein? Nicht ganz: zwei Mal hatte Löw dieselbe Formation gebracht und einigen Reservisten schwante ein Turnier im Wartestand, Bayern Münchens Toni Kroos wagte als erster offene Kritik („Befriedigend ist das alles nicht. Gerade nach der Saison, die ich gespielt habe, ist es doch logisch, dass ich spielen will.“) Auch stieß Löw sauer auf, dass die Aufstellung erneut öffentlich geworden war, kaum dass sie intern kommuniziert worden war. So löste ein nebensächliches Thema das nächste ab: nach dem Gomez-Bashing gingen die deutschen Reporter auf Maulwurfsuche. Solche Probleme hätten andere gerne gehabt.