Paukenschlag zu Beginn

Deutschland war noch im Turnier, in das es mit einem Paukenschlag gestartet war. Gegen ein überfordertes Saudi-Arabien, dessen Spieler hinterher nicht mehr von der Achtelfinalprämie (je 100.000 Dollar und ein Mercedes) zu träumen wagten, gab es in Sapporo ein furioses 8:0. Es war der höchste deutsche WM-Sieg aller Zeiten im ersten deutschen WM-Spiel unter einem Hallendach. Zur Pause stand es bereits 4:0, und ein neuer Stern war aufgegangen am WM-Himmel. Miroslav Klose verzückte die Zuschauer mit seiner Sprungkraft, die ihm drei Kopfballtore ermöglichte und als Zugabe jeweils einen Salto Mortale. „Salto-Klose“ war der Star des Abends, der in Deutschland ein früher Nachmittag war. Die restlichen Treffer markierten Michael Ballack, Carsten Jancker, Oliver Bierhoff, Bernd Schneider und Thomas Linke.

Die Bild-Zeitung titelte „Endlich! Wir sind wieder wer“, und das Ausland zollte Respekt, jeder auf seine Art. „Die deutsche Panzertruppe hat keinen Rost angesetzt“, staunte etwa Italiens Corriere della Serra. Österreichs Kurier meldete militärisch knapp: „8ung, die Deutschen sind wieder da!“

Dass es so nicht weitergehen würde, war allen klar. Gegen die Iren erlitt die Mannschaft den ersten heilsamen Dämpfer. Bis in die 92. Minute führte sie zwar mit 1:0 durch einen weiteren Klose-Kopfball, doch 69 Sekunden vor Ende der Nachspielzeit schloss Robbie Keane mit seinem Treffer das Tor zum Achtelfinale vorläufig wieder. Die gerechte Strafe für eine durchwachsene Leistung: „Willkommen zurück auf dem Teppich“, textete Bild nun, und Völler betrieb Aufbauarbeit: „Wir sind weiterhin Tabellenführer, wir haben vier Punkte - und ich glaube, nach Adam Riese reicht in der nächsten Woche gegen Kamerun ein Unentschieden, um ins Achtelfinale zu kommen. Wir fallen jetzt bestimmt nicht in ein Loch.“

Der Kritik getrotzt

Das nicht, aber erste Fallgruben wurden schon ausgehoben. Kritik entzündete sich an der Aufstellung. Von Christian Ziege, meinte der 74er-Weltmeister Paul Breitner, „kam einfach viel zu wenig“. Franz Beckenbauer, im DFB-Quartier von Torwarttrainer und Spezi Sepp Maier im Golf geschlagen, monierte: „Wir haben keinen echten Chef!“ und erntete Widerspruch von Ballack: „Der Franz hat nur bedingt Recht. Du brauchst einen Chef doch nur, wenn die Ordnung nicht stimmt.“

Mit Oliver Bierhoff schlug der erste Reservist Krach, die Welt am Sonntag zitierte ihn so: „Ich würde mich spielen lassen. Und ich sehe mich als Punktsieger über Jancker.“ Völler sah es anders und änderte nichts im Endspiel um den Achtelfinaleinzug, den die Iren mit einem Sieg über Underdog Saudi-Arabien gewiss schaffen würden. Deutschland oder Kamerun, wer würde ihnen folgen? Die Afrikaner wurden pikanterweise von Winfried Schäfer trainiert, und der einstige Karlsruher Kulttrainer, gebürtig aus Mayen in der Vordereifel, mutierte zum Afrikaner: „Ich bin ein Löwe und will mit meiner Mannschaft Afrika vertreten“, beteuerte er vor der Partie in Shizuoka. Kollege Rudi Völler gestand ein: „Der Druck ist unmenschlich!“

Seine Mannschaft erlöste ihn und die vielen Fans in der Heimat, indem sie wieder die Tugenden aus den Ukraine-Spielen abrief. Sie behielt die Nerven und beeindruckte auch bei 93 Prozent Luftfeuchtigkeit durch ein hohes Laufpensum. Nach 40 Minuten wurden die Wege noch länger und die Beine noch schwerer, mussten sie doch nun für Carsten Ramelow mitlaufen. Der Leverkusener war als fünfter Deutscher der WM-Historie vom Platz gestellt worden, weil er dem schnellen Samuel Eto’o ein Bein gestellt hatte.

Kahn bringt Kamerun zur Verzweiflung

Völler traf die richtigen Maßnahmen und wechselte den Bremer Marco Bode für Jancker ein. Prompt stach der Joker und erzielte nach Kloses brillanter Vorlage das 1:0, dem der Lauterer noch sein fünftes WM-Tor - alle per Kopf - folgen ließ. Ein 2:0 in Unterzahl gegen den Afrikameister, der an Oliver Kahn regelrecht verzweifelt war. „Wenn euch der Olli nicht entführt wird, kommt ihr bis ins Halbfinale“, sagte Gratulant Schäfer und reiste enttäuscht ab. Deutschland aber machte weiter bei dieser seltsamen WM, wo es bei den großen Wettbüros nun schon auf dem sechsten Platz geführt wurde in der Liste der Titelkandidaten.

Natürlich gab es Mannschaften, die besser gespielt hatten, doch das musste sich Deutschland bei WM-Endrunden auf dem Weg ins Finale ja oft anhören. Aber es schwang auch Bewunderung mit in den Kritiken. „Deutschland ist wie so oft auferstanden“, schrieb Spaniens AS, das auch mit seiner Auswahl überaus zufrieden sein konnte. Die Spanier gewannen in der Vorrunde alle Spiele.

In dieser Gruppe B schlüpfte übrigens Paraguay durch ein 3:1 über Slowenien noch durch die Öffnung, weil Südafrika über den Spielstand der Parallelbegegnung nicht informiert war und glaubte, sich ein 2:3 gegen Spanien leisten zu können. „Wir haben nicht geglaubt, dass uns Paraguay noch einholen kann“, jammerte Trainer Jomo Sono, der später wohl nie mehr auf die Segnungen der Kommunikationstechnik verzichtet haben dürfte. So reisten die Afrikaner ab, weil 5:5 Tore schlechter als 6:6 sind - und sie kamen um das Vergnügen, auf Deutschland zu treffen.

Brasilien marschiert durch die Vorrunde

Es gab übrigens auch Favoriten, die überzeugten. Brasilien marschierte mit 11:3 Toren ins Achtelfinale und spielte beeindruckenden Offensivfußball. Rivaldo allerdings beeindruckte durch seine Schauspielkünste und wurde eines der ersten Opfer der neuen FIFA-Regel, wonach Schwalben und sonstiges Simulantentum Geld kosten sollten. Rivaldo wurde für seine Einlage gegen die Türken, als er an der Eckfahne zusammenbrach und einen Platzverweis provozierte, mit 7800 Euro Strafe belegt.

Die Türken überstanden erstmals überhaupt die Vorrunde, Costa Rica schied punktgleich aus. Die Enttäuschung dieser Gruppe war China, von dem man zwar keine Wunderdinge erwartet hatte, aber doch wenigstens ein Tor. Zumal mit Weltenbummler Bora Milutinovic ein Trainer auf der Bank saß, der bei seiner fünften WM in Folge mit fünf verschiedenen Ländern erstmals in der Vorrunde scheiterte.

Dafür schnitten die Gastgeber besser ab. Sie retteten das nicht sonderlich gut besuchte Turnier - es gab bedingt durch Fehler beim Ticketverkauf wieder teilweise Chaos und leere Ränge - und ihre Ehre. Japan setzte sich gegen Belgien (Zweiter), Russland und Tunesien souverän durch, und der französische Trainer Philipp Trousier sprach, nachdem es geschafft worden war, von „einem historischen Tag für Japan“. Vier Jahre hatte er das Team darauf hingedrillt, nun weinten viele der 50.000 Fans in Osaka vor Freude nach dem 2:0 über Tunesien. Sein russischer Kollege Oleg Romanzew, von dem sich Staatschef Putin nicht weniger als den Titel gefordert hatte, trat sofort zurück, und in Moskau brannten Autos.

"Trap" schimpft über die Schiedsrichter

Bliebe noch die Gruppe mit Italien, das vom früheren Bayern-Trainer Giovanni Trapattoni betreut wurde. Der war seit 1998 Kult durch eine Wut-Rede in Holper-Deutsch. In Ibaraki kam es zu einer Neuauflage, nur in seiner Muttersprache - und nun war seine Zielscheibe der Schiedsrichter Graham Poll aus England. Der hatte gegen Kroatien (1:2) zwei Tore der Italiener aberkannt, weshalb sich Trapattoni nach Abpfiff ereiferte: „Wir sind um den verdienten Lohn gebracht worden!“ Später bot er noch seinen Rücktritt an, aber man konnte ihn wieder beruhigen.

Jedenfalls holperte Italien durch diese Vorrunde irgendwie ins Ziel, del Piero köpfte fünf Minuten vor Schluss den erlösenden Ausgleich gegen Gruppensieger Mexiko. Der WM-Dritte von 1998, Kroatien, dagegen verspielte mit fünf Bundesliga-Legionären seine gute Ausgangslage durch ein 0:1 gegen Ecuador im angeblich schlechtesten WM-Spiel 2002.

Bei dieser Begegnung erschien die allgegenwärtige Polizei übrigens sogar auf der Pressetribüne, da ihr ein Radioreporter Ecuadors suspekt vorkam. Er hatte seine Haare in den Landesfarben gefärbt und habe sich auch sonst „auffällig“ verhalten. Dazu passte auch die Anekdote, dass Rudi Völler und seinem Assistenten Michael Skibbe der Einlass ins Teamquartier in Jeju verweigert wurde, weil sie keine Akkreditierung dabei hatten. Die Welt war nervöser denn je in jenen Tagen, die noch im Zeichen des Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA standen.

"Gewinne, oh Korea!"

Skurrile Geschichten am Rande der Spiele kennzeichnen jede WM. In Asien gab es davon mehr denn je. Typisch, wenn der Fußball plötzlich Menschen in ihren Bann zieht, die mit ihm nicht groß geworden sind. Hysterisch fingen die Japanerinnen an zu kreischen, wenn "Muskelpakete" wie Carsten Jancker plötzlich beim Jubeln das Trikot auszogen. Und uniformiert gingen sie zu den Spielen ihrer Mannschaft, tauchten das Stadion in ein kräftiges Blau oder Rot. Die Koreaner wiederholten ihren vielseitig verwendbaren Schlachtruf monoton über das ganze Spiel hinweg: „Tae han min guk“ (Republik Korea), gelegentlich abgelöst durch „Oh Pilsung Korea (Gewinne, oh Korea).

Manche Form von Fanatismus ging entschieden zu weit. Vor dem letzten Gruppenspiel verbrannte sich ein Landsmann und hinterließ einen Abschiedsbrief: „Ich wähle den Tod, damit Südkorea weiterkommt. Ich spiele als 12. Mann mit!“ In Südkorea gingen tausende Guus-Hiddink-Puppen zu Ehren des Nationaltrainers bei der WM über die Ladentheken. Überhaupt das Geschäft mit der WM: Wer in Tokios Sportsbars ein Spiel schauen wollte, musste plötzlich umgerechnet bis zu 35 Euro Eintritt bezahlen.

Achtelfinale: Deutschland lernt Südkorea kennen

Ab dem Achtelfinale lernte auch die deutsche Mannschaft Südkorea kennen. Die Vorrunde verbrachte sie in Japan, das Spiel gegen Paraguay fand nun auf Jeju in der Stadt Seogwipo statt. Ein Stadion hatte es dort nie gegeben, es wurde extra für die WM gebaut. Selbst ein WM-Publikum versuchten die Gastgeber zu konstruieren, als sich ein kläglicher Besuch abzeichnete, wurden Schulklassen ins Stadion gebracht. Trotzdem kamen nur 25.176 Zuschauer ins „Cheju World Cup Stadium“ und verliehen der bedeutsamen Partie einen eher tristen Rahmen.

Miroslav Klose hatte zwei Tage vor der Partie übrigens eine schlaflose Nacht, weil Anrufer mit spanischer Stimme, vorgeblich Reporter, auf sein Zimmer durchgestellt worden waren. Der DFB intervenierte daraufhin an der Rezeption und verhinderte weitere Störmanöver gegen den besten Torschützen der WM zu jenem Zeitpunkt. Ihr Ziel hatten die Störenfriede aber offenbar erreicht, denn Klose machte sein schwächstes Spiel und blieb erstmals torlos.

In einer mäßigen Partie, die in Deutschland zum Frühstück serviert wurde (Übertragungsbeginn: 8.30 Uhr), stach ein anderer Stürmer zu: Oliver Neuville, einer der vier Neuen in der Startelf von Rudi Völler, in der ferner Marko Rehmer, Jens Jeremies und Marco Bode ihren Einstand gaben. Die Umstellungen taten dem Spielfluss nicht gut, und Völler fand gar, man habe „in der ersten Halbzeit gar keinen Fußball gespielt“. In der Kabine wies er zur Sicherheit daraufhin, dass man kein Freundschaftsspiel austrage.

Es wurde besser, dennoch drohte eine Verlängerung. Es lief bereits die 88. Minute, als Neuville eine Flanke Bernd Schneiders verwandelte. Die "Leverkusen-Connection" bahnte den Weg ins Viertelfinale, das sich die Elf redlich verdient hatte. Paraguay setzte nur auf Mauertaktik und die Freistoßkünste seines exzentrischen Torwarts Jose Luis Chilavert, der es nach der Pause tatsächlich einmal versuchte. „Wenn er mir ein Tor reingehauen hätte, hätte ich auf der Stelle aufgehört, Fußball zu spielen“, witzelte Kahn und schaute dabei doch ganz ernst.

Was er danach sagte, meinte er auch ernst: „Wir können jetzt auch bis ins Finale durchlaufen. Wir müssen natürlich noch mehr Fußball spielen und noch mehr kombinieren. Man muss sich immer ein bisschen verbessern, weil die Gegner jetzt auch immer besser werden.“

Der nächste Gegner hieß USA, der Mexiko durch Tore von McBride (früher VfL Wolfsburg) und Donovan (früher Leverkusen) ausschaltete. Höher gewannen nur die Engländer, die Dänemark schon zur Pause besiegt hatten. Das 3:0 war auch der Endstand. Am 16. Juni fiel das erste Golden Goal der WM 2002 durch einen gewissen Henri Camara, der damit Senegal sensationell ins Viertelfinale und Schweden nach Hause schoss. Afrikas letzter Vertreter schaffte es nun als zweites Land des Schwarzen Kontinents, in ein Viertelfinale einzuziehen - und wie Vorreiter Kamerun 1990 feierten sie ihre Tore mit einem Tänzchen an der Eckfahne.

Spanien besiegt Irland im Elfmeterschießen

Spanien blieb auch im Rennen, doch musste im packenden Spiel gegen Irland (1:1) schon ein Elfmeterschießen die Entscheidung bringen. Die Iren verschossen gleich drei Bälle, und Spanien feierte seinen jungen Torwart Iker Casillas, der mit Real Madrid das Champions-League-Finale gegen Bayer Leverkusen gewonnen hatte und erst kurz vor der WM zur Nummer eins aufgerückt war. Brasilien erlitt einen fußballerischen Rückschlag und kam gegen Belgien dennoch weiter. Ronaldo und Rivaldo schossen die Tore zum 2:0, ein Treffer des Belgiers Marc Wilmots wurde aberkannt. Wasser auf die Mühlen der Schiedsrichter-Kritiker, die bei dieser WM lauter denn je waren.

Zwei Überraschungen beendeten das Achtelfinale. Dafür sorgten die Gastgeber. Japans Aus gegen die Türkei (0:1) kam ebenso unerwartet wie Südkoreas 2:1 über Italien. Wieder war Trapattoni außer sich, und man konnte ihn verstehen. Ein Platzverweis für Totti in der Verlängerung und der aberkannte Ausgleich von Tommasi brachten Italien zum Weinen. Dabei hatten nur zwei Minuten zum Sieg gefehlt, ehe Südkorea noch ausglich.

Den Siegtreffer per Golden Goal erzielte ausgerechnet der in Italien bei Perugia spielende koreanische Nationalheld Jung Hwan Ahn, der daraufhin von seinem Klub entlassen wurde. „Wer Italien eliminiert, kommt nicht zurück“, sagte sein Präsident Luciano Gaucci und bot ihn zum Verkauf an. Wenig hatte Italien auch davon, dass Schiedsrichter Moreno Ende 2002 von der Schiedsrichterliste der FIFA gestrichen wurde.