Verlorenes Kruzifix

Weil Italien anschließend Südkorea 3:2 besiegte, zog es hinter Argentinien ins Achtelfinale ein. Die Gauchos wurden allerdings nach ihrem 2:0 über Bulgarien mit Pfiffen bedacht, und Maradona freute sich erst weit nach Abpfiff, als er auf dem Rasen sein verlorenes Kruzifix wiederfand. Bulgarien, das sich mit Südkorea eine denkwürdige Wasserschlacht lieferte (1:1), gehörte zu den glücklichen Dritten, die weiterkamen. Dabei hatten sie wie bei allen Turnierteilnahmen zuvor kein Spiel gewonnen.

In Gruppe B spielte der Gastgeber, und alle Augen waren auf Hugo Sanchez gerichtet. Der Superstar von Real Madrid konzentrierte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich und musste mit Kollegen-Neid leben. Nach dem 2:1 über Belgien lag ihm das ganze Azteken-Stadion zu Füßen, köpfte er doch ein Tor. In der hektischen Partie gegen Paraguay, in der 80 Freistöße gezählt wurden, aber verschoss er in letzter Minute beim Stand von 1:1 einen Elfmeter – und wurde Opfer des Personenkultes um ihn. Paraguay-Torwart Fernandez behauptete jedenfalls, er habe in den täglich dreimal wiederholten Werbespots in Mexiko zur Genüge gesehen, in welche Ecke Sanchez seine Elfmeter schießen würde. Sein Trainer Bora Milutinovic versuchte, den Star zu schützen: „Auch Hugo ist nur ein Mensch“. Für das letzte Spiel gegen den Irak war er gesperrt, was Kollege Manuel Negrete so kommentierte: „Wir haben uns 18 Monate lang ohne Hugo auf dieses Turnier vorbereitet. Jetzt können wir wieder auf unsere Taktik aus den Testspielen zurückgreifen.“

Kollegenschelte war in Mode in den Tagen von Mexiko, auch bei den Belgiern brannte es lichterloh: Vandereycken erklärte öffentlich, er könne nicht mit Scifo und Vercauteren zusammen spielen, Torwart Pfaff kritisierte Jungstar Scifo als „Alibi-Fußballer“. Und nach dem mühsamen 1:0 über den Irak blies Van der Elst zum Aufstand gegen den Trainer: „Er ist ein alter Mann, der immer mehr den Überblick verliert. Gegen Paraguay hat er eine Mannschaft aufgestellt, die ihm die Presse vorgeschrieben hat.“ Und die mit dem 2:2 hinter Mexiko und Paraguay weiter kam. Trainer Guy Thys lud dennoch zur nächtlichen Krisensitzung in Toluca, in der eine andere belgische Mannschaft entstand – die beste in der Geschichte des Landes.

Vom Titel aber träumten andere: „Warum eigentlich sollen wir nicht Weltmeister werden?“ fragte selbst Cayetano Ré, Trainer von WM-Neuling Paraguay nach dem zweiten Platz in Gruppe B, aus der sich der Irak punktlos und doch achtbar mit drei knappen Niederlagen verabschiedete. „Wir sind nicht enttäuscht, eher traurig, dass es nun vorbei ist“, sagte Trainer Evaristo Macedo. Im Spiel gegen Paraguay aber fühlten sie sich dennoch benachteiligt, war ihnen wie einst Brasilien 1978 doch ein Tor nach einer Ecke aberkannt worden, weil der Halbzeitpfiff dazwischenkam. Das brachte die 100 mitgereisten Fans, die sich hinter Saddam-Hussein-Transparenten vor der Hitze schützten, auf die Barrikaden.

Auch in Gruppe C blieb der Außenseiter punktlos, nicht mal ein Tor wollte den tapferen Kanadiern gelingen. Und doch verkauften sie sich weit besser als der Vorletzte Ungarn, der bei seiner bis dato letzten WM-Teilnahme ein Desaster erlebte. Gleich zum Auftakt setzte es im sozialistischen Bruderduell mit der UdSSR ein 0:6, bereits nach vier Minuten stand es 0:2. Binnen 90 Minuten waren die begeisternd kombinierenden Russen in Irapuato zum Geheimfavoriten aufgestiegen. Sie bestätigten diese Würde, die auch Bürde ist, beim 1:1 gegen die Franzosen, die mühsam aus den Startblöcken gekommen waren. Gegen Kanada (2:0) sicherte dann die Reserve der Russen den Gruppensieg. Im Grunde aber hatte sich in Gruppe C erstmals bei einer WM ein Verein fürs Achtelfinale qualifiziert, denn zeitweise standen neun Spieler von Europapokalsieger Dynamo Kiew auf dem Feld, und dessen Trainer Valerij Lobanowski trainierte auch die Nationalmannschaft. Russischer Zentralismus einmal anders.

Die Franzosen kamen erst im abschließenden Spiel in Form und schickten mit einem klaren 3:0 die Ungarn nach Hause. Auf das erste Tor von Michel Platini, 1984 Torschützenkönig bei der EM im eigenen Land, warteten die Fans noch. Sie hatten ihre eigene Art der Anfeuerung und warfen gegen Kanada (1:0) einen gerupften Hahn aufs Spielfeld. Der gallische Hahn schoss zwar kein Tor, machte den Spielern aber deutlich, dass die Heimat zusah und hohe Erwartungen hatte.

"Montezumas Rache"

Wie ein Weltmeister hatte das Team von Henri Michel noch nicht gespielt, aber wie fast alle Europäer machten sie Umstellungsprobleme auf Hitze und Höhenlage Mexikos geltend. Die Spanier hatten in Gruppe D noch einen anderen landestypischen Gegner: "Montezumas Rache" legte das halbe Team flach, und als es gegen Brasilien ging, mussten Stars wie Gallego und Gordillo krank im Bett bleiben. Trotzdem hätten sie gewinnen können, vielleicht sogar müssen im Jalisco-Stadion von Guadalajara. Michel traf in der 54. Minute die Lattenunterkante, und TV-Bilder zeigten, dass der Ball hinter der Linie gelandet war. Es kam, was kommen musste. Soctares köpfte nach 63 Minuten das einzige Tor des Tages, das Anerkennung fand, und Brasilien gewann schmeichelhaft mit 1:0. "Wir sind um den Sieg betrogen worden", sagte Libero Maceda stellvertretend für ganz Spanien. Immerhin kostete es nicht das Achtelfinale, gegen Nordirland (2:1) und Algerien (3:0) wurden die Punkte für Platz zwei eingefahren.

Brasilien bezwang auch Algerien nur mit 1:0, was dem Publikum nicht reichte. Wütende Pfiffe gab es nach der Achtelfinal-Qualifikation – als erstes Team –, und Tele Santana verstand die Welt nicht mehr: „Nur weil wir Brasilien sind, verlangt man von uns etwas Besonderes.“ Der Fluch der guten Taten aus Pelés Zeiten. Erstmals befriedigt wurde der Anhang beim 3:0 über die Nordiren, aber erst nach der Einwechslung von Edel-Reservist Zico kam Glanz in die Samba-Show. Mit einem Hackentrick bereitete der Rekonvaleszent bei seiner WM-Premiere 1986 ein herrliches Tor vor. Die biederen Nordiren konnten dagegen an ihre besten Tage nicht anknüpfen, im Gegensatz zu 1982 war schon in der Vorrunde Schluss. Sie gehörten zu den beiden Dritten, für die das Turnier zu Ende war. Kein Wunder bei nur 1:5 Punkten. So lautete auch Algeriens Bilanz. Auf der Tribüne stellte Berti Vogts nach dem 0:3 gegen Spanien fest: „Die Algerier haben sich gegenüber der WM 1982 deutlich verschlechtert.“

Es war nicht die WM der Exoten, nur ein Team aus Topf vier, der den Außenseitern bei der Auslosung vorbehalten war, überstand die Vorrunde. Marokko! In einer Gruppe mit England, Polen und Portugal hätte sich wohl jeder gefürchtet, und auf Marokko setzte niemand auch nur einen Cent. Aber was geschah? Ungeschlagen marschierten sie als erste Afrikaner der WM-Historie durch ins Achtelfinale, trotzten Polen und England in torlosen Spielen jeweils einen Zähler ab und wurden durch ein 3:1 über Portugal sogar Gruppensieger. Es war quasi der zweite Sieg auf mexikanischem Boden, denn zum Warmwerden hatten die Wüstensöhne ein Spiel gegen das Hotelpersonal ausgetragen und eine Auswahl aus Kellnern, Köchen und Liftboys 16:0 geschlagen. Afrikanische Lockerheit.

Portugal aber fuhr nach Hause, obwohl es zum Auftakt England 1:0 geschlagen hatte: „Wir haben den Gegner unterschätzt. Diese Niederlage ist ein Tiefschlag für den portugiesischen Fußball“, jammerte Trainer José Torres. Polen und das stolze England mogelten sich durch, mit jeweils 3:3 Punkten. Erst im letzten Spiel erfüllten die britischen Profis den Wunsch ihrer Fans, die während der zweiten torlosen Partie sangen: „All we are saying is give us a goal“. Gary Lineker vom FC Everton fühlte sich da offenbar besonders angesprochen und fabrizierte in Monterrey den ersten Hattrick dieser WM. Polen verdankte sein Weiterkommen dem 1:0 über Portugal durch ein Tor von Smolarek, dessen Auswechslung schon angezeigt war. Die Elf hatte aber nur noch wenig von dem Team, das 1982 Platz drei erkämpft hatte und schoss in Mexiko nur ein Tor. Das reichte für das Achtelfinale.

Magath spielt Schach

Die deutsche Mannschaft bestritt als Gruppenkopf alle Spiele in Queretaro und hatte 40 Kilometer südlich davon in San Juan Galindo Quartier bezogen. "La Mansion Galindo" diente der Legende nach schon dem Eroberer Hernando Cortez im 16. Jahrhundert als Domizil, erwies sich aber als hochmodernes Quartier inmitten einer Steinwüste. Die Spieler bewohnten zu zweit 40 Quadratmeter große Zimmer, fünf "Schnarcher" wie Briegel oder Thon bekamen Einzelzimmer.

Dort beschäftigten sie sich individuell, gleich drei spielten Schach: Rummenigge und Matthäus gegeneinander, Magath gegen einen Schachcomputer. Wer es sportlicher liebte, hatte Gelegenheit dazu auf sechs Tennisplätzen, die einen riesigen Swimming Pool umsäumten. Es hätte ein Paradies sein können, aber die Tage im La Mansion Galindo verliefen keineswegs ungetrübt. Der schlechte Fernsehempfang und die Telefonkosten (70 DM pro Minute) waren da noch die kleinsten Probleme.

Im Team führten die Protagonisten Schumacher und Rummenigge einen Machtkampf. Der Inter-Stürmer hielt sich nach zwei Muskelfaserissen wieder für einsatzfähig, aber Beckenbauer setzte auf den Kölner Klaus Allofs, und Rummenigge meinte das Schumacher zu verdanken, der in seiner Abwesenheit Kapitän war. „Der Toni macht Stimmung gegen mich“, sagte Rummenigge. In der Aussprache beharrte er darauf, ein Wort gab das andere und Schumacher sprang auf. Er wollte sogar abreisen. Wütend rannte er auf sein Zimmer und stemmte Hanteln. Magath kam hinein, dann Völler und schließlich Beckenbauer, alle wollten sie ihn an den Verhandlungstisch zurückholen. In seinem Buch schreibt Schumacher: „Eine halbe Stunde predigte Franz an mir vorbei in die Wüste. Ich schwieg verbissen – die Hanteln hoch, die Hanteln runter, in der stillen Sehnsucht, sie ihm ins Kreuz zu schmeißen.“ Beckenbauer platzte irgendwann der Kragen: „Wenn Du nicht sofort mit deinen Scheißhanteln aufhörst, dann schmeiße ich die Dinger aus dem Fenster!“. Tonis Reposte: „Die Dinger kannst Du gar nicht heben.“ Beide lachten.

Ein Scherz entspannte die Atmosphäre, und vor dem dritten Spiel gegen Dänemark gab DFB-Delegationschef Egidius Braun eine Erklärung ab: „Karl-Heinz Rummenigge hat im Beisein von Franz Beckenbauer, Horst Köppel, Berti Vogts, Klaus Allofs, Pierre Littbarski und mir mit Toni Schumacher diskutiert. Rummenigge hat sich überzeugen lassen, dass die Vorwürfe, die er gegenüber Schumacher erhoben hat, nicht stimmen. Damit sind die Differenzen ausgeräumt.“

Zunächst ging es gegen Uruguay, das froh war, dass sein Trainer Omar Borras noch lebte. Beim Training war eine Hochspannungsleitung eingestürzt, und die Kabel fielen zischend vor seine Füße. Die Startformation gab endlich Antworten auf die offenen Fragen: Klaus Augenthaler als Abwehrchef, Norbert Eder und Andy Brehme im defensiven Mittelfeld und im Sturm das Duo Völler/Allofs. Diese Elf erlitt gleich einen klassischen Fehlstart, denn Lothar Matthäus spielte in der fünften Minute einen Fehlpass von der Mittellinie, für den sich Alzamendi bedankte. 1:0 für Uruguay hieß es auch noch fünf Minuten vor Schluss, ehe Klaus Allofs der erlösende Ausgleich zum 1:1-Endstand gelang. Beckenbauer war nach der Hitzeschlacht versöhnlich: „Dieser Hut kann gar nicht groß genug sein, den ich vor meiner Mannschaft ziehen muss!“

Uli Stein nahm in der Pause demonstrativ ein Sonnenbad vor der Bank, er konnte sich mit der Zuschauerrolle nur sehr schwer abfinden. Vorboten neuen Ärgers. Gegen Schottland schaffte die Mannschaft den ersten Sieg (2:1), wieder musste sie ein früher Rückstand ermuntern. Aber auf die Stürmer war Verlass: Rudi Völler und Klaus Allofs trafen.

Im letzten Gruppenspiel gegen Dänemark setzte es prompt die erste Niederlage, auch wenn Beckenbauer vom „vielleicht besten WM-Spiel überhaupt“ sprach. Nach dem verdienten 2:0 für die Dänen meinte deren Trainer Sepp Piontek über sein Heimatland: „Wenn das alles ist, was der deutsche Fußball zu bieten hat…“