Netzer als Kolumnist nach Mexiko

Fakt aber war: rein sportlich harmonierten sie bis dato nicht. Eine andere Sorge galt Gladbachs Spielmacher Günter Netzer, der sich mit einer Verletzung plagte und schließlich nur als Bild-Zeitungs-Kolumnist nach Mexiko reiste, wenngleich in DFB-Montur. Zur Ausstattung der 22 Spieler gehörten unter anderem ein Fotoapparat, ein „Saba-Kassettenrecorder“, ein Elektrorasierer und zwei „Fritz-Walter-Freizeithemden“. Die Ankleidung dauerte drei Stunden, ehe der Tross reisefertig war. Im Kader standen mit Helmut Haller und Karl-Heinz Schnellinger zwei Italien-Legionäre, um deren termingerechte Abstellung es noch einige Scharmützel gab. Eine Stammformation war aus all diesen Gründen noch nicht gefunden.

„Vor dem Turnier 66 wusste man, welchem Team der Bundestrainer vertraute und welche nur als eiserne Reserve mit auf die Insel fahren würden. Diesmal ist es nach dem letzten Test anders“, stellte der Kicker am Tag des Abflugs fest. Das Blatt machte auch eine Umfrage bei den 18 Bundesliga-Trainern und immerhin acht trauten Schöns Auswahl das Finale zu. Sie sollten irren. Als wahre Experten sollten sich übrigens Gladbachs Meister-Trainer Hennes Weisweiler und Bremens Hans Tilkowski erweisen, die sogar die Paarung richtig voraussagten.

In Comanjilla genossen die Spieler zunächst die exotische Atmosphäre, auch Training im Schatten von Kakteen kannten sie nicht. Co-Trainer Jupp Derwall war der Erste, den sie in den Pool warfen, Reservist Max Lorenz der Zweite. Die Hoffnungsträger der Nation, die erstmals theoretisch alle Spiele vor dem Bildschirm in Farbe mitverfolgen konnte, spielten in der reichlich bemessenen Freizeit Tischtennis und Billard, abends schrieben sie Hunderte Autogrammkarten und sahen Heimatfilme im Freilichtkino auf dem Gelände. Aber die Zeit bis zum Anpfiff wurde ihnen allmählich zu lang. ARD-Reporter Ernst Huberty schildert in seinem WM-Buch die Stimmung recht poetisch: „So könnte man meinen, unsere Spieler hätten tatsächlich eine Zeit in einem makellosen Paradies verlebt. Aber keine Rose ist ohne Dornen, und auch Paradiese haben es so an sich, nicht ohne Makel zu sein. So war es auch in Balneario. So wurden selbst die Busfahrten zum kurzen Training in León und zur

Besichtigung des Stadions zur Erholung vom Einerlei. Immer wieder war man sich darüber einig, dass es höchste Zeit sei, dass die Weltmeisterschaft ihren Anfang nähme.“ Huberty kommt zu dem Fazit: „Bedenkt man all das, dann hat die deutsche Mannschaft nicht nur in Mexiko großartig gespielt, sondern auch den Kampf gegen die Langeweile erfolgreich bestanden.“

Was den mitgereisten Reportern noch schwerer fiel. Schön hielt sie bei den Interviews hinter einer „gedachten Linie“, die sie nicht überschreiten durften, auf Distanz. Viel erfuhren sie nicht – und alles, was sie aufschnappten an vermeintlichen Misstönen gerade unter Ersatzspielern wurde als Lagerkoller deklariert und in die Heimat gemeldet. Schließlich hieß es sogar, ein „Schuhkrieg“ sei ausgebrochen, weil immerhin 16 Spieler im Verein mit Puma-Tretern aufliefen und nun entschädigt werden wollten für den gar nicht mehr so selbstverständlichen Marken-Wechsel, da Deutschland seit 1954 in Adidas-Schuhen auflief. Fritz Walters Zeiten waren vorbei, das Profitum regierte längst. Als nun ein Puma-Vertreter im DFB-Quartier auftauchte und Schuhe seines Fabrikats dabei hatte, drohte ein Eklat.

Bis zum 3. Juni mussten sie warten, ehe sie in einem Spiel auflaufen durften. Da lief die WM schon drei Tage. Zur Eröffnung hatte es ein traditionell tristes 0:0 zwischen Gastgeber Mexiko und den Russen gegeben. In Erinnerung blieben den TV-Zuschauern nur die unfreundlichen Pfiffe für die Einlauf-Kinder, die England vertraten, und die vielen bunten Luftballons, die gen Himmel stiegen. 112.000 Mexikaner feierten dennoch eine Fiesta und gaben der WM von Beginn an ein fröhliches, heiteres Gesicht.

Da gönnte man es den Mexikanern auch umso lieber, dass ihre Mannschaft gemeinsam mit den Russen die Vorrunde überstand. Belgien und El Salvador, das torlos abreiste, schieden aus. Um den Gruppensieger zu ermitteln, musste übrigens gelost werden und die Russen gewannen – auch das Recht, im riesigen Aztekenstadion zu spielen, während die Gastgeber zum Viertelfinale gegen Italien nach Toluca reisen mussten.

Italiener als Minimalisten ins Viertelfinale

Die Italiener waren eine besondere „Attraktion“ dieser Vorrunde, brachten sie es doch fertig, mit einem Torverhältnis von 1:0 Gruppensieger zu werden. Nur gegen Schweden gewann der Europameister, Uruguay und im letzten Spiel sogar Israel ertrotzten einen Punkt. Uruguay verhalf er ins Viertelfinale, Israel nur zu einem weiteren Achtungserfolg nach dem 1:1 gegen die Schweden. In dieser Gruppe fielen nur sechs Tore und damit weniger, als Gerd Müller allein in der Vorrunde erzielte.

In der Todesgruppe 3 setzte sich Brasilien wie erwartet durch, auch das Spitzenspiel gegen England gewannen die Südamerikaner (1:0). Nur weil sie sich danach gegen Rumänien (3:2) nicht hängen ließen, was bei qualifizierten Teams schon mal passieren kann, rutschte England (1:0 gegen die punktlosen Tschechen) ins Viertelfinale. Hier kam es in León zur Revanche von Wembley, denn Deutschland hatte alle Spiele gewonnen und somit den Gruppensieg geschafft. Wer das Auftaktspiel gegen die Marokkaner sah, träumte zunächst nicht mehr vom Viertelfinale. „Mit dem 2:1 gegen den krassen Außenseiter Marokko kam man gerade noch an einer Blamage vorbei“, atmete nicht nur die Süddeutsche Zeitung auf. Nach dem Pausen-Rückstand drehten ausgerechnet die Männer, die in Comanjilla ein Zimmer belegten und angeblich nicht harmonierten, die Partie. Uwe Seeler und Gerd Müller schossen die Tore zum Sieg, der sich wie eine Niederlage anfühlte und tatsächlich einen Verlierer hatte.

Für Helmut Haller, von Teilen der Presse vehement gefordert, war die WM nach 45 Minuten beendet. Schön wechselte ihn aus und brachte ihn fortan nicht mehr. Dass dieses „Trauerspiel“ (Kicker) nur 8000 Zuschauer gesehen hatten, war kein echter Trost. Gegen Bulgarien, weit stärker eingeschätzt als Marokko, musste eine Steigerung her. Wieder geriet man in Rückstand, aber dann kam der große Auftritt des Haller-Vertreters Reinhard „Stan“ Libuda. Der Schalker glich nicht nur nach 19 Minuten aus, er bereitete in der Folge drei weitere Tore vor. Gerd Müller (3 Tore) und Uwe Seeler dankten es ihm. Am Ende hieß es 5:2 und nun war auch der Kicker beruhigt: „So haben wir vor keinem Angst!“. Auch nicht im Spiel um den Gruppensieg vor den punktgleichen Peruanern.

Gerd Müller markierte an diesem 10. Juni als zweiter DFB-Spieler überhaupt nach Edmund Conen 1934 einen Hattrick bei einer WM. Das Pausen- war auch das Endergebnis (3:1) und Perus brasilianischer Trainer Didi tröstete sich: „Wir wurden von einer großen Mannschaft besiegt, einer Mannschaft, die in dieser Meisterschaft sehr weit kommen wird.“ Das galt es schon am 14. Juni zu beweisen. Wieder war der Spielort León. Nun aber ging es nicht mehr nur um Punkte, sondern ums Weiterkommen.

Der alte Rivale England, erstmals überhaupt 1968 in Hannover (1:0) bezwungen, hatte etwas von seinem Schrecken verloren und steckte in nicht alltäglichen Schwierigkeiten. Die Briten mussten sich einer ständigen Antipathie erwehren in Mexiko. Schadenfreude und Häme begleitete sie bei allen Spielen. Hinzu kam die belastende Affäre um Bobby Moore, der bei der Anreise in Bogota/Kolumbien von der Polizei als vermeintlicher Juwelen-Dieb festgenommen worden war. Ein Juwelier im Team-Hotel vermisste ein 600 Pfund teures Armband. Erst nach vier Tagen wurde er freigelassen, er war das Opfer von Betrügern geworden, die ihr Geld damit verdienten, Prominente in Fallen zu locken, um sie zu erpressen. Da war der Umstand, dass Weltmeister-Torwart Gordon Banks just vor der Revanche Montezumas Rache ereilt hatte, fast schon eine Lappalie. Ihn vertrat Peter Bonetti.