"Ich musste leider so laut wie noch nie bei der Nationalmannschaft werden"

Während Deutschland nach einer desolaten Defensivleistung, der Kicker sprach von einer "Abwehr wie ein Hühnerhaufen", den Niederländern 1:3 (Tor: Klinsmann) unterlag, überrannten die Bravehearts zeitgleich die Russen mit 3:0. Schon nach 17 Minuten hieß es 2:0, 2000 Fans feierten ihre Helden, die nicht mit leeren Händen auf ihre Insel zurückflogen: sie erhielten von der UEFA den Fair-Play-Preis.

Im Halbfinale aber standen Europameister Niederlande und Weltmeister Deutschland – ganz wie es die Experten voraussagten. Aber diesen Verlauf sah dann doch niemand vorher. Vogts brach mit Teilen der Mannschaft, opferte die Frankfurter Binz (schon zur Halbzeit) und Möller und erzählte der Presse: "Ich musste leider so laut wie noch nie bei der Nationalmannschaft werden und habe harte Worte gebraucht, die ich Nationalspielern gegenüber nicht gerne benutze." Die Niederländer aber spielten wie der neue Europameister und waren nach den 90 Minuten von Göteborg der große Favorit. Zumal im Halbfinale "nur" die Dänen warteten. Doch zunächst spielten die Deutschen gegen den im Rasunda-Stadion noch ungeschlagenen Gastgeber.

Die Mittsommersonne erhellte auch bei dieser Partie die Szenerie, Flutlicht wurde trotz der Anstoßzeit von 20.15 Uhr (wie bei den meisten Partien) nicht gebraucht. Das gab dieser EM ihren eigenen Charakter, über Schweden lachte die Sonne.

Über der Mannschaft an diesem Tag nicht mehr. Vogts baute eine neue Elf, um das Finale zu erreichen, was das Minimalziel des Weltmeisters war. Für Binz rückte Thomas Helmer, zuvor im Mittelfeld, auf den Libero-Posten. Matthias Sammer. Matthias Sammer, gegen die Niederländer noch Joker, bekam den Dirigentenstab in die Hand gedrückt und die genesenen Haudegen Guido Buchwald und Stefan Reuter kehrten in die Abwehr zurück. Für Eintagsfliege Michael Frontzeck und Andy Möller sowie den bedauernswerten Manfred Binz war die EM beendet.

DFB-Team eliminiert Gastgeber im Halbfinale

Der Erfolg gab Vogts Recht. In Stockholm überzeugte der Weltmeister endlich auch spielerisch, auch wenn wieder ein Standard zum 1:0 führte: Thomas Häßler, der in Schweden in der Form seines Lebens war, zirkelte einen Freistoß an Ravelli vorbei ins Netz (11.). Zur Pause hätte der Weltmeister weit höher führen können, doch Sammer, Klinsmann und Brehme, der die Latte traf, hatten Pech im Abschluss. Die erste Chance der konsternierten Schweden wurde in der 51. Minute registriert, als auch Bodo Illgner einmal gebraucht wurde. Ehe die Schweden daraus allzu viel Mut ziehen konnten, schlug Karl-Heinz Riedle, damals bei Lazio Rom, zu (60.).

Wie so oft bei EM-Endrunden gab es dann einen unberechtigten Elfmeter gegen die Deutschen, Helmers Attacke gegen Klas Ingeson galt dem Ball. Brolin vollstreckte, es war wieder spannend (65.). Erst in vorletzter Minute erlöste der starke Riedle mit seinem zweiten Treffer die Heimat. Ein Leichtsinnsfehler Illgners brachte den Schweden durch Kennet Andersson noch das 2:3, aber das Finale im eigenen Land verpassten sie dennoch. Stockholm sah die Auferstehung des Weltmeisters und der Kleinste war der Größte: Thomas Häßler erhielt allenthalben Lob, Italiens Gazetta dello Sport verglich ihn mit Maradona und Vogts fand: "Für mich ist er neben van Basten der beste Spieler des Turniers."

Da ahnte er noch nicht, welche Rolle Marco van Basten, Star der EM 1988, am nächsten Tag spielen würde. Vor der Partie sagte der Stürmer des AC Milan noch: "Ein K.o. gegen die Dänen wäre für uns die schlimmste Blamage. Dagegen wäre der Rausschmiss gegen die Vogts-Truppe ein Klacks gewesen." Van Basten selbst sorgte dann nach dem einzigen Spiel, das in die Verlängerung musste (2:2 nach 90 und 120 Minuten) für die Blamage. Beim Elfmeterschießen trafen neun von zehn Schützen, nur er scheiterte an Torwart-Hüne Peter Schmeichel, der "vom Fernsehen wusste, wohin Marco schießt".

Die Sensation war perfekt, Dänemarks "Big Mac-Truppe", wie sie in einer Mischung aus Respekt und Spott genannt wurde, stand im Finale. Nach nur einem Sieg in vier Spielen, sofern das Elfmeterschießen nicht zählt. Dennoch waren sich die Beobachter einig: die Besseren hatten sich durchgesetzt. Tribünengast Berti Vogts: "Sie haben mit Herz gekämpft und sich den Finaleinzug verdient." Zumal sie zur fehlenden Vorbereitung weitere Nachteile kompensierten. Henrik Andersen vom 1. FC Köln schied mit Kniescheibenbruch aus und zwei Kameraden (Sivebaek und Olsen) humpelten dem Abpfiff förmlich entgegen.

Dänemark bringt die Fußballwelt durcheinander

Der Torwart der enttäuschten Niederländer, Hans van Breukelen, räumte ihnen keine Chancen fürs Finale ein: "Die Dänen sind total kaputt. Die Deutschen sind bereits Weltmeister, jetzt werden sie auch noch diesen Titel holen. Dies wird für mich schlaflose Nächte bedeuten." So hört sich Frust an. Man konnte ihn auch sehen, etwa als nach der Partie Fans der Niederländer ihre bereits gekauften Final-Karten verbrannten. Dänemark brachte die ganze Fußballwelt durcheinander. Und die Heimat auch. Extrabladet titelte euphorisch: "Komm nur, Deutschland, wir nehmen das Gold. Die Favoritenkiller haben die Weltstars aus Holland bezwungen."

Fehlten also nur noch die Deutschen. Der Fußball hatte schon damals kaum noch Geheimnisse, auch wenn es die letzte EM vor dem Internet war. Aber dass in John Jensen (zuvor HSV), Brian Laudrup (Bayern), Fleming Povlsen (Dortmund) und Bent Christensen (Schalke) nebst dem verletzten Kölner Andersen fünf bundesligaerfahrene Spieler im Kader standen, konnte nichts schaden. Überraschen konnte die deutsche Elf diese Dänen nicht, zumal Vogts sie nicht mehr änderte.

Vor 37.800 Zuschauer trafen die Nachbarländer im Ullevi-Stadion von Göteborg, das wegen der Halbfinal-Pleite 1958 gegen Schweden kein gutes Omen zu sein schien, am 26. Juni 1992 aufeinander. Die Dänen hatten ein gefühltes Heimspiel, Rot-Weiß dominierte auf den Rängen. Und schon bald auch auf dem Platz. Vor der Pause ließen die Dänen nur drei Chancen zu, Reuter und Effenberg scheiterten an Schmeichel, Klinsmann verzog knapp.

Der erste dänische Schuss freilich war drin: Kim Vilfort, zwischenzeitlich wegen seiner an Leukämie erkrankten Tochter abgereist, erkämpfte nicht ganz fern den Ball von Brehme und bediente John Jensen. "Schieß, schieß, wenn der Keeper hält, ist es egal", will er sich vor dem Hammer aus 17 Metern gedacht haben. Effenberg warf sich ihm noch auf groteske Weise wie ein Skispringer entgegen. Doch der Ball schlug unhaltbar neben Illgner ein. "Nicht auszudenken, wenn die Dänen Europameister werden", sprach ARD-Kommentator Heribert Fassbender ins Mikrofon. Er meinte das gar nicht so sehr aus deutscher Sicht, sondern ganz allgemein. Eben weil es doch undenkbar war, dass eine Mannschaft ohne Vorbereitung Europameister wird. Aber sie wurden es.

Dänen feiern ihren "Triumph der Intelligenz"

"Vor diesem Tor waren wir alle müde und nervös, anschließend waren wir wach", erzählte Jensen. Die Deutschen waren vor allem wütend, noch auf dem Gang in die Kabine beschwerte sich Brehme bei Bruno Galler wegen des nichtgeahndeten Fouls an ihm.

Berti Vogts reagierte und wechselte Thomas Doll für Sammer ein. Doch es besserte sich nichts, erst in der 72. Minute bot sich die Ausgleichschance, aber Klinsmann scheiterte an Schmeichel. In der 78. Minute wurde das Finale entschieden. Vilfort überwand Illgner aus rund 20 Metern, keineswegs unhaltbar und leider erneut irregulär. Vimfort nahm zuvor die Hand zur Hilfe. Vogts verhalf noch Andreas Thom zu seinem EM-Debüt, aber der Leverkusener konnte in neun Minuten auch nichts mehr retten. Die Deutschen fanden einfach kein Mittel gegen die Dänen, denen Extrabladet einen "Triumph der Intelligenz" attestierte.

Auch Vogts huldigte dem Sieger: "Wer gegen England nicht verliert, wer Frankreich, Holland und Deutschland besiegt, ist ein würdiger Europameister." In Kopenhagen feierten am nächsten Tag rund eine Million Menschen die größte Sensation bei einem großen Fußballturnier, die erst von den Griechen 2004 in den Schatten gestellt werden sollte.

"Wir haben Geschichte geschrieben. Das wird es nie mehr geben, dass eine Mannschaft mit acht Tagen Vorbereitung Europameister wird", sagte Brian Laudrup. In der Tat. Und das machte den verdienten und noch immer einmaligen Triumph der Dänen vom ersten Moment an so besonders. Die Deutschen, die nunmehr EM-Rekordfinalist waren (vier Teilnahmen), leckten ihre Wunden. Berti Vogts sah es gelassener als ein Teil der Öffentlichkeit: "Wir sind Vize-Europameister, deshalb bin ich nicht enttäuscht. Wir müssen zufrieden sein mit dem was wir hier erreicht haben." 1996 durfte es dann noch ein bisschen mehr sein.

Kaum Steigerungsbedarf propagierte dagegen die UEFA, die einen Rekordgewinn 55,08 Millionen Schweizer Franken einfuhr. Die EM-Idee erklomm immer höhere Gipfel.