Künzers Köpfchen: Mit Golden Goal zum ersten WM-Titel

An einem Sonntagabend, heute vor genau 20 Jahren, saßen rund 13,6 Millionen Menschen in Deutschland vor dem Fernseher und schauten ARD. Ein Bruchteil von ihnen mag lieber etwas anderes gesehen haben als das, was da über die Mattscheibe flimmerte. Aber das WM-Finale der Frauen 2003 war so wichtig, dass sich der heilige "Tatort" nach hinten verschob. Einen Krimi bekam man ja trotzdem zu sehen am Tag, als Deutschland erstmals Weltmeisterin wurde – durch ein Golden Goal. Wie kam das damals, far away in America? Sicher nicht ganz unerwartet, aber keineswegs zwangsläufig.

Europameister waren sie ja schon fünfmal geworden, der internationale Respekt vor den deutschen Fußballfrauen war groß. Aber dass sie 2003 im Land des amtierenden Weltmeisters siegen würden, war nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Als es heute vor genau 20 Jahren dann passierte, sagte Bundestrainerin Tina Theune (damals Theune-Meyer; Anm. d. Red.): "Das ist unglaublich. Das hätten wir uns nicht träumen lassen."

Das galt auch für den Empfang auf dem Frankfurter Römer, wo man bisher immer nur männliche Fußballer dermaßen euphorisch gefeiert hatte. 8000 Menschen aber waren zwei Tage nach dem Triumph von Carson bei Los Angeles gekommen, um die Heldinnen des deutschen Fußballs zu feiern.

Fünf Siege auf dem Weg ins Endspiel

Sie hatten es sich verdient, mit begeisterndem Fußball. Es war ein glatter Durchmarsch zum Titel, alle sechs Spiele wurden gewonnen - mit der WM-Rekordzahl von 25 Toren. "Wir sind verdient Weltmeister geworden", beteuerte Silvia Neid, damals Co-Trainerin und vier Jahre später als Cheftrainerin an der geglückten Titelverteidigung in China maßgeblich beteiligt.

Der Weg zum Titel, nur scheinbar war es ein müheloser. In der Vorrunde gab es ein 4:1 gegen Kanada, ein 3:0 gegen Japan und ein 6:1 gegen Argentinien. Im zweiten Spiel aber verloren die DFB-Frauen schon Abwehrchefin Steffi Jones mit Kreuzbandriss. Es warf sie nicht aus der Bahn. Im Gegenteil: Im Viertelfinale gab es mit 7:1 den höchsten Sieg gegen völlig überforderte Russinnen.

Dann kam das Halbfinale gegen Gastgeber und Titelverteidiger USA. Wäre der Weg hier zu Ende gewesen, niemand hätte von einer Blamage gesprochen. Aber es kam anders – ein Kopfballtor von Kerstin Garefrekes stellte in Portland die Weichen schon nach 15 Minuten auf Sieg. Silke Rottenberg im Tor machte in ihrem womöglich besten Länderspiel etliche Ausgleichschancen zunichte, in den Schlussminuten schossen Maren Meinert und Birgit Prinz nach Kontern einen etwas zu hohen 3:0-Überraschungssieg heraus in einem der besten Länderspiele der WM-Geschichte.

Und wieder Schweden im Finale

So kam es am 12. Oktober 2003 zum Wiedersehen mit den Schwedinnen, die den Deutschen schon 2001 im EM-Finale von Ulm viel Mühe bereitet hatten, ehe sie sich mit 0:1 geschlagen geben mussten. Die Anstoßzeit war absolut unmöglich. Dem Fernsehpublikum in Europa zuliebe wurde um zehn Uhr Ortszeit gespielt. Für die Akteure bedeutete das: Morgens um fünf Abschlusstraining auf einem Parkdeck, man spielte noch vor Tagesanbruch Fünf gegen Zwei. Alles für den Sieg!

Der war ein hartes Stück Arbeit. Während die deutsche Überlegenheit vor der Pause nicht belohnt wurde, nutzte Hanna Ljungberg die erste Konterchance für die Schwedinnen (41.). So blieb es bis nach Wiederanpfiff, aber lange dauerte es nicht mehr, bis der Ausgleich von der Anzeigetafel flimmerte. Maren Meinert traf schon nach 43 Sekunden in Halbzeit zwei mit einem allerdings haltbaren Flachschuss. Auf weitere Tore mussten die 26.137 Zuschauer dann aber länger warten. Wie in Ulm bei der EM fiel die Entscheidung erst in der Verlängerung, in der damals die Golden-Goal-Regelung zum Einsatz kam.

Künzers goldener Moment

Dieser Umstand verschaffte der in der 88. Minute eingewechselten Frankfurterin Nia Künzer Weltruhm. Nach drei Kreuzbandrissen hatte sie sich auf den letzten Drücker in den Kader gekämpft und war auf drei Jokereinsätze gekommen. Der vierte machte aus ihrer Nebenrolle eine Hauptrolle, besser: die Rolle ihres Lebens. Die Trainerin sagte ihr bei der Einwechslung noch, sie möge zusehen, "dass hinten keins fällt – und vorne mach eins".

Künzer gehorchte, zum Wohle aller Deutschen. Nach einer Flanke von Renate Lingor, die noch schnell ihre Haare gerichtet und dabei Künzers Namen gerufen hatte, stieg der Joker in der 98. Minute zum Kopfball hoch, setzte sich gegen die Bewachung durch und erzielte das Tor zum Titel. Denn danach war sofort Schluss. Ihr Golden Goal wurde zum Tor des Jahres 2003 gewählt – und das mit Recht.

Künzer sagte erst dieser Tage wieder, sie habe sich das Tor schon Hunderte Male angesehen "und es kommen immer wieder die Erinnerungen hoch." Das Tor ihres Lebens hatte weit nach Spielschluss Konsequenzen für die eloquente Frau, deren Karriere schon kurz nach der WM nach dem vierten Kreuzbandriss jäh endete: Sie wurde TV-Expertin bei Frauenspielen in der ARD und zu einem der bekanntesten Gesichter des deutschen Frauenfußballs.

"Einmal Weltmeister, immer Weltmeister"

2003 sorgte ihr Tor für einen Lichtblick in sportlich eher trüben Zeiten, die Männermannschaft hatte erhebliche Mühe, sich für die EM zu qualifizieren, die Vereine gingen in den europäischen Wettbewerben leer aus. Nun aber hatte Deutschland seine "First Ladies", wie der Kicker titelte. Den Triumph rundete der persönliche Erfolg von Birgit Prinz ab, die mit sieben Treffern WM-Torschützenkönigin und zur besten Spielerin gewählt wurde. Mit vier Mitspielerinnen (Silke Rottenberg, Sandra Minnert, Kapitänin Bettina Wiegmann und Maren Meinert) schaffte sie es auch ins All-Star-Team der WM.

Heldinnen aber waren sie alle, das betonte Renate Lingor noch 20 Jahre später, als sich die Weltmeisterinnen im Juni auf Einladung des DFB wieder sahen: "Auch die, die nicht gespielt haben, waren eine Bank. Die haben uns gepusht, sich eingebracht mit Plakaten oder emotionalen Worten." Keine Elf wurde Weltmeister, sondern ein Team.

Das Honorar fiel zwar im Vergleich zu den Männern bescheiden aus (21.000 Euro pro Kopf), erreichte aber trotzdem neue Dimensionen. Die Gefühle blieben sowieso unbezahlbar – bis auf den heutigen Tag. Silke Rottenberg hat es so ausgedrückt: "Einmal Weltmeister, immer Weltmeister. So etwas bleibt im Herzen und den Gedanken. Es gibt nichts Größeres im Fußball."

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An einem Sonntagabend, heute vor genau 20 Jahren, saßen rund 13,6 Millionen Menschen in Deutschland vor dem Fernseher und schauten ARD. Ein Bruchteil von ihnen mag lieber etwas anderes gesehen haben als das, was da über die Mattscheibe flimmerte. Aber das WM-Finale der Frauen 2003 war so wichtig, dass sich der heilige "Tatort" nach hinten verschob. Einen Krimi bekam man ja trotzdem zu sehen am Tag, als Deutschland erstmals Weltmeisterin wurde – durch ein Golden Goal. Wie kam das damals, far away in America? Sicher nicht ganz unerwartet, aber keineswegs zwangsläufig.

Europameister waren sie ja schon fünfmal geworden, der internationale Respekt vor den deutschen Fußballfrauen war groß. Aber dass sie 2003 im Land des amtierenden Weltmeisters siegen würden, war nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Als es heute vor genau 20 Jahren dann passierte, sagte Bundestrainerin Tina Theune (damals Theune-Meyer; Anm. d. Red.): "Das ist unglaublich. Das hätten wir uns nicht träumen lassen."

Das galt auch für den Empfang auf dem Frankfurter Römer, wo man bisher immer nur männliche Fußballer dermaßen euphorisch gefeiert hatte. 8000 Menschen aber waren zwei Tage nach dem Triumph von Carson bei Los Angeles gekommen, um die Heldinnen des deutschen Fußballs zu feiern.

Fünf Siege auf dem Weg ins Endspiel

Sie hatten es sich verdient, mit begeisterndem Fußball. Es war ein glatter Durchmarsch zum Titel, alle sechs Spiele wurden gewonnen - mit der WM-Rekordzahl von 25 Toren. "Wir sind verdient Weltmeister geworden", beteuerte Silvia Neid, damals Co-Trainerin und vier Jahre später als Cheftrainerin an der geglückten Titelverteidigung in China maßgeblich beteiligt.

Der Weg zum Titel, nur scheinbar war es ein müheloser. In der Vorrunde gab es ein 4:1 gegen Kanada, ein 3:0 gegen Japan und ein 6:1 gegen Argentinien. Im zweiten Spiel aber verloren die DFB-Frauen schon Abwehrchefin Steffi Jones mit Kreuzbandriss. Es warf sie nicht aus der Bahn. Im Gegenteil: Im Viertelfinale gab es mit 7:1 den höchsten Sieg gegen völlig überforderte Russinnen.

Dann kam das Halbfinale gegen Gastgeber und Titelverteidiger USA. Wäre der Weg hier zu Ende gewesen, niemand hätte von einer Blamage gesprochen. Aber es kam anders – ein Kopfballtor von Kerstin Garefrekes stellte in Portland die Weichen schon nach 15 Minuten auf Sieg. Silke Rottenberg im Tor machte in ihrem womöglich besten Länderspiel etliche Ausgleichschancen zunichte, in den Schlussminuten schossen Maren Meinert und Birgit Prinz nach Kontern einen etwas zu hohen 3:0-Überraschungssieg heraus in einem der besten Länderspiele der WM-Geschichte.

Und wieder Schweden im Finale

So kam es am 12. Oktober 2003 zum Wiedersehen mit den Schwedinnen, die den Deutschen schon 2001 im EM-Finale von Ulm viel Mühe bereitet hatten, ehe sie sich mit 0:1 geschlagen geben mussten. Die Anstoßzeit war absolut unmöglich. Dem Fernsehpublikum in Europa zuliebe wurde um zehn Uhr Ortszeit gespielt. Für die Akteure bedeutete das: Morgens um fünf Abschlusstraining auf einem Parkdeck, man spielte noch vor Tagesanbruch Fünf gegen Zwei. Alles für den Sieg!

Der war ein hartes Stück Arbeit. Während die deutsche Überlegenheit vor der Pause nicht belohnt wurde, nutzte Hanna Ljungberg die erste Konterchance für die Schwedinnen (41.). So blieb es bis nach Wiederanpfiff, aber lange dauerte es nicht mehr, bis der Ausgleich von der Anzeigetafel flimmerte. Maren Meinert traf schon nach 43 Sekunden in Halbzeit zwei mit einem allerdings haltbaren Flachschuss. Auf weitere Tore mussten die 26.137 Zuschauer dann aber länger warten. Wie in Ulm bei der EM fiel die Entscheidung erst in der Verlängerung, in der damals die Golden-Goal-Regelung zum Einsatz kam.

Künzers goldener Moment

Dieser Umstand verschaffte der in der 88. Minute eingewechselten Frankfurterin Nia Künzer Weltruhm. Nach drei Kreuzbandrissen hatte sie sich auf den letzten Drücker in den Kader gekämpft und war auf drei Jokereinsätze gekommen. Der vierte machte aus ihrer Nebenrolle eine Hauptrolle, besser: die Rolle ihres Lebens. Die Trainerin sagte ihr bei der Einwechslung noch, sie möge zusehen, "dass hinten keins fällt – und vorne mach eins".

Künzer gehorchte, zum Wohle aller Deutschen. Nach einer Flanke von Renate Lingor, die noch schnell ihre Haare gerichtet und dabei Künzers Namen gerufen hatte, stieg der Joker in der 98. Minute zum Kopfball hoch, setzte sich gegen die Bewachung durch und erzielte das Tor zum Titel. Denn danach war sofort Schluss. Ihr Golden Goal wurde zum Tor des Jahres 2003 gewählt – und das mit Recht.

Künzer sagte erst dieser Tage wieder, sie habe sich das Tor schon Hunderte Male angesehen "und es kommen immer wieder die Erinnerungen hoch." Das Tor ihres Lebens hatte weit nach Spielschluss Konsequenzen für die eloquente Frau, deren Karriere schon kurz nach der WM nach dem vierten Kreuzbandriss jäh endete: Sie wurde TV-Expertin bei Frauenspielen in der ARD und zu einem der bekanntesten Gesichter des deutschen Frauenfußballs.

"Einmal Weltmeister, immer Weltmeister"

2003 sorgte ihr Tor für einen Lichtblick in sportlich eher trüben Zeiten, die Männermannschaft hatte erhebliche Mühe, sich für die EM zu qualifizieren, die Vereine gingen in den europäischen Wettbewerben leer aus. Nun aber hatte Deutschland seine "First Ladies", wie der Kicker titelte. Den Triumph rundete der persönliche Erfolg von Birgit Prinz ab, die mit sieben Treffern WM-Torschützenkönigin und zur besten Spielerin gewählt wurde. Mit vier Mitspielerinnen (Silke Rottenberg, Sandra Minnert, Kapitänin Bettina Wiegmann und Maren Meinert) schaffte sie es auch ins All-Star-Team der WM.

Heldinnen aber waren sie alle, das betonte Renate Lingor noch 20 Jahre später, als sich die Weltmeisterinnen im Juni auf Einladung des DFB wieder sahen: "Auch die, die nicht gespielt haben, waren eine Bank. Die haben uns gepusht, sich eingebracht mit Plakaten oder emotionalen Worten." Keine Elf wurde Weltmeister, sondern ein Team.

Das Honorar fiel zwar im Vergleich zu den Männern bescheiden aus (21.000 Euro pro Kopf), erreichte aber trotzdem neue Dimensionen. Die Gefühle blieben sowieso unbezahlbar – bis auf den heutigen Tag. Silke Rottenberg hat es so ausgedrückt: "Einmal Weltmeister, immer Weltmeister. So etwas bleibt im Herzen und den Gedanken. Es gibt nichts Größeres im Fußball."

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