Auf den Spuren von Julius Hirsch

DEPORTATION IM MÄRZ 1943 | 25 DER AUSGANGSPUNKT DER DEPORTATION Am 1. März 1943 musste sich Julius Hirsch auf Anord- nung der Gestapo mit elf weiteren Personen am Karls- ruher Hauptbahnhof einfinden. Er bestieg dort einen Zug mit Personenwagen, in dem sich bereits min- destens 34 Jüdinnen und Juden aus Stuttgart befan- den und der mit einem Zwischenhalt in Trier weitere Deportierte zunächst nach Dortmund brachte, von wo aus die Deportation am nächsten Tag mit Güter- waggons und weiteren Zwischenhalten fortgesetzt wurde. Vom 1. bis 3. März 1943 verschleppten die Nationalsozialisten mit diesem Transport vermutlich mehr als 1.500 Jüdinnen und Juden aus knapp einem Dutzend deutscher Städte in das deutsche Konzen- trations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Diese Sammeldeportation war Teil der sogenann- ten Fabrikaktion, die die finale Deportation der im Reichsgebiet verbliebenen Jüdinnen und Juden einleiten sollte. Ende 1942 lebten im Deutschen Reich von ehemals rund 500.000 noch rund 50.000 jüdische Bürger*innen, mit 33.000 ein Großteil von ihnen in der Hauptstadt Berlin. 1 Viele der im Reich Verbliebenen gehörten zu Gruppen, die bis dato von der Deportation zurückgestellt worden waren: jüdische Deutsche, die in sogenannten Mischehen mit „arischen“ Partner*innen lebten, solche, die in den Organisationsprozess der Deportationen ein- bezogen wurden, oder Zwangsarbeiter*innen in der kriegswichtigen Rüstungsindustrie. Weil Letztere den Großteil der Deportierten aus dem Frühjahr 1943 ausmachten und viele direkt an den Arbeits- stätten verhaftet wurden, etablierte sich der Name Fabrikaktion. Bis zu diesem Zeitpunkt war Julius Hirsch einer Depor- tation vermutlich durch die Ehe mit seiner nichtjüdi- schen Frau Ella entgangen: Bereits am 22. Oktober 1940 hatte der badische Gauleiter Robert Wagner die badischen Jüdinnen und Juden,darunter 905 Personen aus Karlsruhe, nach Südfrankreich deportieren lassen. Sie kamen dort zunächst u.a. in das Lager Gurs amFuße der Pyrenäen. Später wurden sie in Richtung Osten weiterdeportiert und nur wenige überlebten die deut- schen Konzentrations- und Vernichtungslager. Ausge- nommen von der Deportation blieben damals neben Menschen, die wie Julius Hirsch in einer sogenannten Mischehe lebten, auch jene Jüdinnen und Juden, die die Nazis als „Mischlinge ersten Grades“ ansahen. In der Annahme, seine beiden Kinder dadurch schüt- zen zu können, reichte Julius Hirsch Ende 1942 die Scheidung von Ella ein. Das Oberlandesgericht Karls- ruhe vollzog die Auflösung der Ehe mit Urteil vom 2. Dezember 1942. Julius Hirsch unterrichtete seine Familie bei einem Besuch Ende Februar 1943 darü- ber, dass er zum Zweck eines „Arbeitseinsatzes“ weg- gebracht würde. Bis zu diesem 1. März 1943 waren gut zehn Jahre vergangen, in denen die National- sozialisten vom Moment der Machtübertragung am 30. Januar 1933 an eine radikal antisemitische Politik betrieben, die letztendlich schrittweise die Grundla- gen zur Deportation und Ermordung der deutschen und europäischen Jüdinnen und Juden schuf. ANTISEMITISMUS ALS STAATSDOKTRIN IM NATIONAL- SOZIALISMUS Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) griff auf eine in Deutschland bereits stark verbreitete Ideenwelt und den ihr inhärenten Anti- semitismus zurück und erhob diesen ab 1933 zur Staatsdoktrin. Maßgeblich im Christentum verankert, herrschte jahrhundertelang ein kulturell-religiös motivierter Antisemitismus (häufig auch: Antijudais- mus) in Europa vor, der sich beispielsweise in gewalt- vollen Zwangstaufen und Pogromen entlud. Der Begriff „Antisemitismus“ selbst wurde erst ab 1879 von Personen aus Politik,Wissenschaft und Publizistik

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