Zinedine Zidane Superstar

Die 16. Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich stieß in neue Dimensionen vor und stellte an die Organisatoren nie gekannte Anforderungen. Die sich insbesondere in Osteuropa verändernde Staatenwelt einerseits und die fortschreitende Kommerzialisierung des Fußballs mit attraktiven TV-Verträgen andererseits führten zu einer Ausweitung des Teilnehmerfeldes auf 32 Mannschaften, die über 33 Tage 64 Spiele austragen mussten. Alle Kontinente erhielten mehr Teilnehmer: Europa erstmals 15, Afrika fünf, Südamerika und Asien vier, Mittel- und Nordamerika drei. Dieser Modus gilt bis heute. Die WM-Idee war somit an ihre Grenzen gestoßen.

Dass die WM-Qualifikation eine sinnvolle Einrichtung ist, erwies sich auch diesmal wieder: Elf Länder holten gar keinen Punkt, die Malediven und San Marino träumten bis zuletzt sogar vergeblich von einem Ehrentor. Beinahe jeder vierte FIFA-Verband aber nahm mittlerweile an der Endrunde teil, und für etablierte Nationen war es gar nicht mehr so leicht, sie zu verpassen. In Frankreich fanden sich folglich abgesehen von Uruguay wieder alle bisherigen Weltmeister ein. Dafür schafften es in Südamerika neben dem automatisch qualifizierten Titelverteidiger Brasilien mit Argentinien, Paraguay, Kolumbien und Chile ausnahmslos Länder mit einer Endrunden-Historie.

Debütant Jamaika setzt Farbtupfer

Die Concacaf-Staaten wurden wie fast immer von Mexiko vertreten, die USA schaffte es schon zum dritten Mal in Folge und Debütant Jamaika gab den exotischen Farbtupfer. Afrika entsandte neben Kamerun, Marokko und Tunesien mit Nigeria und Südafrika zwei echte WM-Neulinge. In Asien setzten sich Saudi-Arabien, der Iran sowie die kommenden WM-Gastgeber Japan und Südkorea durch. Den Erfolg der Saudis bewerkstelligte übrigens noch der deutsche Trainer Otto Pfister, doch mehr traute man ihm offenbar nicht zu: Ende 1997 wurde er entlassen.

Von Europas Fußballadel hatte es Italien noch am schwersten, der Vize-Weltmeister musste als Gruppenzweiter hinter England nachsitzen. Auf bewährte italienische Weise wurden die Entscheidungsspiele gegen Russland bewältigt: auswärts 1:1, zu Hause in Neapel 1:0. Die Überflieger Europas kamen aus Rumänien, das schon 1994 eine gute WM gespielt hatte. In ihrer Gruppe holten sie 28 von 30 möglichen Punkten. Dem am nächsten kamen Spanien (26) und überraschend die Österreicher (25), die den WM-Dritten Schweden ausschalteten.

Am dramatischsten verlief die Gruppe 7, wo wieder mal die Niederlande und Belgien aufeinandertrafen. Holland rettete sich mit einem Zähler Vorsprung ins Ziel, das Belgien über die Entscheidungsspiele mit Irland auch erreichte. Bulgarien, 1994 der Schrecken der Deutschen, löste erneut sein WM-Ticket und stach die Russen aus. Überhaupt musste der einstige sozialistische Ost-Block Federn lassen.

Die 18 Länder, die das Endresultat des zerbröckelnden Sowjet-Imperiums und der Unabhängigkeitsbestrebungen der jugoslawischen Teilrepubliken waren, sorgten zwar für Sechser-Gruppen im Überfluss und eine Rekordzahl von Qualifikationsspielen, aber nur vier lösten ein WM-Ticket. Darunter erstmals Kroatien, das zwar in der Gruppe Dänemark den Vortritt lassen musste, aber in den Entscheidungsspielen die Ukraine ausschaltete. Diese Ukrainer wiederum hatten bis zuletzt der deutschen Mannschaft Paroli geboten, die in Gruppe 9 auch Portugal, Armenien, Nordirland und Albanien ausschalten musste.

Vogts: "Keinen unserer Gegner haben wir beherrscht"

Dies tat die Auswahl von Berti Vogts ganz humorlos - obwohl sie ungeschlagen blieb, wurde bis zuletzt gezittert. Erst ein 4:3 über Albanien sicherte am 11. Oktober 1997 in Hannover den Gruppensieg für den amtierenden Europameister. Verteidiger Jürgen Kohler sprach aus, was viele dachten: „Wir können mit der gesamten Qualifikation nicht zufrieden sein, keinen unserer Gegner haben wir beherrscht.“

In manchen Spielen sah die Mannschaft buchstäblich alt aus – und das Alter war auch ihr Problem. Viele Nationalspieler hatten ihre besten Tage schon hinter sich, doch Vogts musste die Nachwuchsprobleme des deutschen Fußballs jener Tage ausbaden. Der Kader, den er Ende Mai nominierte, hatte einen Altersschnitt von 29,8 Jahre und übertraf in diesem Punkt alle bisherigen deutschen Aufgebote bei Weltmeisterschaften. Der Kicker fragte in seinem WM-Sonderheft zweifelnd: „Aus Erfahrung gut?“

Anfang Mai 1998 ließ sich Vogts aufgrund der Sorgen in der Abwehr - Matthias Sammer fiel aus und Olaf Thon war angeschlagen - sogar dazu bewegen, den 1996 von ihm aussortierten Münchner Lothar Matthäus zurückzuholen „weil nicht Sympathie zählt, sondern nur die Leistung.“

Lothar Matthäus: Rückkehr mit Risiko

Wenn auch zunächst nur für den Notfall: Der 37-jährige galt als Libero-Alternative. Doch war der Rekordnationalspieler, der er schon damals mit 125 Einsätzen war, ein Bankspieler? Und waren die Spannungen mit den Führungsspielern um Jürgen Klinsmann und Thomas Helmer wirklich ausgeräumt? Matthäus’ Rückkehr war jedenfalls ein Risiko, das Vogts herunterzuspielen versuchte: „Er ist ein Teil der Mannschaft, nicht mehr und nicht weniger.“

Andere wären es gerne gewesen. Doch Vogts ließ mit Mario Basler, Mehmet Scholl und Lars Ricken drei Kreativspieler daheim, was nicht nur Beifall fand. Dortmunds Ricken hatte er die WM sogar einst versprochen, und so musste Vogts ihn bitten, ihn von seinem Versprechen zu entbinden. Erfahrung war Vogts wichtiger vor dieser WM, bei der Deutschland allein schon wegen seines Europameister-Status zu den Favoriten zählte. Außerdem hatte die DFB-Auswahl nur eins der letzten 24 Spiele vor Turnierbeginn verloren, und Vogts prophezeite: „Es wird schwer, uns zu schlagen.“

Besonders viel erwartete der Bundestrainer vom Angriff. „Noch nie sind wir mit vier so starken Stürmern in ein Turnier gestartet“, meinte er angesichts der Tatsache, dass er neben Klinsmann mit Leverkusens Ulf Kirsten und Oliver Bierhoff (mit Udine in Italien) zwei aktuelle Torschützenkönige im Kader hatte. Das Quartett komplettierte Olaf Marschall vom Sensationsmeister 1. FC Kaiserslautern, der für den Aufsteiger in 24 Spielen 21-mal getroffen hatte. Nur klassische Flügelstürmer gab es wieder nicht, eine Konsequenz des modernen Fußballs, der zum Spiel mit zwei Spitzen tendierte. Diesen Part mussten in Vogts’ Plänen laufstarke Mittelfeldspieler wie der Dortmunder Jörg Heinrich oder Bayern Münchens Christian Ziege übernehmen.

Einen Vorteil sah Vogts auch in den Anstoßzeiten und Temperaturen, die im Vergleich zur WM 1994 wieder sportgerecht waren. „Um zwölf Uhr mittags kann man einen Western drehen, aber nicht wie 1994 ein WM-Spiel anpfeifen“, sagte er mit Blick auf die Hitzeschlachten in den USA, als seine erste WM als Bundestrainer im Viertelfinale enttäuschend geendet hatte. Diesmal sollte es mehr sein, am besten der Titel. „Ich sage nicht: Deutschland muss Weltmeister werden. Ich sage aber: Deutschland kann Weltmeister werden.“ Noch immer standen schließlich acht Spieler im Kader, die das 1990 schon geschafft hatten: Torwart Andreas Köpke, Olaf Thon, Stefan Reuter, Jürgen Kohler, Lothar Matthäus, Thomas Häßler, Andreas Möller und Jürgen Klinsmann.

43 Prozent der Franzosen irren nicht

Für 43 Prozent der Franzosen würde der Weltmeister laut Umfrage aber aus ihrem Land kommen, der Gastgeber spürte die Last der Erwartungen eines ganzen Volkes. Dreimal war Frankreich schon in ein Halbfinale vorgestoßen, nun im eigenen Land sollte es endlich klappen mit dem ersten Finale und natürlich am besten mit dem Titelgewinn - so wie 1984 bei der Europameisterschaft.

Den Topfavoriten gab es 1998 jedenfalls nicht. Mehr aus Gewohnheit wurde wieder Brasilien genannt, das aber in Tests so schwach spielte, dass Trainer Mario Zagalo in Idol Zico ein Aufpasser in Form eines Sport-Direktors vor die Nase gesetzt wurde. Ein englisches Fan-Zine setzte nicht ganz unerwartet auf England, die Argumentation war jedoch verblüffend: Seit 1966 hießen die Weltmeister England - Brasilien - Deutschland - Argentinien - Italien - Argentinien - Deutschland und Brasilien. Betrachtet man Italien (1982) als Wendepunkt, ergibt sich in der Tat eine symmetrische Anordnung - und als logische Folge daraus, dass England Weltmeister zu werden hatte.

Am 10. Juni war es mit Gedankenspielern dieser Art endlich vorbei, fortan rollte der Ball. Noch am Vorabend waren in Paris Flaschen geflogen, als die WM in einer Art Straßenfest erstmals außerhalb eines Stadions eröffnet worden war. Leider keine gute Idee der Organisatoren: Über 100 Verletzte und 50 Festnahmen gab es am Rande der skurrilen Präsentation von vier hydraulikgesteuerten, 20 Meter hohen Robotern, die die teilnehmenden Kontinente symbolisieren sollten - Australien fehlte ja.

Eröffnungsspiel schlägt aus der Art

Der Verlauf der Partie Brasilien gegen Schottland war dagegen ein gutes Omen für diese WM, war sie doch ein völlig aus der Art geschlagenes Eröffnungsspiel. Drei Tore hatte die Welt bei so einem Anlass noch nicht gesehen, und es hätten noch viel mehr werden können. Paris erlebte also einen geglückten Start des Titelverteidigers und wie bei WM-Turnieren schon gewohnt tragisch anmutende Schotten. Ein Eigentor von Boyd entschied die Partie zu Gunsten Brasiliens. Bloß der designierte WM-Superstar Ronaldo, 21 Jahre jung und mit schier übermenschlichen Erwartungen an sein Können überfrachtet, traf nicht beim 2:1.

Am Abend trennten sich die anderen Teams der Gruppe A, Norwegen und Marokko, mit 2:2. Die Ernüchterung für die mit Lob überschütteten Marokkaner folgte alsbald, gegen Brasilien blieben sie beim 0:3 chancenlos, und endlich tauchte Ronaldo unter den Torschützen auf. Brasilien war schon weiter, was Marokko-Trainer Henri Michel nicht verwunderte: „Brasilien, das ist der Mount Everest, einfach das Höchste.“

Schotten und Norweger trennten sich im torärmsten Spiele dieser unterhaltsamen Gruppe 1:1, weshalb alle Teams noch Chancen hatten, Brasilien ins Achtelfinale zu folgen. Die Entscheidung darüber fällte ein gewisser Mister Barhamast aus den USA, der den Norwegern zwei Minuten vor Schluss gegen Brasilien einen zweifelhaften Elfmeter zusprach. Kjetil Rekdal von Hertha BSC verwandelte ihm zum 2:1, und Marokkos 3:0 gegen Schottland war vergeblich. Den Schotten blieb nur ihr trauriger WM-Rekord: achte Anreise, achtes Vorrunden-Aus.

Verlieren will gelernt sein

Die Gruppe B begann mit zwei Unentschieden. Roberto Baggio rettete Italien gegen Chile noch einen Punkt und kurierte bei der Gelegenheit sein Elfmetertrauma von 1994, als er im Finale den entscheidenden Fehlschuss gesetzt hatte. Kamerun träumte gegen Österreich schon vom Sieg, als dem Köln-Legionär Toni Polster in der Nachspielzeit der Ausgleich gelang. Herbert Prohaska sah sich bestätigt, auf Polster zu setzen, auch wenn der Trainer zugab: „Wäre es nach den Trainingsleistungen gegangen, hätte er nicht mal auf der Ersatzbank sitzen dürfen.“

Gegen Chile wiederholten die Österreicher ihr Kunststück mit dem späten Ausgleichstor, doch weil sie gegen Italien 1:2 unterlagen, mussten sie abreisen. Gemeinsam mit Kamerun, das nach einem 0:3 gegen Italien gegen Chile nur zu einem 1:1 kam. Die Chilenen schafften mit drei Remis das Achtelfinale, in der Heimat gab es wilde Spontanfeten, Verkehrschaos in der Hauptstadt Santigo und ein Todesopfer.

Kamerun dagegen fühlte sich gegen Chile um ein Tor betrogen, das der ungarische Schiedsrichter Vagner in der 58. Minute aberkannt hatte. In Jaunde brachen Krawalle mit rassistischer Färbung aus, Schwarze attackierten Weiße als stellvertretende Feindbilder und bewarfen deren Autos und Häuser. Der Verband forderte von der FIFA in einem offiziellen Schreiben Schadensersatz und unterstellte ihr einen Komplott gegen Afrika - Verlieren will gelernt sein.