Breitner: "Die Chancen stehen 51:49 für die Bayern"

Während seiner Karriere gewann er alles, was ein Fußballprofi an Titeln und Triumphen gewinnen kann. Paul Breitner (61) wurde Welt- und Europameister, Europapokal-Sieger, mehrfacher Deutscher und Spanischer Meister, gewann den DFB-Pokal und den spanischen Pokal und war 1981 Deutschlands Fußballer des Jahres.

Nach dem WM-Titelgewinn 1974 trat er im Streit mit DFB-Funktionären aus der Nationalmannschaft zurück, wechselte mit dem Prädikat "Weltklasse" zu Real Madrid – und kehrte später wieder ins Nationalteam und zum FC Bayern zurück.

Heute ist der einstige Außenverteidiger und Mittelfeldspieler selbst Funktionär – als UEFA-Botschafter für die diesjährige Champions League und das Finale am 19. Mai in München. Im DFB.de-Gespräch der Woche mit Redakteur Wolfgang Tobien nimmt der einstige Revoluzzer und knallharte Kritiker Stellung zum morgigen Halbfinale zwischen Bayern München und Real Madrid, blickt auf sein Engagement bei den "Königlichen" in Spanien zurück, beschreibt die Aussichten der aktuellen Nationalmannschaft und seine heutigen Ansichten über Funktionäre und Ehrenamt.

DFB.de: Am kommenden Freitag nehmen Sie als Botschafter für das diesjährige Champions-League-Finale im Münchner Alten Rathaus an der Seite von UEFA-Präsident Michel Platini den Pokal entgegen, den der FC Barcelona beim so genannten Cup Handover zurückgibt. Wer wird die Trophäe Ihrer Meinung nach am 19. Mai nach dem Abpfiff des Endspiels in München überreicht bekommen? Maradona zum Beispiel ist davon überzeugt, dass dies Bayern München sein wird.

Paul Breitner: Es kommt darauf an, wer Maradona dazu befragt hat. Ich bin sicher, hätte ihn jemand aus Barcelona oder Madrid gefragt, hätte er anders geantwortet. Ab und zu geht Höflichkeit vor. Das ist alles reines Wunschkonzert. Sollte der FC Bayern dieses Finale tatsächlich erreichen, dann würde ich als einer von 13 Millionen bekennenden Bayern-Fans bestimmt nicht sagen, dass er als Verlierer vom Platz gehen wird.

DFB.de: Erst einmal aber heißt es morgen in der Runde der letzten Vier Bayern gegen Real. Dieses Halbfinale gab es im höchsten Europacup-Wettbewerb erstmals 1976. Mit Paul Breitner auf dem Spielfeld – im Trikot der "Königlichen"! Sie erinnern sich noch?

Breitner: Noch sehr genau sogar. Weil ich mich lange, lange Zeit darüber geärgert habe, dass ich für Real den von mir gewohnten Beitrag nicht leisten konnte. Beim 1:1 im Hinspiel in Madrid fehlte ich wegen eines Muskelfaserrisses. Und beim Rückspiel in München war die Verletzung nur zu 70 Prozent ausgeheilt, und ich nicht in der Lage, mit voller Leistungskraft entscheidend einzugreifen. Bayern hat damals zu Recht 2:0 gewonnen.

DFB.de: Gegen einen ähnlichen Verlauf des Geschehens, das heißt gegen ein Weiterkommen der Bayern, hätten Sie diesmal aber nichts einzuwenden?

Breitner: Ich bin Fan von zwei Mannschaften. Von Bayern München und von Real Madrid. Der größere Teil meines Herzens schlägt aber für Bayern. Und da ich grundsätzlich kein Anhänger von Unentschieden bin, sehe ich die Chancen 51:49 für Bayern. Rein Wunschkonzert mäßig.

DFB.de: Als UEFA-Botschafter lautet bei aller selbst auferlegten Neutralität Ihr Traumfinale Bayern gegen Barcelona. Wie sehen Sie die Chancen, dass daraus Wirklichkeit wird?

Breitner: Wie Millionen von Fußballfans auch. Barcelona ist seit längerem eine Fußball-Welt für sich. Gejagt von zwei, drei Verfolgern, zu denen Bayern München und Real Madrid gehören. Für mich stellt sich die Frage, wer von denen in der Lage ist, gegen Barcelona zu gewinnen.

DFB.de: Wie lautet Ihre Antwort?

Breitner: Ich hoffe, der FC Bayern. Weil ich die Chance sehe, in einem einzigen Spiel, wie eben in einem Finale, gegen Barcelona gewinnen zu können. Und auch nur dann, wenn die Katalanen mal lediglich 85 Prozent ihres Leistungsvermögens bringen und die Bayern an die 100 Prozent kommen. In zwei Spielen ist es dagegen im Moment fast unmöglich, Barca zu bezwingen.

DFB.de: Sie selbst haben den Landesmeister-Pokal 1974 mit Bayern München gegen Atletico Madrid gewonnen. Ihr größter und auch Ihr schönster Erfolg als Vereinsspieler?

Breitner: Der größte ganz sicher, aber auch der schönste. Weil er über dieses Wiederholungsspiel in Brüssel zustande kam. Und weil dieses 4:0 ein Meilenstein für den FC Bayern war.

DFB.de: Danach wechselten Sie für drei Jahre zu Real Madrid. Wie war es, als Sie als frisch gekürter Weltmeister zum ersten Mal das damals in Europa in Sachen Image und Grandezza alles überstrahlende Real-Reich betraten?

Breitner: Das war ein einzigartiges Erlebnis. Madrid war sportlich damals international zwar nicht mehr absolute Spitze. Dennoch war es eine Fußball-Galaxis für sich. Real hatte einen Nimbus, einen Stellenwert, eine Klasse, von der ich sage, dass die "Königlichen", wie sie ja genannt werden, der einzige Hochadel des Fußballs waren, den es jemals gegeben hat. In Madrid habe ich die drei schönsten Jahre meines Lebens verbracht.

DFB.de: Was hat Real Madrid außer den großen Erfolgen der Vergangenheit damals so außergewöhnlich werden lassen?

Breitner: In erster Linie der Präsident. Santiago Bernabéu war der einzige weise Mensch, den ich jemals kennen lernen durfte. Eine großartige außergewöhnliche Persönlichkeit. Ich bin nach wie vor sehr dankbar, mit ihm drei Jahre zusammen gewesen zu sein.

DFB.de: Ihr Einstand in Madrid war überragend! Gleich in der ersten Saison führten Sie Real als Meister und Pokalsieger aus einem schweren Tief zurück in die Erfolgsspur.

Breitner: Real war in der Saison vor meinem Eintreffen Achter mit 18 Punkten Rückstand auf Barcelona. 18 Punkte in der damaligen Zwei-Punkte-Wertung! Mein Auftrag, den mir Santiago Bernabéu bei unserem ersten Vier-Augen-Gespräch gegeben hatte, lautete, unsere überalterte Mannschaft um mich herum neu aufzubauen, den Rückstand auf Barcelona, und nur das zählt bei Real, im ersten Jahr auf zehn Punkte und im zweiten Jahr auf fünf Punkte zu verringern und im dritten Jahr dann den Meistertitel anzugreifen.

DFB.de: Diese Zielvorgabe haben Sie ja deutlich übertroffen.

Breitner: Indem wir in meinem ersten Jahr mit elf Punkten Vorsprung auf Barcelona Meister wurden. Und Pokalsieger. Und ein Jahr später noch mal Meister.

DFB.de: Haben Sie heute noch Kontakt zu Real und nach Madrid?

Breitner: Meine Frau und ich sind nächste Woche beim Rückspiel in Madrid dabei. Drei-, viermal im Jahr sind wir in der Regel dort. Real Madrid lädt zudem einmal im Jahr die große Familie ein. Das Größte war beim 100. Geburtstag des Vereins, als alle noch lebenden Spieler, die wenigstens einmal das Real-Trikot getragen hatten, für fünf Tage nach Madrid eingeladen wurden. Von 700 kamen rund 500. Der Älteste war 93. Das ist Niveau!

DFB.de: Während Ihrer ersten beiden sehr erfolgreichen Jahre in Madrid war das Duo Breitner/Netzer das Herzstück im Real-Mittelfeld. Jetzt ist dort mit Özil und Khedira ebenfalls ein Mittelfeld-Gespann aus der deutschen Nationalmannschaft maßgebend am Geschehen mitbeteiligt. Sehen Sie Parallelen?

Breitner: Eine Parallele ist sicherlich, dass damals wie diesmal um dieses Duo aus Deutschland herum erstklassige Fußballer, teilweise Weltklassespieler mit am Ball waren und sind. Ansonsten möchte ich keine Vergleiche ziehen.

DFB.de: Weil Netzer und Özil in ihrer Spielweise nicht zu vergleichen sind?

Breitner: Nein, weil die Situation eine ganz andere ist. Günter Netzer und ich haben damals unsere eigene Spielauffassung eingebracht und durchgesetzt in einem Team, das im Vergleich mit Barcelona zuvor deprimierend abgeschlagen war. Da die Mannschaft sofort Erfolg hatte, fand unsere Art, das Spiel zu gestalten, auf Anhieb die totale Akzeptanz. Mesut Özil ist in Madrid dabei, sein Können auf hohem Niveau in einer absoluten Topmannschaft weiter zu entwickeln. Netzer dagegen befand sich damals auf dem Höhepunkt seines Leistungsvermögens als Fußballer. Er hat in meinem ersten Jahr in Madrid so gut gespielt, wie ich niemals einen anderen Spieler über eine ganze Saison habe spielen sehen. Mit Ausnahme von Franz Beckenbauer. Es war absolut gigantisch und noch viel besser als das, was Günter 1972 und 1973 in der Nationalmannschaft geleistet hat.

DFB.de: Vor Ihrem Positionswechsel ins Mittelfeld galten Sie, von Udo Lattek einst vom Stürmer zum linken Verteidiger umgeschult, als der ideale Typ des modernen Außenverteidigers. Gleichermaßen stark in Defensive und Offensive, dazu noch sehr torgefährlich. Wie sehen Sie heute diese anspruchsvolle Position beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft besetzt?

Breitner: Ich bin ja wirklich wie die Jungfrau zum Kind vom einstigen Stürmer und offensiven Mittelfeldspieler zum linken Verteidiger gekommen. Udo Lattek kannte mich von der Jugend-Nationalmannschaft und hat mich bei Bayern aus der Not heraus als linker Verteidiger aufgestellt. In meinem ersten Spiel auf dieser Position, das war beim Auswärtsspiel in Hannover, habe ich mir meine eigene Art, Verteidiger zu spielen, zurechtgelegt. Eine Art, die, wenn ich mir Philipp Lahm anschaue, auch heute noch exakt unverändert geblieben ist.

DFB.de: Der heutige Bayern-Kapitän als Ihr modernes Abbild?

Breitner: Ich würde sagen, dass Philipp zeitgemäß das spielt, was ich mir 1971 als Verteidigerspiel auf der Außenposition vorgestellt und umgesetzt habe. Ich war als Mittelfeldspieler nie einer, der gegrätscht oder dazwischen gehauen hat. Habe daher auch als Verteidiger nie eine Gelbe Karte wegen Foulspiels erhalten und ähnlich fast körperlos gespielt wie Philipp Lahm heute.

DFB.de: 1972 wurde Deutschland mit Ihnen Europameister. War diese Mannschaft wirklich so überragend und besser noch als die Weltmeister von 1974?

Breitner: Sie war um einiges besser. Und ich zähle auch zu jenen, die sagen, dass diese Europameister-Mannschaft auch aus heutiger Sicht die beste war der letzten 50 Jahre seit dem WM-Triumph von Bern 1954. Vergleiche über einen Zeitraum von 40, 50 Jahren sind jedoch nicht angebracht. So wenig, wie man zwei Autos aus dem Jahr 1972 und 2012 miteinander vergleichen kann. Es gibt nur ein Kriterium, nur eine Vergleichsmöglichkeit.

DFB.de: Nämlich?

Breitner: Wie dominant war und ist eine Mannschaft innerhalb einer Generation. Eine Generation im Fußball umfasst für mich den Zeitraum von fünf Jahren. Dabei stellt sich heraus, dass es bis heute keine deutsche Nationalmannschaft gab, die den Weltfußball so dominiert hat, wie die Mannschaft von 1972. Ähnlich, wie heute der FC Barcelona weltweit den Vereinsfußball dominiert.

DFB.de: Kann Bundestrainer Joachim Löw jetzt mit seiner Mannschaft 40 Jahre später den damaligen EM-Triumph wiederholen?

Breitner: Für mich ist die spanische Mannschaft nach wie vor der absolute Topfavorit. Ich muss aber sagen, dass eine EM für mich immer nur eine Durchgangsstation, eine Zwischenstation auf dem Weg zur nächsten Weltmeisterschaft ist. Und bei der WM 2014 in Brasilien wird die deutsche Mannschaft dann einer von zwei Topfavoriten sein, zusammen mit Spanien. Das heißt, ich sehe sie dann, in zwei Jahren, auf einer Stufe mit Spaniens Nationalteam.

DFB.de: Zurück zur aktuellen Champions League. Am morgigen Dienstag sind Sie als UEFA-Botschafter beim Halbfinale der Bayern gegen Real Madrid in der Allianz-Arena im Einsatz. Mit einer besonderen Aufgabe?

Breitner: Ich bin regelmäßig für die UEFA in dieser Saison bei solchen Spielen im Champions Club im Einsatz. In einer großen Box mit 100, 150 geladenen Gästen. Bei kleinen Talk-Runden und anderen offiziellen Anlässen repräsentiere ich dabei die UEFA und ihre Champions League. Wie in den vergangenen Monaten zum Beispiel auch bei den diversen Auslosungen.

DFB.de: In diesem Zusammenhang eine etwas provokante Frage zu Ihrer Rolle als UEFA-Botschafter. Früher waren repräsentative Aufgaben ja eher nicht so Ihr Ding. Ist aus dem einstigen streitbaren Revoluzzer ein handzahmer Mandatsträger des Establishments geworden?

Breitner: Ich sehe mich in der Vergangenheit nicht als Revoluzzer. Ich habe mich vielmehr als einen jungen Menschen gesehen, der sich nichts gefallen ließ. Der so erzogen wurde, alles zu hinterfragen. Wenn mir, als ich zum FC Bayern kam, jemand keinen vernünftigen Grund sagen konnte für das, was von mir verlangt werden sollte, dann habe ich mich dagegen gewehrt, dagegen gesperrt. Das hatte 1970 den Hauch von Revoluzzerturm.

DFB.de: Nachgesagt wurde Ihnen damals, Sie seien der Feind aller Funktionäre?

Breitner: So lautete der Pauschalvorwurf damals in der Tat. Doch ich war es bei Gott nicht. Mir war immer bewusst, dass ohne diese Funktionäre, ohne diese Leute im Ehrenamt damals und heute kein Verein und nichts im Fußball funktionieren würden. Ich habe mich nur gegen die gewehrt und bin gegen sie aufgetreten, die mir gezeigt haben, dass sie stur und unverändert auf ihrer Meinung beharrten. Oft sogar wider besseres Wissen, weil sie nicht als Umfaller gelten wollten. Charakter zu haben, das bedeutet für mich, bereit zu sein, Fehler einzusehen und zu korrigieren und damit zu zeigen, dass ich mich bemühe zu lernen, und mich deswegen nicht schäme.

DFB.de: Ein solcher Lernprozess hat Sie jetzt die Rolle des UEFA-Botschafters annehmen lassen?

Breitner: Meistens mache ich nur Dinge und übernehme Aufgaben, mit denen ich mich voll identifizieren kann, vor allem wenn es für mich auch noch etwas Schönes und Angenehmes ist. Dies trifft auf ein Projekt wie die Champions League und das Finale in München absolut zu. Du kannst noch so viele Länderspiele, Welt- und Europameisterschaften bestreiten, ohne dass du einen Eindruck von der FIFA oder UEFA bekommst. In diesem Jahr habe ich als Champions-League-Botschafter erstmals hinter die Kulissen der UEFA blicken können und dabei sehr viel Positives mitbekommen, sehr, sehr viele konstruktive, aktive und bewegliche Leute kennen gelernt. Mit ihnen kann und darf ich bis zum Ende dieser Champions-League-Saison zusammen arbeiten. Das ist etwas, was mir sehr viel gibt und bedeutet, etwas, das ich nach wie vor genieße.

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Während seiner Karriere gewann er alles, was ein Fußballprofi an Titeln und Triumphen gewinnen kann. Paul Breitner (61) wurde Welt- und Europameister, Europapokal-Sieger, mehrfacher Deutscher und Spanischer Meister, gewann den DFB-Pokal und den spanischen Pokal und war 1981 Deutschlands Fußballer des Jahres.

Nach dem WM-Titelgewinn 1974 trat er im Streit mit DFB-Funktionären aus der Nationalmannschaft zurück, wechselte mit dem Prädikat "Weltklasse" zu Real Madrid – und kehrte später wieder ins Nationalteam und zum FC Bayern zurück.

Heute ist der einstige Außenverteidiger und Mittelfeldspieler selbst Funktionär – als UEFA-Botschafter für die diesjährige Champions League und das Finale am 19. Mai in München. Im DFB.de-Gespräch der Woche mit Redakteur Wolfgang Tobien nimmt der einstige Revoluzzer und knallharte Kritiker Stellung zum morgigen Halbfinale zwischen Bayern München und Real Madrid, blickt auf sein Engagement bei den "Königlichen" in Spanien zurück, beschreibt die Aussichten der aktuellen Nationalmannschaft und seine heutigen Ansichten über Funktionäre und Ehrenamt.

DFB.de: Am kommenden Freitag nehmen Sie als Botschafter für das diesjährige Champions-League-Finale im Münchner Alten Rathaus an der Seite von UEFA-Präsident Michel Platini den Pokal entgegen, den der FC Barcelona beim so genannten Cup Handover zurückgibt. Wer wird die Trophäe Ihrer Meinung nach am 19. Mai nach dem Abpfiff des Endspiels in München überreicht bekommen? Maradona zum Beispiel ist davon überzeugt, dass dies Bayern München sein wird.

Paul Breitner: Es kommt darauf an, wer Maradona dazu befragt hat. Ich bin sicher, hätte ihn jemand aus Barcelona oder Madrid gefragt, hätte er anders geantwortet. Ab und zu geht Höflichkeit vor. Das ist alles reines Wunschkonzert. Sollte der FC Bayern dieses Finale tatsächlich erreichen, dann würde ich als einer von 13 Millionen bekennenden Bayern-Fans bestimmt nicht sagen, dass er als Verlierer vom Platz gehen wird.

DFB.de: Erst einmal aber heißt es morgen in der Runde der letzten Vier Bayern gegen Real. Dieses Halbfinale gab es im höchsten Europacup-Wettbewerb erstmals 1976. Mit Paul Breitner auf dem Spielfeld – im Trikot der "Königlichen"! Sie erinnern sich noch?

Breitner: Noch sehr genau sogar. Weil ich mich lange, lange Zeit darüber geärgert habe, dass ich für Real den von mir gewohnten Beitrag nicht leisten konnte. Beim 1:1 im Hinspiel in Madrid fehlte ich wegen eines Muskelfaserrisses. Und beim Rückspiel in München war die Verletzung nur zu 70 Prozent ausgeheilt, und ich nicht in der Lage, mit voller Leistungskraft entscheidend einzugreifen. Bayern hat damals zu Recht 2:0 gewonnen.

DFB.de: Gegen einen ähnlichen Verlauf des Geschehens, das heißt gegen ein Weiterkommen der Bayern, hätten Sie diesmal aber nichts einzuwenden?

Breitner: Ich bin Fan von zwei Mannschaften. Von Bayern München und von Real Madrid. Der größere Teil meines Herzens schlägt aber für Bayern. Und da ich grundsätzlich kein Anhänger von Unentschieden bin, sehe ich die Chancen 51:49 für Bayern. Rein Wunschkonzert mäßig.

DFB.de: Als UEFA-Botschafter lautet bei aller selbst auferlegten Neutralität Ihr Traumfinale Bayern gegen Barcelona. Wie sehen Sie die Chancen, dass daraus Wirklichkeit wird?

Breitner: Wie Millionen von Fußballfans auch. Barcelona ist seit längerem eine Fußball-Welt für sich. Gejagt von zwei, drei Verfolgern, zu denen Bayern München und Real Madrid gehören. Für mich stellt sich die Frage, wer von denen in der Lage ist, gegen Barcelona zu gewinnen.

DFB.de: Wie lautet Ihre Antwort?

Breitner: Ich hoffe, der FC Bayern. Weil ich die Chance sehe, in einem einzigen Spiel, wie eben in einem Finale, gegen Barcelona gewinnen zu können. Und auch nur dann, wenn die Katalanen mal lediglich 85 Prozent ihres Leistungsvermögens bringen und die Bayern an die 100 Prozent kommen. In zwei Spielen ist es dagegen im Moment fast unmöglich, Barca zu bezwingen.

DFB.de: Sie selbst haben den Landesmeister-Pokal 1974 mit Bayern München gegen Atletico Madrid gewonnen. Ihr größter und auch Ihr schönster Erfolg als Vereinsspieler?

Breitner: Der größte ganz sicher, aber auch der schönste. Weil er über dieses Wiederholungsspiel in Brüssel zustande kam. Und weil dieses 4:0 ein Meilenstein für den FC Bayern war.

DFB.de: Danach wechselten Sie für drei Jahre zu Real Madrid. Wie war es, als Sie als frisch gekürter Weltmeister zum ersten Mal das damals in Europa in Sachen Image und Grandezza alles überstrahlende Real-Reich betraten?

Breitner: Das war ein einzigartiges Erlebnis. Madrid war sportlich damals international zwar nicht mehr absolute Spitze. Dennoch war es eine Fußball-Galaxis für sich. Real hatte einen Nimbus, einen Stellenwert, eine Klasse, von der ich sage, dass die "Königlichen", wie sie ja genannt werden, der einzige Hochadel des Fußballs waren, den es jemals gegeben hat. In Madrid habe ich die drei schönsten Jahre meines Lebens verbracht.

DFB.de: Was hat Real Madrid außer den großen Erfolgen der Vergangenheit damals so außergewöhnlich werden lassen?

Breitner: In erster Linie der Präsident. Santiago Bernabéu war der einzige weise Mensch, den ich jemals kennen lernen durfte. Eine großartige außergewöhnliche Persönlichkeit. Ich bin nach wie vor sehr dankbar, mit ihm drei Jahre zusammen gewesen zu sein.

DFB.de: Ihr Einstand in Madrid war überragend! Gleich in der ersten Saison führten Sie Real als Meister und Pokalsieger aus einem schweren Tief zurück in die Erfolgsspur.

Breitner: Real war in der Saison vor meinem Eintreffen Achter mit 18 Punkten Rückstand auf Barcelona. 18 Punkte in der damaligen Zwei-Punkte-Wertung! Mein Auftrag, den mir Santiago Bernabéu bei unserem ersten Vier-Augen-Gespräch gegeben hatte, lautete, unsere überalterte Mannschaft um mich herum neu aufzubauen, den Rückstand auf Barcelona, und nur das zählt bei Real, im ersten Jahr auf zehn Punkte und im zweiten Jahr auf fünf Punkte zu verringern und im dritten Jahr dann den Meistertitel anzugreifen.

DFB.de: Diese Zielvorgabe haben Sie ja deutlich übertroffen.

Breitner: Indem wir in meinem ersten Jahr mit elf Punkten Vorsprung auf Barcelona Meister wurden. Und Pokalsieger. Und ein Jahr später noch mal Meister.

DFB.de: Haben Sie heute noch Kontakt zu Real und nach Madrid?

Breitner: Meine Frau und ich sind nächste Woche beim Rückspiel in Madrid dabei. Drei-, viermal im Jahr sind wir in der Regel dort. Real Madrid lädt zudem einmal im Jahr die große Familie ein. Das Größte war beim 100. Geburtstag des Vereins, als alle noch lebenden Spieler, die wenigstens einmal das Real-Trikot getragen hatten, für fünf Tage nach Madrid eingeladen wurden. Von 700 kamen rund 500. Der Älteste war 93. Das ist Niveau!

DFB.de: Während Ihrer ersten beiden sehr erfolgreichen Jahre in Madrid war das Duo Breitner/Netzer das Herzstück im Real-Mittelfeld. Jetzt ist dort mit Özil und Khedira ebenfalls ein Mittelfeld-Gespann aus der deutschen Nationalmannschaft maßgebend am Geschehen mitbeteiligt. Sehen Sie Parallelen?

Breitner: Eine Parallele ist sicherlich, dass damals wie diesmal um dieses Duo aus Deutschland herum erstklassige Fußballer, teilweise Weltklassespieler mit am Ball waren und sind. Ansonsten möchte ich keine Vergleiche ziehen.

DFB.de: Weil Netzer und Özil in ihrer Spielweise nicht zu vergleichen sind?

Breitner: Nein, weil die Situation eine ganz andere ist. Günter Netzer und ich haben damals unsere eigene Spielauffassung eingebracht und durchgesetzt in einem Team, das im Vergleich mit Barcelona zuvor deprimierend abgeschlagen war. Da die Mannschaft sofort Erfolg hatte, fand unsere Art, das Spiel zu gestalten, auf Anhieb die totale Akzeptanz. Mesut Özil ist in Madrid dabei, sein Können auf hohem Niveau in einer absoluten Topmannschaft weiter zu entwickeln. Netzer dagegen befand sich damals auf dem Höhepunkt seines Leistungsvermögens als Fußballer. Er hat in meinem ersten Jahr in Madrid so gut gespielt, wie ich niemals einen anderen Spieler über eine ganze Saison habe spielen sehen. Mit Ausnahme von Franz Beckenbauer. Es war absolut gigantisch und noch viel besser als das, was Günter 1972 und 1973 in der Nationalmannschaft geleistet hat.

DFB.de: Vor Ihrem Positionswechsel ins Mittelfeld galten Sie, von Udo Lattek einst vom Stürmer zum linken Verteidiger umgeschult, als der ideale Typ des modernen Außenverteidigers. Gleichermaßen stark in Defensive und Offensive, dazu noch sehr torgefährlich. Wie sehen Sie heute diese anspruchsvolle Position beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft besetzt?

Breitner: Ich bin ja wirklich wie die Jungfrau zum Kind vom einstigen Stürmer und offensiven Mittelfeldspieler zum linken Verteidiger gekommen. Udo Lattek kannte mich von der Jugend-Nationalmannschaft und hat mich bei Bayern aus der Not heraus als linker Verteidiger aufgestellt. In meinem ersten Spiel auf dieser Position, das war beim Auswärtsspiel in Hannover, habe ich mir meine eigene Art, Verteidiger zu spielen, zurechtgelegt. Eine Art, die, wenn ich mir Philipp Lahm anschaue, auch heute noch exakt unverändert geblieben ist.

DFB.de: Der heutige Bayern-Kapitän als Ihr modernes Abbild?

Breitner: Ich würde sagen, dass Philipp zeitgemäß das spielt, was ich mir 1971 als Verteidigerspiel auf der Außenposition vorgestellt und umgesetzt habe. Ich war als Mittelfeldspieler nie einer, der gegrätscht oder dazwischen gehauen hat. Habe daher auch als Verteidiger nie eine Gelbe Karte wegen Foulspiels erhalten und ähnlich fast körperlos gespielt wie Philipp Lahm heute.

DFB.de: 1972 wurde Deutschland mit Ihnen Europameister. War diese Mannschaft wirklich so überragend und besser noch als die Weltmeister von 1974?

Breitner: Sie war um einiges besser. Und ich zähle auch zu jenen, die sagen, dass diese Europameister-Mannschaft auch aus heutiger Sicht die beste war der letzten 50 Jahre seit dem WM-Triumph von Bern 1954. Vergleiche über einen Zeitraum von 40, 50 Jahren sind jedoch nicht angebracht. So wenig, wie man zwei Autos aus dem Jahr 1972 und 2012 miteinander vergleichen kann. Es gibt nur ein Kriterium, nur eine Vergleichsmöglichkeit.

DFB.de: Nämlich?

Breitner: Wie dominant war und ist eine Mannschaft innerhalb einer Generation. Eine Generation im Fußball umfasst für mich den Zeitraum von fünf Jahren. Dabei stellt sich heraus, dass es bis heute keine deutsche Nationalmannschaft gab, die den Weltfußball so dominiert hat, wie die Mannschaft von 1972. Ähnlich, wie heute der FC Barcelona weltweit den Vereinsfußball dominiert.

DFB.de: Kann Bundestrainer Joachim Löw jetzt mit seiner Mannschaft 40 Jahre später den damaligen EM-Triumph wiederholen?

Breitner: Für mich ist die spanische Mannschaft nach wie vor der absolute Topfavorit. Ich muss aber sagen, dass eine EM für mich immer nur eine Durchgangsstation, eine Zwischenstation auf dem Weg zur nächsten Weltmeisterschaft ist. Und bei der WM 2014 in Brasilien wird die deutsche Mannschaft dann einer von zwei Topfavoriten sein, zusammen mit Spanien. Das heißt, ich sehe sie dann, in zwei Jahren, auf einer Stufe mit Spaniens Nationalteam.

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DFB.de: Zurück zur aktuellen Champions League. Am morgigen Dienstag sind Sie als UEFA-Botschafter beim Halbfinale der Bayern gegen Real Madrid in der Allianz-Arena im Einsatz. Mit einer besonderen Aufgabe?

Breitner: Ich bin regelmäßig für die UEFA in dieser Saison bei solchen Spielen im Champions Club im Einsatz. In einer großen Box mit 100, 150 geladenen Gästen. Bei kleinen Talk-Runden und anderen offiziellen Anlässen repräsentiere ich dabei die UEFA und ihre Champions League. Wie in den vergangenen Monaten zum Beispiel auch bei den diversen Auslosungen.

DFB.de: In diesem Zusammenhang eine etwas provokante Frage zu Ihrer Rolle als UEFA-Botschafter. Früher waren repräsentative Aufgaben ja eher nicht so Ihr Ding. Ist aus dem einstigen streitbaren Revoluzzer ein handzahmer Mandatsträger des Establishments geworden?

Breitner: Ich sehe mich in der Vergangenheit nicht als Revoluzzer. Ich habe mich vielmehr als einen jungen Menschen gesehen, der sich nichts gefallen ließ. Der so erzogen wurde, alles zu hinterfragen. Wenn mir, als ich zum FC Bayern kam, jemand keinen vernünftigen Grund sagen konnte für das, was von mir verlangt werden sollte, dann habe ich mich dagegen gewehrt, dagegen gesperrt. Das hatte 1970 den Hauch von Revoluzzerturm.

DFB.de: Nachgesagt wurde Ihnen damals, Sie seien der Feind aller Funktionäre?

Breitner: So lautete der Pauschalvorwurf damals in der Tat. Doch ich war es bei Gott nicht. Mir war immer bewusst, dass ohne diese Funktionäre, ohne diese Leute im Ehrenamt damals und heute kein Verein und nichts im Fußball funktionieren würden. Ich habe mich nur gegen die gewehrt und bin gegen sie aufgetreten, die mir gezeigt haben, dass sie stur und unverändert auf ihrer Meinung beharrten. Oft sogar wider besseres Wissen, weil sie nicht als Umfaller gelten wollten. Charakter zu haben, das bedeutet für mich, bereit zu sein, Fehler einzusehen und zu korrigieren und damit zu zeigen, dass ich mich bemühe zu lernen, und mich deswegen nicht schäme.

DFB.de: Ein solcher Lernprozess hat Sie jetzt die Rolle des UEFA-Botschafters annehmen lassen?

Breitner: Meistens mache ich nur Dinge und übernehme Aufgaben, mit denen ich mich voll identifizieren kann, vor allem wenn es für mich auch noch etwas Schönes und Angenehmes ist. Dies trifft auf ein Projekt wie die Champions League und das Finale in München absolut zu. Du kannst noch so viele Länderspiele, Welt- und Europameisterschaften bestreiten, ohne dass du einen Eindruck von der FIFA oder UEFA bekommst. In diesem Jahr habe ich als Champions-League-Botschafter erstmals hinter die Kulissen der UEFA blicken können und dabei sehr viel Positives mitbekommen, sehr, sehr viele konstruktive, aktive und bewegliche Leute kennen gelernt. Mit ihnen kann und darf ich bis zum Ende dieser Champions-League-Saison zusammen arbeiten. Das ist etwas, was mir sehr viel gibt und bedeutet, etwas, das ich nach wie vor genieße.