50 Jahre, 50 Gesichter: "Gib mich die Kirsche!"

50 Jahre, 50 Gesichter: Für DFB.de erzählt der Autor und Historiker Udo Muras die Geschichte der Bundesliga an Persönlichkeiten nach, die die deutsche Eliteliga prägten. Jahr für Jahr. Heute: die Saison 1965/1966 mit Lothar Emmerich, Torschützenkönig mit 31 Treffern.

Tore waren sein Leben. Schon das allererste in der Bundesliga-Historie wird mit Lothar Emmerich in Verbindung gebracht. Geschossen hat er es zwar nicht damals in Bremen, aber die Vorlage auf Friedhelm "Timo" Konietzka kam von ihm, und der anschließende Torjubel lässt spätere Betrachter glauben, er sei der Torschütze. Das Jubelfoto vom 24. August 1963 dient noch heute als meistgewähltes Behelfsdokument für das verschollene erste Bundesligator.

"Emma, lauf' nicht so weit weg - wir müssen doch alle hinterher"

Ansonsten war es aber oft genug umgekehrt. Lothar Emmerich, den alle "Emma" nannten, schoss gewiss mehr Tore als er vorbereitete und dann mussten die Kollegen ihm gratulieren. Was nicht immer so einfach war, keiner freute sich in den ersten Bundesligajahren ausgelassener über Tore als Emmerich. Was dann passierte, ist im Buch "Torjäger – Eine Typologie des Vollstreckers" nachzulesen.

"Nach einem Erfolgserlebnis wetzte Emma freudetrunken durchs ganze Stadion, dabei immer wieder hochhopsend und den rechten Arm in Lassowerfer-Manier durch die Gegend schwingend, derweil seine auf Gratulationstour befindlichen Mitspieler ihn verzweifelt einzufangen versuchten." Bei der Uraufführung dieses Jubels soll Alfred "Aki" Schmidt gerufen haben: "Emma, lauf' nicht so weit weg - wir müssen doch alle hinterher." Was davon Legende oder zumindest Übertreibung ist, muss offen bleiben.

Solche Geschichten werden mit der Zeit immer bunter, drücken aber vor allem eines aus: Sympathie. Emmerich, der gelernte Autoschlosser, ein fröhlicher Junge aus dem Leben, war Kult im Stadion Rote Erde und am Borsigplatz. Mit jedem Tor eroberte er neue Herzen, und sein legendärer Zuruf an die Mitspieler "Gib mich die Kirche" hat den 2003 verstorbenen Linksaußen überlebt. Eine BVB-Fanseite im Internet trägt diesen Namen ebenso wie ein Kinofilm über die goldene Frühzeit der Bundesliga und so manche Freizeittruppe im Revier.

Kongeniales Sturmduo mit Held

Gemeinsam mit seinem kongenialen Sturmpartner Siegfried "Siggi" Held mischte "Emma" die Abwehrreihen der Bundesliga auf. Von 1963 bis 1969 schoss Emmerich 115 Tore, hinzu kamen 15 im Europapokal und neun im DFB-Pokal. Das dritte Bundesligajahr 1965/1966 war die Saison seines Lebens: Nach zuvor 26 Toren in zwei Jahren kam er nun auf sagenhafte 31, was bis 1970 Bundesligarekord blieb. Gegen Borussia Mönchengladbach schoss er im Hin- und Rückspiel jeweils drei Tore, seinen dritten Dreierpack schnürte er gegen Hannover.

Bis zum vorletzten Spieltag spielte der BVB um die Meisterschaft mit, ehe 1860 München in Dortmund 2:0 gewann. Was die Borussen verschmerzen konnten, waren sie doch kurz zuvor als erster deutscher Klub Europapokalsieger geworden (2:1 gegen Liverpool im Pokalsieger-Cup). Held und Emmerich wurden in jener Saison für das Ausland zu den "terrible twins", den schrecklichen Zwillingen. Übrigens heirateten die Busenfreunde sogar am selben Tag – wenn auch nicht einander.

Im Gegensatz zu Held ging Emmerich als Torjäger zwar leer aus im Finale von Glasgow, stellte aber auf dem Weg dorthin einen noch gültigen Rekord auf: Gegen Floriana La Valetta (8:0) schoss er sechs Tore, was im Europacup kein Deutscher geschafft hat – nicht mal Gerd Müller. Vor Bewunderung vergoldete ihm ein BVB-Fan die Schuhe jener Supersaison.

"Unvergessen, unwiederholbar": Emmerichs WM-Tor gegen Spanien

Kein Wunder, dass auch der Bundestrainer auf ihn aufmerksam wurde. Vier Monate vor der WM in England gab Emmerich im März 1966 gegen die Niederlande sein Debüt und traf prompt. Mit der Erfahrung von nur einem Länderspiel fuhr er an der Seite von Siggi Held nach England, wo Helmut Schön ihn im dritten Spiel einsetzte.

Seine WM-Premiere machte ihn unsterblich: Gegen Spanien schoss er das vielleicht spektakulärste deutsche Länderspieltor aller Zeiten. Nachdem ihm Siggi Held per Einwurf wieder mal "die Kirsche" gegeben hatte, drosch "Emma" den Ball aus sieben Metern von der Torauslinie in den Winkel. Der Kicker schrieb in seinem Nachruf 2003: "Unvergessen, unwiederholbar, unvorstellbar und legendär - dein Jahrhunderttor bei der WM 1966 in England gegen Spanien. Selbst Physiker können heute noch nicht erklären, wie man von der Außenlinie ein unhaltbares Tor schießen konnte. Du konntest es!"

Leider blieb es sein einziges bei der WM, nach dem legendären Wembley-Finale endete seine Länderspielkarriere mit nur fünf Spielen jäh. Kritiker sahen sich nach seiner schwachen Leistung im Finale, wo er quasi unsichtbar blieb, bestätigt. Lothar Emmerich, der Mann mit der linken Klebe, war sicher kein Weltklassefußballer, aber doch ein Großer, der den seltenen Moment nutzte, den angeblich jeder im Leben hat, um berühmt zu werden.

Zusammen mit Gerd Müller Torschützenkönig 1967

1967 verteidigte er seinen Titel sogar, aber auch Gerd Müller schoss 28 Tore, so dass es erstmals zwei Torjägerkanonen gab. Auch nach seiner Bundesligazeit schoss er noch ein paar Dutzend Tore: 1970 wurde er mit Beerschot belgischer Torschützenkönig, und 1977 gelang ihm das Kunststück gar als 35-Jähriger in der zweiten Liga mit Würzburg 04.

Als ihn ein Reporter fragte, warum er denn immer noch spiele, antwortete Emmerich: "Ohne Fußball fehlt mir was." Heute fehlt er all denen, die ihn kennengelernt haben. Insbesondere dem BVB, dessen Fanbeauftragter er von 1998 bis zu seinem frühen Tod durch Krebs war.

Lothar Emmerichs Bundesligabilanz: 183 Spiele (115 Tore), Torschützenkönig 1965/1966 und 1966/1967 (gemeinsam mit Gerd Müller)

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50 Jahre, 50 Gesichter: Für DFB.de erzählt der Autor und Historiker Udo Muras die Geschichte der Bundesliga an Persönlichkeiten nach, die die deutsche Eliteliga prägten. Jahr für Jahr. Heute: die Saison 1965/1966 mit Lothar Emmerich, Torschützenkönig mit 31 Treffern.

Tore waren sein Leben. Schon das allererste in der Bundesliga-Historie wird mit Lothar Emmerich in Verbindung gebracht. Geschossen hat er es zwar nicht damals in Bremen, aber die Vorlage auf Friedhelm "Timo" Konietzka kam von ihm, und der anschließende Torjubel lässt spätere Betrachter glauben, er sei der Torschütze. Das Jubelfoto vom 24. August 1963 dient noch heute als meistgewähltes Behelfsdokument für das verschollene erste Bundesligator.

"Emma, lauf' nicht so weit weg - wir müssen doch alle hinterher"

Ansonsten war es aber oft genug umgekehrt. Lothar Emmerich, den alle "Emma" nannten, schoss gewiss mehr Tore als er vorbereitete und dann mussten die Kollegen ihm gratulieren. Was nicht immer so einfach war, keiner freute sich in den ersten Bundesligajahren ausgelassener über Tore als Emmerich. Was dann passierte, ist im Buch "Torjäger – Eine Typologie des Vollstreckers" nachzulesen.

"Nach einem Erfolgserlebnis wetzte Emma freudetrunken durchs ganze Stadion, dabei immer wieder hochhopsend und den rechten Arm in Lassowerfer-Manier durch die Gegend schwingend, derweil seine auf Gratulationstour befindlichen Mitspieler ihn verzweifelt einzufangen versuchten." Bei der Uraufführung dieses Jubels soll Alfred "Aki" Schmidt gerufen haben: "Emma, lauf' nicht so weit weg - wir müssen doch alle hinterher." Was davon Legende oder zumindest Übertreibung ist, muss offen bleiben.

Solche Geschichten werden mit der Zeit immer bunter, drücken aber vor allem eines aus: Sympathie. Emmerich, der gelernte Autoschlosser, ein fröhlicher Junge aus dem Leben, war Kult im Stadion Rote Erde und am Borsigplatz. Mit jedem Tor eroberte er neue Herzen, und sein legendärer Zuruf an die Mitspieler "Gib mich die Kirche" hat den 2003 verstorbenen Linksaußen überlebt. Eine BVB-Fanseite im Internet trägt diesen Namen ebenso wie ein Kinofilm über die goldene Frühzeit der Bundesliga und so manche Freizeittruppe im Revier.

Kongeniales Sturmduo mit Held

Gemeinsam mit seinem kongenialen Sturmpartner Siegfried "Siggi" Held mischte "Emma" die Abwehrreihen der Bundesliga auf. Von 1963 bis 1969 schoss Emmerich 115 Tore, hinzu kamen 15 im Europapokal und neun im DFB-Pokal. Das dritte Bundesligajahr 1965/1966 war die Saison seines Lebens: Nach zuvor 26 Toren in zwei Jahren kam er nun auf sagenhafte 31, was bis 1970 Bundesligarekord blieb. Gegen Borussia Mönchengladbach schoss er im Hin- und Rückspiel jeweils drei Tore, seinen dritten Dreierpack schnürte er gegen Hannover.

Bis zum vorletzten Spieltag spielte der BVB um die Meisterschaft mit, ehe 1860 München in Dortmund 2:0 gewann. Was die Borussen verschmerzen konnten, waren sie doch kurz zuvor als erster deutscher Klub Europapokalsieger geworden (2:1 gegen Liverpool im Pokalsieger-Cup). Held und Emmerich wurden in jener Saison für das Ausland zu den "terrible twins", den schrecklichen Zwillingen. Übrigens heirateten die Busenfreunde sogar am selben Tag – wenn auch nicht einander.

Im Gegensatz zu Held ging Emmerich als Torjäger zwar leer aus im Finale von Glasgow, stellte aber auf dem Weg dorthin einen noch gültigen Rekord auf: Gegen Floriana La Valetta (8:0) schoss er sechs Tore, was im Europacup kein Deutscher geschafft hat – nicht mal Gerd Müller. Vor Bewunderung vergoldete ihm ein BVB-Fan die Schuhe jener Supersaison.

"Unvergessen, unwiederholbar": Emmerichs WM-Tor gegen Spanien

Kein Wunder, dass auch der Bundestrainer auf ihn aufmerksam wurde. Vier Monate vor der WM in England gab Emmerich im März 1966 gegen die Niederlande sein Debüt und traf prompt. Mit der Erfahrung von nur einem Länderspiel fuhr er an der Seite von Siggi Held nach England, wo Helmut Schön ihn im dritten Spiel einsetzte.

Seine WM-Premiere machte ihn unsterblich: Gegen Spanien schoss er das vielleicht spektakulärste deutsche Länderspieltor aller Zeiten. Nachdem ihm Siggi Held per Einwurf wieder mal "die Kirsche" gegeben hatte, drosch "Emma" den Ball aus sieben Metern von der Torauslinie in den Winkel. Der Kicker schrieb in seinem Nachruf 2003: "Unvergessen, unwiederholbar, unvorstellbar und legendär - dein Jahrhunderttor bei der WM 1966 in England gegen Spanien. Selbst Physiker können heute noch nicht erklären, wie man von der Außenlinie ein unhaltbares Tor schießen konnte. Du konntest es!"

Leider blieb es sein einziges bei der WM, nach dem legendären Wembley-Finale endete seine Länderspielkarriere mit nur fünf Spielen jäh. Kritiker sahen sich nach seiner schwachen Leistung im Finale, wo er quasi unsichtbar blieb, bestätigt. Lothar Emmerich, der Mann mit der linken Klebe, war sicher kein Weltklassefußballer, aber doch ein Großer, der den seltenen Moment nutzte, den angeblich jeder im Leben hat, um berühmt zu werden.

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Zusammen mit Gerd Müller Torschützenkönig 1967

1967 verteidigte er seinen Titel sogar, aber auch Gerd Müller schoss 28 Tore, so dass es erstmals zwei Torjägerkanonen gab. Auch nach seiner Bundesligazeit schoss er noch ein paar Dutzend Tore: 1970 wurde er mit Beerschot belgischer Torschützenkönig, und 1977 gelang ihm das Kunststück gar als 35-Jähriger in der zweiten Liga mit Würzburg 04.

Als ihn ein Reporter fragte, warum er denn immer noch spiele, antwortete Emmerich: "Ohne Fußball fehlt mir was." Heute fehlt er all denen, die ihn kennengelernt haben. Insbesondere dem BVB, dessen Fanbeauftragter er von 1998 bis zu seinem frühen Tod durch Krebs war.

Lothar Emmerichs Bundesligabilanz: 183 Spiele (115 Tore), Torschützenkönig 1965/1966 und 1966/1967 (gemeinsam mit Gerd Müller)