Auf den Spuren von Julius Hirsch

DAS DEUTSCHE KONZENTRATIONS- UND VERNICHTUNGSLAGER AUSCHWITZ | 87 der zweiten Jahreshälfte 1942 (parallel waren alle drei Mordzentren der sogenannten „Aktion Rein- hardt“ errichtet worden, in denen bis zum Jahresende bereits weit über eine Million überwiegend polnische Jüdinnen und Juden ermordet wurden), dass die SS auch in den neuen Gaskammern in Birkenau schnell an Kapazitätsgrenzen stieß. Unter Einbeziehung von Krematoriumsexperten der Erfurter Firma Topf & Söhne entstanden schließlich im Frühjahr und Frühsommer 1943 die Mordstätten in Auschwitz-Birkenau, die heute als zentrale Elemente der Lagertopographie erscheinen. In zwei jeweils baugleichen Paaren wurden am Ende des Lagerge- ländes vier große Gebäude errichtet, die Gaskammer und Krematorium kombinierten und die Mordrate in Birkenau drastisch erhöhten. Das erste dieser „Krema- torium II – V“ genannten Gebäude (in der Zählung der SS war Krematorium I im Stammlager) wurde Ende März 1943 in Betrieb genommen, das letzte wenige Monate später im Juni. Dies bedeutet für den Trans- port aus Karlsruhe, dass wir mit den beiden provisori- schen Gaskammergebäuden am Rand des Lagers die zwei potenziellen Todesorte von Julius Hirsch relativ genau benennen können. Nur einen Tag später wur- den die fünf Öfen des Krematoriums II in Birkenau erstmals in Betrieb genommen und von einer Kom- mission geprüft, zu der neben NS-Funktionären aus Berlin auch Ingenieure aus Erfurt gehörten. 21 Bis Ende 1943 waren auch die unterschiedlichen Unterlager imAbschnitt BII fertiggestellt und die Zahl der eingesperrten Menschen in Birkenau, das paral- lel zu den Mordaktionen in der „Todeszone“ immer noch als „reguläres“ Konzentrationslager fungierte, erreichte mit weit über 60.000 einen neuen Höchst- stand. Durch diese doppelte Funktion spricht man heute von Auschwitz-Birkenau als „Konzentrations- und Vernichtungslager“. Eine letzte Baumaßnahme in Birkenau führte schließ- lich zur heute sichtbaren Ausbaustufe der Mordan- lagen. In der Vorbereitung der Deportation von Jüdinnen und Juden aus Ungarn, die aus politischen Gründen erst im Frühjahr 1944 realisiert werden konnte, ließ die SS eine weitere Gleisanlage in Birke- nau bauen, die nun direkt auf das Lagergelände führte und bis an die „Todeszone“ in Birkenau reichte. Erst ab Mai 1944 fuhren die Deportationstransporte auf die heute ebenfalls als Rampe bezeichnete Zone zum Aussteigen zwischen den Lagerbereichen BI und BII. In nur wenigen Monaten im Frühjahr und Frühsom- mer wurden mit 435.000 Menschen große Teile der ungarischen jüdischen Bevölkerung nach Birkenau verschleppt, die meisten von ihnen wurden direkt nach der Ankunft ermordet. Bis zu 10.0000 Men- schen wurden in dieser Massenmordaktion täglich ermordet. Um diese „Aufgabe“ erfüllen zu können, reaktivierte die SS den ehemaligen „Bunker II“ als zusätzliche Gaskammer. Als das systematische Mor- den in Birkenau im November 1944 endete, waren schätzungsweise 1,1 Mio. Jüdinnen und Juden getö- tet worden. Vermutlich 900.000 von ihnen starben, ebenso wie Julius Hirsch, unmittelbar nach ihrer Ankunft. Am 27. Januar 1945 wurde das Lager von der Roten Armee befreit. 1 Zur Geschichte der Stadt Oświęcim und den deutschen Plänen fürAuschwitz siehe: Sybille Steinbacher: „Musterstadt“Auschwitz – Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostober- schlesien, Berlin 2000. 2 Ebd., S. 172. 3 Sybille Steinbacher: Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte, München 2004, S. 21. 4 Zur jüdischen Gemeinde von Oświęcim siehe: Lucyna Filip: Juden in Oświęcim 1918 – 1941, Oświęcim 2005. 5 Nikolaus Wachsmann: KL. Die Geschichte der Nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2016, S. 36. 6 Wachsmann, KL, S. 121. 7 Steinbacher,Auschwitz, S. 24. 8 Eric Friedler/Barbara Siebert/Andreas Kilian: Zeugen aus derTodeszone. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz, München 2005, S. 14. 9 Laurence Rees: Auschwitz. Geschichte eines Verbrechens, Berlin 2007, S. 48. 10 In Majdanek plante man kurzzeitig sogar mit der Zahl 250.000.Vgl.: Wildt, Funktionswandel der nationalsozialistischen Lager, in: Mittelweg (36) 4/2011, S. 76-86. 11 Rees,Auschwitz, S. 66f. 12 Friedler et al., Zeugen aus derTodeszone, S. 15. 13 Steinbacher,Auschwitz, S. 49. 14 Umfassende Informationen zur Entstehung von Auschwitz-Monowitz finden sich auf der Homepage www.wollheim-memorial.de 15 Rees,Auschwitz, S. 68. 16 Eindrücklich beschreibt Hans Frankenthal seine Zeit in Monowitz, er kam gemeinsam mit Julius Hirsch nach Auschwitz: Hans Frankenthal: Verweigerte Rückkehr. Erfahrungen nach dem Judenmord, Berlin 2012. 17 ZurVorgeschichte der„T4-Aktion“: https://www.t4-denkmal.de/Die-Aktion-T4 ; zur Mordaktion im Rahmen der sogenannten „Aktion Reinhardt“: Stephan Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust: Belzec, Sobibór,Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017. 18 Rees,Auschwitz, S. 93. 19 Friedler et al., Zeugen aus derTodeszone, S. 56 ff. 20 Wachsmann, KL, S. 353ff. 21 Friedler et al., Zeugen aus derTodeszone, S. 120.

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