Auf den Spuren von Julius Hirsch

AUSCHWITZ ALS ORT DES HOLOCAUST Wie bisher deutlich geworden ist, hatte der Lager- komplex Auschwitz vielfältige Funktionen und unter- schiedliche Häftlingsgruppen. Dass Auschwitz heute vor allem mit der Ermordung der europäischen Jüdin- nen und Juden in Verbindung gebracht wird, hängt mit den Entscheidungen und Entwicklungen ab demFrüh- jahr 1942 zusammen, die die Darstellung der Lagerge- schichte in der deutschen Öffentlichkeit stark prägen. Nachdem die Deportationen von Jüdinnen und Juden in die von Deutschland besetzten Gebiete Mittel- und Osteuropas bereits im Herbst 1941 begonnen hatten, schritten die Pläne zur Ermordung von zunächst nicht „arbeitsfähig“ geltenden Jüdin- nen und Juden zum Jahreswechsel 1941/42 zügig voran. Mit der Erfahrung des Personals der „Euthana- sie“, der Ermordung vermeintlich „behinderter und kranker“ Menschen, wurden im Gebiet des General- gouvernements zwischen Winter 1941 und Sommer 1942 drei große Mordstätten errichtet: Belzec, Sobi- bor und Treblinka. 17 Auch in Auschwitz gab es bereits imHerbst 1941 Ver- suche zur massenweisen Tötung von Menschen durch Giftgas. Anfang September ermordete die SS im Kel- ler des Blocks 11 im Stammlager versuchsweise 600 sowjetische Kriegsgefangene und 250 kranke pol- nische Häftlinge. 18 Die SS bediente sich hierfür des Produkts „Zyklon B“, in Granulat gebundene Blau- säure, die bei bestimmten äußeren Bedingungen mit Sauerstoff reagiert und ein tödliches Gas freisetzt. Dieses chemische Produkt war in Auschwitz in gro- ßen Mengen vorhanden, da die SS es zur Desinfek- tion von Baracken einsetzte. Es dauerte jedoch wei- tere acht Monate, bis diese Tötung systematisch auf jüdische Gefangene und kurze Zeit später auf gerade angekommene Transporte von Jüdinnen und Juden angewandt wurde. Die ersten Mordaktionen fanden im Frühjahr 1942 weiterhin im Stammlager Auschwitz I statt. Eine umgebaute Leichenhalle, angrenzend an das alte Kre- matorium, wurde als erste Gaskammer in Auschwitz genutzt. Die Leichen wurden in den Öfen im Neben- raum verbrannt. Bis Juli 1942 wurden so vermutlich bereits 25.000 Menschen ermordet. 19 Die Entleerung der Gaskammern und die Verbrennung der Leichen übernahm bereits im Stammlager ein „Sonderkom- mando“ aus überwiegend jungen jüdischen Männern, die als Zeugen der Verbrechen abgesondert von den übrigen Häftlingen tagtäglich zu dieser grausamen Arbeit gezwungen wurden. Die im Stammlager begonnenen Mordaktionen wur- den bald aufgrund unterschiedlicher technischer und logistischer Probleme nach Birkenau ausgelagert. Außerhalb des entstehenden Lagers baute die SS ein altes Bauernhaus zu einer provisorischen Gaskammer um. Das „Rote Haus“ wurde auch „Bunker 1“ genannt. Die erste Ermordung durch Gas fand hier vermutlich im Mai 1942 statt. Dies war der Beginn des neuen Zentrums für den Massenmord in Auschwitz-Birke- nau. 20 Noch bevor die Massentransporte ab Juli 1942 in Auschwitz eintrafen, wurde ein Scheune in Birkenau („Weißes Haus“) zum„Bunker 2“, also zur zweiten provi- sorischen Gaskammer umgebaut. In eine dieser beiden ersten Mordstätten in Birkenau wurde vermutlich auch Julius Hirsch nach seiner Ankunft im Lager geführt. Vom Sommer 1942 an wurden die Massentransporte außerhalb des Lagers an der Alten Rampe ausgela- den und die Menschen, die nicht für die Sklavenar- beit im Lager ausgewählt wurden, unmittelbar nach ihrer Ankunft zu diesen beiden Häusern geführt und dort ermordet. So stiegen die Todeszahlen in Birke- nau rasch an. Die provisorischen Anlagen verfügten über keine integrierten Krematorien und die Leichen der Opfer wurden zunächst in großen Massengräbern vergraben. Später wurden sie auf Freiflächen hinter den beiden Häusern an offenen Gruben verbrannt. Der beginnende Massenmord war somit relativ früh kaum zu verbergen; weder vor den Häftlingen in Bir- kenau noch vor den nicht direkt beteiligen SS-Leu- ten oder den hin und wieder im „Interessengebiet“ tätigen deutschen Zivilist*innen. Es zeugt von der Radikalisierung des deutschen Mordprogramms in

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