Auf den Spuren von Julius Hirsch
die Lager selbst war jeweils zusätzlich ein etwa drei Meter hoher Zaun errichtet worden. Innerhalb der Lager ging der Auf- und Ausbau weiter. In Birkenau wurden 1943 im Abschnitt BII weitere „Lagerabschnitte“ errichtet, die jeweils 10.000 Men- schen und mehr fassen sollten. Als der Transport mit Julius Hirsch in der Nacht zum 4. März 1943 das Lager erreichte, war lediglich der Abschnitt BIIe fertigge- stellt, in dem unter der Bezeichnung „Zigeunerlager“ bis Anfang August 1944 über 22.000 Roma und Sinti (Männer, Frauen, Kinder gemeinsam) zusammenge pfercht waren; tausende von ihnen wurden in Birke- nau ermordet. Ansonsten glich das Lager Birkenau im Frühjahr 1943 einer großen Baustelle. Von den Aus- maßen, in denen wir das Gelände der Gedenkstätte heute wahrnehmen, war das Lager noch weit entfernt. Das heute so symbolträchtige Eingangstor war nicht fertiggestellt. Die weiteren Lagerabschnitte in BII, also das „Quarantäne-Lager“, das neue Männerlager oder das „Theresienstädter Familienlager“ wurden erst im Laufe des Jahres fertiggestellt. Die später für noch- mal jeweils 60.000 Gefangene geplanten Abschnitte BIII (im Sommer 1944 im Bau) und BIV (nie begonnen) waren noch überhaupt nicht sichtbar. Die Deportationszüge hielten an der sogenannten Alten Rampe, einem Bahngleis, das sich zwischen Birkenau und dem Stammlager befand. Dort fanden die „Selektionen“ unter den jüdischen Neuangekommenen statt, „die regelmäßige Ausmusterung der Häft- linge nach Kriterien ökonomischer Ver- wertbarkeit“. 13 Ab Sommer 1942 wurden die Menschen, die aufgrund ihres Alters oder ihrer körperlichen Verfassung nicht für die Arbeit geeignet schienen, direkt nach ihrer Ankunft im Lager ermordet. Dies traf wahrscheinlich auch auf Julius Hirsch zu, als er aus dem Zug geholt wurde. Hans Frankenthal aus Dortmund erlebte diesen Moment mit seinem Bruder Ernst: „Krachend flogen die Waggontüren auf, lautes Gebrüll und Schreie schlugen über uns zusammen: ,Ihr Saujuden! Ihr Schweine! Raus aus dem Waggon!‘ SS-Männer trie- ben uns aus dem Zug. Außer den Toten und den- jenigen, die sich nicht mehr bewegen konnten und reglos in den Waggons liegenblieben, sprangen und fielen die Menschen auf die hell erleuchtete Rampe. Über tausend Menschen drängten sich zusammen, versuchten gehetzt, sich vor den Knüppeln der prü- gelnden SS-Männer zu schützen. Befehle wurden geschrien: „Männer rechts raus! Frauen ohne Kinder links raus! Frauen mit Kindern auch links raus, aber gesondert!“ Ernst und ich klammerten uns anein- ander, versuchten zusammenzubleiben und liefen schnell, um uns vor den niederprasselnden Schlägen zu schützen. Als wir irgendwo, von der Menge ein- gekeilt, zum Stehen kamen, hatten wir unsere Eltern verloren – es gab keinen Abschied. SS-Männer son- derten die Angekommenen nochmals aus: Männer, die schon älter waren, schwächlich oder ungesund aussahen, wurden zu der Gruppe der Frauen und Kin- der geschickt.“ Nur die „Arbeitsfähigkeit“ rettete die nach Auschwitz verschleppten Jüdinnen und Juden vor ihrer soforti- gen Ermordung. Während Frauen zu dieser Zeit größ- tenteils in das Frauenlager Birkenau kamen, wurden die Männer im Frühjahr 1943 fast ausschließlich von der Rampe nicht ins Lager Birkenau gebracht, sondern in das außerhalb des „Interessengebiets“ errichtete Gedenken an Julius Hirsch an der „Alten Rampe“, März 2018.
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