Auf den Spuren von Julius Hirsch

DAS DEUTSCHE KONZENTRATIONS- UND VERNICHTUNGSLAGER AUSCHWITZ | 79 AUSCHWITZ ALS LAGERKOMPLEX Auschwitz ist vielen Menschen ein Begriff. Eine Vorstellung von der Komplexität dieses histori- schen Ortes zu bekommen, ist jedoch nur durch die Auseinandersetzung mit seiner Entwicklungs- geschichte vom Konzentrationslager Auschwitz zu einem riesigen Lagerkomplex möglich. Der Transport, mit dem Julius Hirsch und die anderen Deportierten nach Auschwitz verschleppt wur- den, erreichte in der Nacht zum 4. März 1943 die sogenannte Rampe. Dies war ein zwischen die Lager Auschwitz Stammlager und Auschwitz- Birkenau führendes Nebengleis. Der aus Chemnitz stammende Justin Sonder erinnerte sich nach dem Krieg: „Der schwere Außenriegel wurde plötzlich zurückgeschlagen, die Waggontür aufgeschoben. Da bot sich uns das gespenstische Bild einer großen, freien, verschneiten Fläche. [...] Die Nacht, der weit ausgebreitete Schnee, ein paar Laternen an hohen Masten, ein paar grelle Scheinwerfer, die auf den Zug gerichtet waren. Auf den zweiten Blick bemerkte ich geschäftig hin und her laufende SS-Leute in ihren feldgrauen Uniformen mit den schwarzen Kragen- spiegeln und mit geschulterten Gewehren. Einige hielten große Schäferhunde an der Leine. Deren Bellen machte Angst.“ Zu dieser Zeit existierte das Lager Auschwitz bereits knapp 33 Monate. Seine Gestalt und seine Funk- tion hatten sich mehrfach gravierend gewandelt, neue Lagerteile und zahlreiche Nebenlager waren hinzugefügt worden: Das Konzentrations- und Ver- nichtungslager Birkenau (ab März 1942) sowie das Konzentrationslager Monowitz an der Baustelle der IG (Interessensgemeinschaft) Farben aus Frankfurt am Main (ab Oktober 1942) waren in der Nähe des ursprünglichen Konzentrationslagers Auschwitz eröffnet worden und befanden sich im März 1943 stellenweise noch im Bau. Dieser ständige Wandel und die Weiterentwicklung des Lagerkomplexes soll- ten weitere 22 Monate andauern. Die Zwangsarbeit der Gefangenen spielte eine ent- scheidende Rolle für die ständigen Veränderungen des Lagerkomplexes von Auschwitz: Sie mussten neben der schweren Arbeit beim Straßen- oder beim Lagerausbau in der Region in unterschiedlichen SS-Betrieben arbeiten. Neben Kies- und Steinwer- ken waren dies eine Reihe von landwirtschaftlichen Versuchs- und Zuchtstationen, an deren Standorten unterschiedliche Nebenlager entstanden. Doch nicht nur die SS profitierte von der Arbeitskraft der Gefang- enen: Im Jahr 1944 arbeiteten von 105.000 Häftlin- gen im gesamten Lagerkomplex von Auschwitz rund 37.000 für externe Unternehmen, welche damit mas- siv zur Entwicklung von Auschwitz beigetragen hat- ten. Mit dem Ausbau der Wirtschaftstätigkeit der SS und der Ausbeutung von Gefangenen durch die deut- sche Industrie stieg die Zahl der Nebenlager von Auschwitz auf 28. Zusammen mit weiteren Unterla- gern waren insgesamt 40 Lager Teil des Lagerkom- plexes Auschwitz, wobei das Stammlager (später Auschwitz I), Auschwitz-Birkenau (später Auschwitz II) und Auschwitz-Monowitz (später Auschwitz III) die zentralen Teile darstellten und im Folgenden genauer betrachtet werden. Entgegen landläufiger Vorstellungen stand auch die Bedeutung von Auschwitz als Ort des Holocaust nicht von vornherein fest: Zwischen dem Eintreffen des ersten Transports von polnischen politischen Häftlingen aus demGefängnis von Tarnów am14.Juni 1940 und der Befreiung durch Einheiten der Roten Armee am 27. Januar 1945 lagen viereinhalb Jahre, die wir heute als Lagergeschichte mit bekanntem Ausgang wahrnehmen. Die Geschichte von Ausch- witz als Konzentrations- und Vernichtungslager muss also als Prozess beschrieben werden, der sich über die Jahre radikalisierte. An dessen Anfang gab es keinerlei Pläne dafür, dass Auschwitz mit vermutlich 1,1 Millionen ermordeten Menschen das größte der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager werden sollte.

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