Auf den Spuren von Julius Hirsch

DEPORTATION NACH AUSCHWITZ | DRESDEN | 73 VICTOR KLEMPERER (1881-1960) Victor Klemperer war Romanist in Dresden. Er war bereits 1912 vom Judentum zum Protestantismus konvertiert, galt den Nationalsozia- listen aufgrund der Rassegesetze immer noch als Jude und wurde ab 1940 in verschiedene „Judenhäuser“ zwangseingewiesen. Er wurde nicht deportiert und floh während der alliierten Bombenangriffe im Februar 1945 aus Dresden. Seine Tagebücher von 1933 bis 1945 zählen zu den wichtigsten Zeugnissen über die politische und gesellschaftliche Entwicklung im nationalsozialistischen Deutschland. Sie tragen den Titel „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“. Seine Aufzeichnung zeigen, dass die Sammeldeportation vom März 1943 auch für die Dresdener Jüdin- nen und Juden ein einschneidendes Ereignis war. 2. März, Dienstag nachmittag [...] Morgen früh geht der Transport hinaus, das Judenlager nebst hinzugekommenen Auswärtigen aus Halle und Erfurt. Es ist nicht anzunehmen, daß wir einen der Massen wiedersehen. Was zurückbleibt, sind nur die durch Mischehe Geschützten. Auf wie lange Geschützten? Odysseus beim Polyphem: „Dich fress’ ich zuletzt.“ Nur, daß keiner von uns den Odysseus spielen kann. Die Hilfe muß von außen kommen. Man klammert sich an jede Hoffnung. [...] Über all die gleiche Stimmung: verzweifelte Bitterkeit, Angst um das eigene Leben, flackernde Hoffnung und – vor allem – ‚ich lebe noch, ich lebe noch, ich lebe noch!’ (in der wechselnden Betonung). 4. März, Donnerstag abend Bedürfnis, Leute zu sprechen über die verzweifelte Situation. Gestern auf dem Friedhof. Die drei: Magnus, Steinitz, Schein bei ihrem üblichen tragikomischen Skat hinter den Gräbern in der Gärtnerbaracke. Sehr bedrückend; sie nehmen die bevorstehende Trennung der Mischehen an. D.h. Alternative: Die Frau läßt sich scheiden oder wird zur Jüdin erklärt und gleichfalls evakuiert. Alle drei stehen auf dem Standpunkt, den auch wir einnehmen. Die Frauen bleiben hier und retten was zu retten ist. (Neues Argument hierfür: Getrennt würde man draußen doch.) – Daß die vorgestern Nacht Evakuierten heute noch am Leben seien, wurde bezweifelt; wahrscheinlicher, daß sie in ihrem Viehwagen – zwei Notdurfteimer in jedem Waggon – vergast worden seien. – Ich erkundige mich nach Jacobi. Er litt schon lange an Mittelohreiterung, in hiesigen Krankenhäusern war kein Platz für einen Juden, er sollte dieser Tage nach Ber- lin fahren und dort im jüdischen Krankenhaus operiert werden. [...] Ihn und Kahlenberg (nebst Mutter) hat man als einzige Nicht-Mischehe-Geschützten hiergelassen. Genaue Ziffern: Evakuiert wurden 290 Juden, hier in Dresden befinden sich im ganzen nur noch reichliche 300, von denen 130 Sternträger sind.“ AUSZUG AUS DEM TAGEBUCH VON VICTOR KLEMPERER.

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