Auf den Spuren von Julius Hirsch

WEGE KREUZEN SICH IN HANNOVER | 71 wiederum Felix Linnemann, der nun als „Fachamts- leiter Fußball“ im DRL fungierte und somit weiterhin höchster deutscher Fußballfunktionär blieb. Parallel machte der Sportfunktionär weiterhin Karriere bei der Kriminalpolizei. Als SS-Obersturmbannführer wurde er 1939 Leiter der Kriminalpolizeileitstelle Hannover und zum Regierungs- und Kriminaldirektor befördert. In dieser Funktion war er gemeinsam mit seinem Stellvertreter Karl Dräger für die Deportation der im Regierungsbezirk Hannover lebenden Roma und Sinti nach Auschwitz-Birkenau verantwortlich. Die Deportationen waren reichsweit von Heinrich Himmler mit dem sogenannten „Auschwitz-Erlass“ im Dezember 1942 angeordnet worden. 2 Zuständig waren hierfür nicht wie bei den Deportationen der Jüdinnen und Juden die Leitstellen der Gestapo, sondern die Kriminalpolizei. 3 Die Verschleppung der deutschen Sinti und Roma begann fast parallel mit der „Fabrik-Aktion“. Das sogenannte „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau (B II e) wurde mit dem ersten eintreffenden Transport am 26. Februar 1943 eröffnet. Für die Deportationen aus Norddeutschland ist die Quellenlage äußerst dünn. Es gilt jedoch als sehr wahrscheinlich, dass der erste Transport von Sinti und Roma aus Hannover (und angrenzenden Regierungs- bezirken) wie der Sammeltransport der Jüdinnen und Juden am 2. März 1943 aus Hannover abging. 4 Aus anderen Orten, wie beispielsweise München, ist die Praxis belegt, dass ein Transport mit Roma und Sinti mit einer Deportation von Jüdinnen und Juden zusammengekoppelt wurde. In den fortgeschritte- nen Kriegszeiten im Frühjahr 1943 waren Züge der Reichsbahn keineswegs einfach verfügbar. Davon zeugt der Pragmatismus, dass die Münchener Depor- tation auf einer Teilstrecke sogar mit einem Transport von Wehrmachtsangehörigen auf dem Weg zur Ost- front zusammengelegt wurde. 5 Da die Deportation der Hannoveraner Sinti und Roma ebenfalls über den abseits gelegenen Bahnhof Fischerhof erfolgte, ist auch hier ein Szenario plausi- bel, in dem die zwei bis drei zusätzlichen Waggons auf dem Weg nach Auschwitz an den Sammeltrans- port mit Julius Hirsch gekoppelt wurden. Die Sintezza Waltraud Franz war unter den Deportierten Sinti in Hannover und überlebte die Lagerzeit in Auschwitz. Sie berichtete wie auch einige der jüdischen Über- lebenden, dass der Zug knapp zwei Tage unterwegs war und spätabends das Lager Auschwitz-Birkenau erreichte. 6 Es ist nicht geklärt, ob Felix Linnemann oder sein Stellvertreter Dräger am Tag des Transports persön- lich am Bahnhof Fischerhof anwesend waren. Da es sich bei der Deportation der Sinti und Roma keines- wegs um einen alltäglichen Vorgang handelte, ist dies nicht unwahrscheinlich.Wahrscheinlich wird Lin- nemann jedoch keine Kenntnis davon gehabt haben, dass sich zur selben Zeit der frühere Nationalspieler Julius Hirsch im Zug Richtung Auschwitz befand. Sicher ist: Die von Linnemann verantwortete Ver- schleppung der Hannoveraner Sinti und Roma fand räumlich und zeitlich parallel mit der Durchfahrt der Sammeldeportation von Julius Hirsch und den ande- ren Jüdinnen und Juden durch Hannover statt. Die Wege dieser beiden höchst unterschiedlichen Reprä- sentanten des deutschen Fußballs kreuzten sich somit vermutlich in Hannover-Linden: Als Profiteur und Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsstaats. 1 Hubert Dwertmann: DFB-Präsident Felix Linnemann: Beteiligter am Völkermord, in: Diethelm Blecking/Lorenz Peiffer, Sportler im „Jahrhundert der Lager“ : Profiteure, Widerständler und Opfer, Hildesheim 2012, S. 35-43. 2 Zur nationalsozialistischen Politik gegenüber Sinti und Roma u.a.: Michael Zimmermann: Ras- senutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996. 3 Trotzdem erfolgte in solchen Fällen üblicherweise eine Absprache zwischen Kripo, Gestapo und anderen Akteuren wie etwa der Reichsbahn. 4 Vgl. Hans-Dieter Schmid: Die Verfolgung der Sinti und Roma durch die Kriminapolizei Hannover, Hannover 2016.Von den deportierten Sinti und Roma aus Hannover finden sich im Eingangsbuch des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz Namen mit den sehr niedrigen Eingangs- nummern, die relativ sicher noch vor dem 6. März 1943 vergeben wurden.Vgl. Hauptbuch des Zigeunerlagers (Frauen),Archiv des staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau. 5 DerTransport ging am 13. März 1943 von München nach Auschwitz-Birkenau. Siehe dazu: Maximilian Strnad: Zwischenstation „Judensiedlung“.Verfolgung und Deportation jüdischer Münchener 1941 – 1945, München 2011, S. 141f. 6 Vgl.: Aus Niedersachsen nach Auschwitz: Die Verfolgung der Sinti und Roma in der NS-Zeit. Katalog zurAusstellung des Niedersächsischen Verbandes Deutscher Sinti. Bielefeld 2004, S. 61.

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